21.9.21

Herbstanfang. Die Nektarinen sind verspeist. Im Müsli schmeckten sie herrlich nach Frucht, Regen und Sommer. Dazu jeden Morgen ein Yoghurt mit dem wunderlichen Namen „Athentikos“. Er hieß kürzlich noch „Akropolis“, aber offenbar war das nicht erlaubt oder heute kennt niemand mehr die Akropolis. Genau genommen beginnt der Herbst 2021 aber erst am 22.9.21 um 21:21 Uhr. Die roten Bohnen sind reif. Sie haben sich über die Himbeeren geklettert und gelegt und werden von mir bald geerntet. Und jeden Tag grüne Bohnen. Die Rauke im Topf blüht und wird von mir nicht mehr gerupft. Ich werde sehen, ob sie den Winter übersteht. Der Sommer streift sich langsam im Garten ab. Mein Sommertagebuch, mein Versuch, eine Zeit literarisch zu begleiten, endet hier. In der Schule werden die Masken überall, aber nicht mehr am Platz getragen. Welchen Sinn das hat, wenn alle dicht an dicht sitzen, vermag ich nicht zu sagen. Aber vielleicht werden wir uns jetzt doch langsam daran gewöhnen, dass es eine Krankheit namens Covid gibt. An andere Dinge sollten wir uns nicht gewöhnen: Dummheit, Umweltzerstörung, Niedertracht, Missgunst, Gewalt, Überheblichkeit und Gemeinheit.

Was mache ich jetzt?

Ich denke mir was Neues aus.

20.9.21

Ich habe jetzt einige Arztbesuche gemacht. Ärzte sind schon komische Leute. Sie sehen dich fünf Minuten, stellen eine Diagnose und beraten dich. Dann stellen sie eine Überweisung zu einem anderen Facharzt aus und ich ziehe weiter. Ich habe keine schlimmen Sachen, eher so ganz gewöhnlich Zivilisationskrankheiten: Asthma, eingeschlafene Arme, Schwindel. Heute hat es ein Neurologe auf den Punkt gebracht: Ich solle mir keine Gedanken machen, mit mir sei alles in Ordnung, mein Körper würde sich nur langsam verändern und das sei ganz normal in unserem Alter. Bang. Tatsächlich wird er ähnlich alt gewesen sein. Dann sprach er in einer wahnsinnigen Geschwindigkeit in sein Diktiergerät in einer Sprache, die ich nicht verstand, sich aber auf meinen Körper bezog. Eine eigene Welt.

19.9.21

Wir führen lange Gespräch mit dem Vater über die Mutter. Das ist eine ganz neue Erfahrung. Er spricht darüber, über was sie gestritten haben. Welche Missverständnisse nicht ausgeräumt werden konnten. Welche Wunden geschlagen wurden. Das tut mir leid und ich frage, wie das passieren konnte, wenn man so viel Zeit miteinander verbringt und doch über alles sprechen wollte. Es passiert wohl. Die Frage schmerzt mich selbst.

18.9.21

Wir verbringen einen milden Spätsommertag im Taunus. Die Sonne steht schief und die Schatten sind lang. Es ist angenehm warm. Die Glocken läuten in Lindschied jeden Abend um sechs. Das ist irgendwie feierlich, aber auch ganz normal. Eine sehr schöne Kombination.

Das Gras unten auf der Schafsweide ist im oberen Bereich hellbeige und unten grün. Das sieht aus wie ein weiches Federkleid auf dem Hang, den ich hinunterschaue. Die Krähen bellen.

17.9.21

Ein Auftritt unserer Playbackgruppe gelingt. Wir sind gut miteinander verbunden.

16.9.21

Jeden Tag plumpsen drei Nektarinen auf den Boden. Ich sammle sie ein. Sie nehmen dadurch kaum Schaden. Mittlerweile hängen nur noch vier oder fünf an dem schmalen Baum, der sich von der starken Last, die er dieses Jahr trug, erstmal erholen muss. Es gibt bei uns jeden Tag frische Nektarinen. Der November muss vorbereitet werden.

Als ich ein Kind war, freute ich mich jedes Jahr auf den November, vermutlich weil ich im November Geburtstag habe. Ich freute mich auf den morgendlichen Nebel, den ich durchlaufen musste, um zur Bushaltestelle zu kommen. Ich freute mich auf den Raureif auf den Wiesen, wenn ich morgens aus dem Fenster schaute. Ich freute mich an der Kühle, die den Herbst ablöste.

Die vielen Halsentzündungen, die ich später im Leben hatte, verleideten mir den November etwas, obwohl ich Geburtstag habe und gerne feiere. Die Halsentzündungen haben sich mittlerweile offenbar einen anderen Wirt gesucht, mich jedenfalls plagen sie nicht mehr oft. Auch das mag ich am November, dass er immer wieder so anders ist.

15.9.21

Das leise und gleichmäßige Schaukeln des Schlüsselbundes an einem auberginenfarbenen Lederband, das von mir an den Haken in der Tür gehängt wurde, beruhigt mich. Ganz leise macht es beim Hin- und Her-Schwenken an der Tür „ratsch, ratsch, ratsch“, dann wieder von vorne. So lange, bis ich fertig bin. Erstaunlich, wie Raum und Zeit zusammenhängen.

14.9.21

Jetzt wiederum habe ich darüber nachgedacht, was wichtig ist. Was wichtig war. Mein Forschungsprojekt hat viele Menschen beschäftigt. Ich habe es zu verschiedenen Gelegenheiten vorgetragen. Einige haben mir geholfen, ohne etwas dafür zu erhalten. Lehrerinnen, Studentinnen, auch Professoren. Ich glaube, eine Zeitlang war ich sehr stolz darauf. Jetzt nicht mehr so sehr. Aufwand und Ertrag stand in keinem guten Verhältnis. Ich habe aber auch kurz nach Abschluss aufgehört, für eine Arbeit zu werben, die mich nicht glücklich gemacht hatte. In kleinen Tropfen verändere ich mich.

13.9.21

Heute ist der Dreizehnte, aber ich denke an den 11.9.2001. Ich arbeitete als wissenschaftliche Assistentin an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg und verfolgte ein Forschungsprojekt zum Deutschunterricht in der Hauptschule. Ich hatte Videoaufnahmen gemacht, die ich an einem normalen Videorekorder zuhause im Wohnzimmer in der Wolfsgangstraße in Frankfurt transkribierte. Wir lebten in einer schönen, etwas herunter gekommenen Altbauwohnung mit Frankfurter Bad. Die Türen aus Holz mit Glas, hohe Decken und ein Eichenparkett, das Geschichten erzählte. Es knarrte bei jedem Schritt. Aber sehr schön. In einem der vorderen Zimmer war unser Wohnzimmer. Es muss der Salon der Wohnung ursprünglich gewesen sein, denn die verzierte Flügeltür ging zum Esszimmer hin. Sie stand bei uns immer auf, da beide Zimmer nicht sehr groß waren. Mein Schreibtisch stand quer zum Fenster, etwas seitlich des Fensters, hinter mir hatte Mathias seinen Schreibtisch, der stand allerdings meist leer, weil er jeden Tag ins Büro ging. Ich nur zwei Tage die Woche, weil ich eine Forschungsstelle mit reduzierter Lehre hatte. Ich war gerade dabei, die beobachtete Unterrichtsstunde abzuspielen und Minute für Minute abzutippen. Die Sonne schien. Finn war im Kindergarten. An den Tagen, an denen ich zuhause arbeitete, brachte ich ihn morgens zum Palmengarten, da lag der Kindergarten. Am Nachmittag würden wir in den Palmengarten gehen und er würde spielen und mit der Bahn fahren.

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                │L [                   mhm            eis und dann     gut 1
                │14[ eis und kühlbeutel
                │S1[                      eis und kalt            kälte

1              └‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑

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                │L [ hast du kälte oder kalt geschrieben    dann schreib
                │S1[                                    kalt
 2 └‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑

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                │L [ st du noch kälte dran denken kälte wird großgeschriebe
3 └‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑

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                │L [ n 20                mhm
                │20[      eis und winter
                │21[                            ich hab jetzt matsch und nass
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                │L [       mhm           kalt und weich /ähm/ sind das .. 6
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5 └‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑

Manchmal musste ich mir das Video anschauen, um zu verstehen, was gerade gesagt wurde, um es beschreiben zu können: „Lena hebt die Hand“ – das hörte man ja nicht. Ich spielte also das Video vor und zurück, tippte und verzweifelte an den parallelen Ereignissen, die man zwar wahrnimmt, wenn man Unterricht beobachtet, aber nur schwer zu Papier bringen kann. Ich lief zwischen Schreibtisch und Videorekorder immer hin und her. Wenn ich den Videorekorder anhielt, dann erschien das erste Programm, ARD, und lief vor sich hin. Ich weiß nicht mehr, warum das so war. Es war einfach so. Entweder ich sah die Unterrichtsstunde zu einem Gedicht oder das, was gerade im Ersten im Fernsehen lief. Vielleicht war es auch nicht das Erste, sondern irgendein privater Kanal. Gewöhnlicherweise beachtete ich die Einspielungen des Fernsehens nicht, weil ich tippte und nachdachte, wenn ich gerade nicht das Video zurückspielte. Es war ein Videoband, es dauerte immer etwas, bis ich wieder an der richtigen Stelle war. Ich hörte mit einem Ohr, dass ein Flugzeug in den Nordturm geflogen war und unterbrach meine Arbeit. Ich kniete für Stunden auf dem Parkett und blickte in den riesigen Fernsehapparat, den wir damals hatten. Als das zweite Flugzeug in den Südturm stürzte, rief ich Mathias an. Ich weiß nicht mehr, was er sagte.

Ich schaute stundenlang Fernsehen. Irgendwann nach Mittag holte ich Finn vom Kindergarten ab. Sein Kindergarten lag in der Straße, in der die amerikanische Botschaft war. Die Straße war abgesperrt. Monatelang noch.

Mich hat dieser Anschlag sehr bewegt. Ich weine noch heute, wenn ich etwas darüber lese. Ich muss mitunter auch weinen, wenn ich von anderen Katastrophen höre, es ist nichts Singuläres. Doch, es ist etwas Singuläres. So wie Tschernobyl.

Ich habe das Forschungsprojekt abgeschlossen. Es war nicht wichtig.

12.9.21

Die Inzidenzen steigen. Heute ist Sonntag, Ruhe auf der Baustelle, aber Hubschrauber am Himmel. Demonstrationen? Gegen die Maske, gegen die Maßnahmen. Nicht die Maßnahmen sind gefährlich. Die Ungleichverteilung von Arm und Reich ist gefährlich. Demonstriert dafür, bezahlbare Wohnungen, ein gutes Gesundheits- und Bildungssystem zu bekommen. Demonstriert dafür, dass die Luft sauber wird, die Flüsse wieder frei von Mikroplastik und die Plätze in der Stadt wieder bespielbar sind. Im Moment stehen überall Autos. Es gibt so viele Dinge, die gesellschaftlich inakzeptabel sind. Warum die Maske und das Impfen so viel politisches Engagement auslöst, kann ich nicht verstehen. Aber wahrscheinlich ist der Kampf gegen die Coronamaßnahmen ein Erweckungserlebnis für viele bisher eher unpolitische Menschen.

Was ist heute daran literarisch? Nichts. Es kommt mir nur in den Sinn, das wäre dann der Stoff des Literarischen: wie sehr ein Virus die Menschen politisiert.

11.9.21

Wir haben den Freitagabend im Gewitter in Derks und Alfreds Garten verbracht. Hanne Römer las uns aus ihren Gedichten vor, dazwischen kreuzende S-Bahnen. Es war warm und fühlte mich wie in meinem Roman, der im Regenwald spielt. Wir blieben bis elf und wankten dann glücklich an der Nidda entlang nach Hause. So ungefähr.

Am nächsten Tag ist der Körper pustelig. Grasmilben haben sich an uns satt gefressen. Muss eigentlich alles eine Rückseite haben?

10.9.21

Die Fenster im Haus nebenan werden eingebaut. Mit Rollladen mit drei ELL. In einem angenehmen dunkelgrau wie unsere Fenster an unserem Haus. Der Bauherr hat vielleicht Geschmack. Es sind raumhohe oder raumtiefe Fenster, die einen Ausblick in unseren Garten geben. Das finden die Bewohner der Erdgeschosswohnung mit Garten nicht so angenehm. Wir waren es gewohnt, in jedem Aufzug durch das Wohnzimmer stapfen zu können. Jetzt haben wir Zuschauer. Die Zuschauer werden sich daran gewöhnen, dass wir in jedem Aufzug durch das Wohnzimmer gehen. Wir sind einmal in den Rohbau hinein geschlichen und haben uns selbst aus der neuen Perspektive betrachtet. Die Leute werden einen schönen Blick haben.

7.9.21 bis 9.9.21

Wenn man nicht achtgibt.

Wenn man nicht achtgibt, liegen die Nektarinen zu lange im Gras.

Wenn man nicht achtgibt, macht man einen Kommafehler.

Wenn man nicht achtgibt, verpasst man einen Termin.

Wenn man nicht achtgibt, hat man sich verändert, ohne es zu merken.

Wenn man nicht achtgibt, ist man dicker geworden.

Wenn man nicht achtgibt, hat man tagelang niemanden geküsst.

Wenn man nicht achtgibt, hat man jemanden verraten.

Wenn man nicht achtgibt, sind die Tage vergangen, ohne dass man den Tag entdeckt hat.

6.9.21

Das Geräusch, wenn die Nektarinen reif auf den Rasen plumpsen, ist ein Spätsommerton. Es macht ganz zart und unaufdringlich „Plumps“. Nicht besonders tief, eher abgefedert und weich. Es tut nicht weh. Ich sammle sie ein. Die meisten Nektarinen sind in diesem Jahr rot. Wirklich rot. Allerdings sind sie trotzdem sauer. Es hat zu viel geregnet.

5.9.21

Viele Menschen erwarten zu viel vom Verstehen. Sie erwarten, dass man ihre Gefühle nachvollziehen kann, ihre Motive versteht und meist damit mitgemeint: dass man dann Rücksicht nähme. Die beste Art Rücksicht scheint die, es genau so zu machen, wie der andere es möchte. Dann kann man sich gewiss sein, dass man die Rückmeldung bekommt, man könne jemanden verstehen. Das ist aber ein kolossales Missverständnis. Ich kann jemanden verstehen, seine Motive nachvollziehen und sogar empathisch mitfühlen und zugleich das genaue Gegenteil von dem tun, was der andere von mir erwartet. Verständnis und Verstehen braucht nämlich mehrere Gänge. Es muss ein paar Mal hin und her gehen zwischen Menschen, bevor das Verstehen eines ist, das gemeinsam geteilt ist. Es ist nicht einfach da, sondern wird hergestellt. Meist mühsam. Diese Arbeit machen sich einige Menschen nicht. Dann sind sie enttäuscht.

4.9.21

Ich unterhalte mich mit Freunden. Auf meine Frage hin, woher diese vielen jungen Menschen auf der Zeil kommen, antworten sie: die Clubs haben ja zu. Das stimmt. Um eng an eng zu tanzen, kann man nicht in einen Club gehen. Man geht auf die Hauptwache. Ich bin nicht sicher, zu welchen Blüten uns die Pandemie noch führen wird. Aber wir werden sie pflücken.

Der Sommer begehrt noch einmal auf. Es ist sonnig, der Himmel ist blau. Der Rock ist kurz. Mein Liebster und ich essen Forelle blau in der Pfalz und treffen prompt Freunde dort. Am Abend sitzen wir gemeinsam am See. Die Stechmücken haben sich bereits vollgesogen und zur Herbstruhe zurückgezogen. Wir wandern durch den Wald, da die Sonne uns einheitzt. Dann den Rest des Sonntags im Garten. Ich denke an den kleinen Spatz, den wir gefüttert hatten. Hoffentlich geht es ihm gut. Ein Vogelleben ist kurz.

3.9.21

Ein Freitag. Ein Freitag hat die schöne Eigenschaft, der Beginn des Wochenendes zu sein. Der Freitagnachmittag ist die allerschönste Zeit in der Woche: Alles liegt vor mir: meine Zeit mit meinen Gedanken, das Zusammentreffen mit meinen Männern, das Croissant, die Zeitung. Jede einzelne Verrichtung wird zum Edelstein, den ich finde. Ich möchte ausrufen: Oh, wie schön, dass es dich gibt. Erstaunlich wie sehr der Moment an Bedeutung gewinnt, wenn die Routine aufhört.

2.9.21

Nachts auf der Zeil tummeln sich die jüngeren Menschen. Wo kommen alle diese Menschen her? Ich bin als Studentin oft nachts über die Zeil gelaufen oder geradelt. Es gab kein Getümmel. Sicher: es gab Bars vor denen standen ein paar Leute herum, rund um den Jazzkeller und das Jazzhaus gab es Trauben von Menschen, vor dem Sinkasten oder anderen Nachtclubs auch. Aber mitten auf der Zeil, vor de Hauptwache? Sind wir so viel mehr geworden in den letzten zwanzig Jahren? Offenbar. Wir kommen nur aus dem Kino und radeln vorbei.

1.9.21

Das Nektarinenbäumchen hängt prall und rot voll mit kleinen Nektarinen. Sie sind noch sauer. Ob sie bei dem vielen Regen noch süß werden? Bohnen ernte ich fast täglich. Pfefferminze, Brunnenkresse, Rauke freuen sich über die Feuchtigkeit. Der Rasen sowieso. Aber auch der Hibiskus und der Schmetterlingsstrauch blühen als wäre es das letzte Mal. Morgens barfuß durch den feuchten Garten zu laufen ist ein echter Aufheller in Tagen von Corona.

31.8.21

Ich bin auf der Suche nach einem Paradies. Einem Ort, an dem ich den Sonnenaufgang und -untergang beobachten kann. Es muss ein Ort sein, an dem die Mauersegler fiepen. Das gehört für mich unbedingt dazu. Beeren gibt es dort auch und Salat im Überfluss. Bohnen und Kartoffeln grüßen sich regelmäßig. Es dürfte nicht viel kälter als 20 Grad werden, aber auch nicht wärmer als 30 Grad. Ich möchte auf gar keinen Fall dort allein sein. Ich würde das Paradies teilen. Ich brauche es nicht für mich allein.

Vernunft kommt bei mir gleich nach Phantasie. Wer Phantasie hat, hat es nicht immer leicht. Ich muss mal eine Selbsthilfegruppe für phantasiebegabte Menschen gründen. Wer sich viel ausdenken kann, grübelt viel. Oder beamt sich weg, wenn gerade über etwas Wichtiges gesprochen wird. Das hat Vor- und Nachteile.

30.8.21

Jeden Morgen um fünf Uhr stehe ich auf und widme mich den Worten. Jeden Morgen, wenn ich sowieso mit den Vögeln aufstehen müsste.

Die Vögel sind ruhiger geworden. Morgens früh um sechs singen keine Amseln und Spatzen mehr und kocht nicht mehr die Hex‘. Sicheres Zeichen für den nahenden Herbst.

In diese Stille und Dunkelheit hinein, denke ich darüber nach, wie sich das trockene Laub im Taunus anhört, wenn man mit nackten Füßen darüber läuft. Wenn es vier Wochen nicht geregnet hat und es war heiß. Wie hört sich das an? Es knackt. Aber das ist nicht das richtige Verb. Es knistert in groben Zügen, manchmal knackt ein dünnes Ästchen. Das braune Laub knistert und zerbricht unter den Füßen, leise, undramatisch.

Wenn ich mir das vorgestellt habe, kann der Tag beginnen.

29.8.21

Es hat heute nicht den ganzen Tag geregnet!

28.8.21

Wir waren im Kino. Aline bestellte die Karten, wir trafen uns bei der Eintracht, aßen indisch scharf, ein Radler und setzten uns dann nach der Kontrolle des Impfnachweises ins Kino. Es ist das Wesen der gesellschaftlichen Unfreiheit, das man sie irgendwann nicht mehr spürt. 3G oder 2G – es ist die Ironie der Hilflosigkeit gegenüber einem Virus, dass die Maßnahmen Spielraum geben, indem sie stärker regeln. Ich meine, es macht einen Unterschied, ob man Impfpässe kontrolliert, damit alle, die das Kino besuchen, gesund bleiben oder Ausweise, die wenige draußen halten sollen. Nicht die Maßnahme der Kontrolle ist das Ziel, sondern die Möglichkeit des Kinobesuchs. Allerdings hat alles Nebenwirkungen. Welche, weiß ich noch nicht.

Kleines Kino, ruhiger Film: Der Herrenschneider aus Athen. Es wird nicht viel gesprochen, zwischendurch glücklicherweise doch.

27.8.21

Der Schwindel ist weg, aber der Kaffee ist alle. Das Leiden nimmt einfach kein Ende.

26.8.21

Der August regnet vor sich hin. Es wird so kalt, dass die Sandalen in den Schrank kommen. Der geöffnete Schrank spricht mit mir. Den bunten Schals stinkt die Enge, die beiden Kaschmirjacken stöhnen, weil ihnen die Motten zu schaffen machen. Die Hemden, bei Frauen sagt man „Blusen“, knöttern, sie haben zu wenig Platz. Ich leide mit ihnen. Der Versuch, etwas Luft zu schaffen, scheitert an der inneren Stimme: Das kannst du doch noch gebrauchen. Der Ertrag meiner Ausmistung ist gering und beschämt schließe ich die Schiebetür. Redet ihr nur. Man kann nicht immer alles ändern.

25.8.21

Der Blick auf die epidemische Lage zeigt: die Gefahr ist noch lange nicht vorbei. Sagt Marietta.

Ich höre mehrfach am Tag den Satz: „Wissen Sie, ich bin das schwächste Glied in der Kette“, „Da kann ich auch nichts dafür“, „Ich bin die falsche Ansprechperson“. Selten sagt jemand: „Da sind Sie bei mir bei der richtigen Adresse“, „Das habe ich zu verantworten“, „Das werde ich aber ändern“. Wir müssen jetzt alle Möbel zählen und eine Bestandsaufnahme machen. Gestern hatten wir die Klassenräume eingeräumt nachdem das Holzhaus umgebaut worden war, heute hatten die Handwerker alles wieder rausgeräumt, weil sie noch nicht fertig waren. Ich soll eine Begründung dazu schreiben, warum wir in der Schule neun Verwaltungszugangsplätze brauchen und nicht nur sieben. Ich muss eine Stellungnahme dazu schreiben, dass einem Kind, das bei uns abgelehnt wurde, niemals Hoffnungen gemacht wurde, dass es aufgenommen werde. Wir müssen Kartons kleinschneiden. Ich leere die Mülleimer, weil in den Sommerferien die Schulen nicht gereinigt werden. Immer sagt die andere Stimme am Telefon, wenn ich mich beschwere, sie sei nicht verantwortlich. Verantwortung scheint etwas ganz Schwieriges.

24.8.21

Während ich das schreibe, stehen tausende Menschen am Flughafen Kabul und haben Angst. Nicht nur am Flughafen, nicht nur in Kabul. Ein Militär echauffiert sich, dass man viel zu lange und komplizierte Antragsverfahren vorgesehen habe, dass die Menschen, die Schutz suchten und benötigen, dies gar nicht einhalten konnten. Mein Kopf explodiert. Wie kann das sein? Die Zeitgleichheit von tödlichem Elend und Lavendelstrauch im Garten macht mich wechselweise lahm oder hitzig. Beides führt nicht zu angemessenen Reaktionen. Was wäre die angemessene Reaktion? Ich kenne die Antwort. Sie ist nicht bequem. Sie ist nicht schmelchelhaft für mich. Ich kämpfe mit Worten. Zum Mitschreiben: Außer Corona gibt es Krebs, Krankheiten, um die sich niemand kümmert, Sterbende, Krieg, Unfalltote, rasende Arschlöcher auf Autobahnen, Ignoranten, die glauben, das Gymnasium sei eine gute Schulform, tote Bienen, Germanys next Top Modell (ich weiß nicht mal wie man das schreibt), Männer, die Frauen angrapschen, Grüne, die keine Idee haben, wie man Sozialpolitik macht, Arroganzlinge, die meinen, sie wären etwas Besseres. Habe ich etwas vergessen?

Sicher.

23.8.21

Endlich wieder viele Menschen sehen. Außerdem Lastwagenladungen Pakete entgegennehmen, Briefe vorbereiten, mich mit dem Team treffen und Zeitplanungen machen. Danach im Westend Klavierstunde: Bach und Nyman. Ich bin viel zu langsam!

22.8.21

Aufwachen ohne die neuesten Coronazahlen. Kaffee trinken. Ich spüre den Rücken, weil ich gestern Pilates gemacht habe. In einer Gruppe in der Turngemeinde. So was geht! Anschließend werden die Matten und die Rollen desinfiziert.

21.8.21

Ich bin erschrocken über das Bild in der Zeitung, auf dem ein Kosmetiksalon in Kabul abgebildet war. Alle gemalten Frauengesichter im Schaufenster waren mit schwarzer Farbe übersprüht. Es war nicht einfach übersprüht. Das wäre schlimm genug. Es war den Bildern in die Augen gesprüht worden, in die Augen und über den schönen Mund. So wie man einem Zeitungsbild die Augen aussticht.

Besteht noch Zweifel über die Gewalt, die eine bestimmte Auslegung des Islam der Hälfte der Menschheit antut?

Die Auslegung tut selbstverständlich niemandem etwas, die Menschen, die diese Auslegung teilen, tun den anderen etwas an. Die Menschen, die diese Art der unterschiedlichen Behandlungsweisen von Menschengruppen argumentieren, die also Unterschiede machen in der Frage, was manche Menschen tun dürfen und was nicht, fühlen sich über alle Zweifel erhaben.

Sich über alle Zweifel erhaben zu fühlen, ist schon der Kardinalfehler. Wenn es einen Allah, einen Jahwe, einen Gott gäbe, würde dieser den Zweifel als Ausweis des Glaubens auf die Habenseite schreiben. Alle anderen kommen ins Fegefeuer und müssen erstmal büßen.

Wer Frauenbildern mit schwarzer Farbe die Augen zusprüht, schreckt auch vor anderen Gewalttaten nicht zurück. Dafür wird man weder im Jenseits noch im Diesseits belohnt.

20.8.21

Ich frage mich, ob ich über die Beerdigung schreiben soll. Es ist sehr persönlich, ich will nicht zu persönlich schreiben. Ich möchte niemandem zunahe treten. Aber ohne nahezukommen, kann man nicht schreiben. Nicht wirklich gut schreiben. Ich kann nicht gerecht und ausgeglichen schreiben, wenn ich literarisch schreibe. Ich kann nicht darauf achten, dass ich niemanden verletze. Dann kann ich nicht schreiben. Ich kann auch nicht gendern, wenn ich literarisch schreibe. Ich will nicht schreiben, dass ich es nicht darf. Literarisch darf man fast alles. Aber wenn es darum geht, eine Wirklichkeit zu beschreiben, die eine sehr subjektive sein kann, eine sehr individuelle, dann kann man sich unter gar keinen Umständen die Worte von anderen einflüstern lassen, dann muss man darauf bestehen, dass man genau die Worte benutzt, die man benutzt. Das heißt nicht, dass man sich nicht irren kann. Ich irre mich durchaus und korrigiere dann im Nachhinein. Erst beim Lesen fällt es auf. Aber im Schreiben ist die einzige Haltestange die: so hat es der Erzähler erlebt.

Es gibt viele Romane, in deren Erzählungen Figuren vorkommen, in denen sich leibhaftige Menschen wieder erkannt haben. Leibhaftig – wahrhaftig. Ich habe es mitunter mit etwas altertümlichen Wörtern. Aber ich finde sie sehr ausdrucksstark. Menschen mit Leib, reale Personen fühlen sich durch die Darstellung in einer Erzählung schlecht dargestellt, falsch dargestellt, überhaupt dargestellt. Ich kann verstehen, dass man das nicht will. Aber ich komme nicht drumherum. Es gibt immer Menschen, die mich so inspirieren, dass sie vorkommen.

Eine Beerdigung ist eine traurige Angelegenheit. Alle, die gekommen sind, geben dem, der verstorben ist, soviel Raum und Zeit, dass alle möglichen Gedanken in diesen Raum und in dieser Zeit emporquellen, in den Kopf kommen, woauchimmerher.

Diese wunderschöne hohe und hallende Halle auf dem Hauptfriedhof, die Kuppel, unter der man sitzt, erhebt die Trauergesellschaft zu einer Gemeinde. Zu einer Gemeinschaft. Fast wollte ich rufen: „Ruth, schau, welch eine wunderbare Feier wir ausrichten für dich!“ Die Pfarrerin sprach über ihr Leben. Es waren angemessene Worte und wahrscheinlich hätte sie auch Gedichte aufsagen können, ich hätte gleichwohl an meine Schwiegermutter gedacht und in diese Kuppel geschaut und geweint. Als ich mit dem geöffneten Herzen dann nach außen auf diesen ebenso wunderschönen weiten Platz trat und über die Grünstreifen schaute, rechts das ehrwürdige, graue große Verwaltungshaus und auf der anderen Seite des Platzes die Bäume und Gräber, konnte ich nicht mehr traurig sein. Ich war traurig und nicht traurig zugleich. An der Steinmauer, in die die Urne gestellt wurde, sprach die Pfarrerin einen Segen, wir sprachen das Vaterunser. In einem ganz gottlosen Sinne bin ich religiös und fand es tröstlich, die umständlichen alten Gebetsworte zu sprechen und von einer Pfarrerin gesegnet zu werden.

Ich fühlte mich gesegnet.

Das wird helfen.

19.8.21

Manchmal vergehen die Tage gerade so, als wären sie das Zwischenstück für andere.

18.8.21

Ich kann wieder lustige Geschichten erzählen: vom Stadtschulamt, das uns Beamer bezahlt und liefern lässt, aber die Verbindungskabel bzw. drahtlosen Verbindungen zum Computer nicht bezahlt. Die Argumentation ist stichhaltig: Es handelt sich um einen mobilen Einrichtungsgegenstand bei Kabeln. Das bezahlt man nicht. Wir sollen unter den Tisch krabbeln, das Kabel vom Bildschirm klemmen und an den Beamer machen. Kann man schon machen, aber ob das in der jungen Generation beim Betrachten ihrer Lehrkräfte den Eindruck vermittelt, wir gestalten die Zukunft souverän und nachhaltig?

Vielleicht sollten wir das auch gar nicht mehr vermitteln, wir Erwachsenen. Wir tun es tatsächlich nicht: souverän und nachhaltig die Zukunft gestalten. Unter den Tisch krabbelnde Lehrer passen zur tatsächlichen Lage der Welt: Wir haben gar nichts im Griff und behelfen uns nur irgendwie. Wenn es nicht so toxisch wäre – bezogen auf die Welt – würde mir dieser Eindruck sogar gefallen. Vielleicht ist es auch andersherum:

Weil wir viel zu lange (wir westliche Welt) so getan haben, als wären wir die Beherrscher und Durchblicker, sollten wir jetzt anfangen, unter den Tisch zu krabbeln und nur noch improvisieren: selbstbasteln, reparieren, umstellen, bisschen ruckeln. Die Mitarbeiterin im Schulamt, die das weitsichtig und ideologiekritisch sieht, verdient einen Orden. Vielleicht überleben die Eisbären dann doch noch? Ich krabbele freiwillig für den Rest meines Lebens unter alle möglichen Tische, ich verspreche es!

17.8.21

Die Weltuntergangsstimmung in mir raubt mir mitunter den Atem. Afghanistan, schmelzende Eisberge und Gletscher, Regenfluten, AfD, Antisemitismus, Delta.

Mich erinnert das an mein Lebensgefühl in den 80er Jahren. Meine Freundinnen und ich blickten über die Abrisskante der Zivilisation und hatten Angst. Tschernobyl, Flughafen, Saurer Regen, Hunger, NPD oder waren es die Republikaner, John Lennon wurde ermordet.

Es regnet und Yann Tiersen spielt Klavier. Passt doch. Ich wünschte, ich könnte auch so spielen.

Ich kann es hören.

16.8.21

Ich gewöhne mich an den Schwindel: Guten Morgen, auch schon da? Trotzdem bin ich auf Anraten meines Liebsten zum Arzt gegangen. Zur Ärztin. Die bestätigte mir meine Diagnose und schickte mich zu einer Spezialistin. Die bestätigte meine Diagnose und gab mir Übungen, die ich jetzt mache. Zwischendurch probiere ich das Fahrrad aus und schaffe es selbstständig und ohne Stützräder ins Ostend. Einen arbeitsreichen Montag überlebe ich trotz Schwindel. Der Himmel verdunkelt sich und es beginnt zu regnen. Diesmal nur ein bisschen, es bitzelt auf der Haut. Ein Gefühl wie 1000 leichte Nadelstiche. Ich mag es und fahre mit dem Fahrrad ohne Regencape durch Frankfurt.

15.8.21

Ich habe einen seltsamen Schwindelanfall. Beim Haarewaschen bewege ich mich schnell und binde mir das Handtuch um und schon ist es geschehen: ich stehe auf einem schwankenden Schiff. Erst muss ich weinen, weil ich Angst habe, mein Gleichgewichtsorgan spielt vollkommen verrückt. Ich fühle mich, als würde ich auf einem Gummiball laufen oder auf einem riesengroßen Trampolin. Dabei ist mir weder übel noch habe ich Eintrübungen oder Gleichgewichtsprobleme. Ich kann auf der Stelle laufen, auf einem Bein stehen und Bälle werfen und fangen. Aber bei jedem Schritt, habe ich den Eindruck, auf einem Wasserbett zu stehen.

14.8.21

Ich höre gerade von „Ich und Ich“ das Lied „Ich kämpfe mit Dämonen“ und muss an meine Uni-Karriere denken. Es ist das Lied für meinen Abschied von meiner Uni-Karriere. Alles ist wieder da – Musik schafft es, unter Umgehung aller Schranken und Mauern in dein Herz zu rasen und alle vergessenen und vergrabenen Gefühle herauszuholen. Dieser Wahn, der mich geritten hat und der andere beherrscht hat, alle Gespräche beherrscht hat: Wer hat was geschrieben und wer hat wen angerufen. Wie oft wurde man zitiert? Ich höre das Lied und bin glücklich.

Was kann die Universität heute noch sein? Forschung und Lehre hat mir Freude gemacht. Ich habe auch gerne geschrieben und nachgedacht. Aber es gab einfach zu viel, das schrecklich war. Ich hatte das Gefühl, ich werde langsam zum Ego-Monster. Den Absprung habe ich geschafft.

13.8.21

Meine Freundin und ich waren in einem Konzert mit Chilly Gonzalez, Igor Levit und Malakoff Kowalski. Es dauerte nur eine Stunde und ich war noch etwas ausgehungert als es vorbei war. Ausgehungert nach dieser Musik. Sie spielten sechshändig auf einem Klavier, Malakoff sang, Igor sprach. Und wie mühsam ich mir ein Musikstück von Nyman erarbeite. Der Leichtigkeit liegt Arbeit zugrunde.

Am Nachmittag war ich auf der Klima-Demonstration. Ich bewundere alle diese jungen Menschen, die dafür streiten, dass Wachstum kein Wert mehr ist und Schönheitschirurgie verboten gehört. Wie mutig sie sind. Wie gebildet. Sie sprachgewandt.

Warnhinweis: Ein gewisser Anteil meines Textes ist fiktional. Ich glaube nicht an pure Dokumentation. Ich arbeite für Wahrhaftigkeit.

12.8.21

Ein Tag voller Arbeit: Einsatzplanung, EDV-Ausstattung, Unterricht, Terminplanung, Umzug…. Ich habe es gern gemacht. Mein überarbeitetes Kapitel zu „Vierfüßler“ liegt mahnend auf dem Sofarand und ruft: „So, geht es wieder los und ich muss warten!“ Ja, ich komme zurück.

11.8.21

Heute auf der Wiese. Ich sammle nochmal Brombeeren, die allerdings alle voller Maden sind. Also weg damit. Schade, sie sehen zu schön aus. Dafür habe ich noch einmal Kernobst gesammelt und mit Äpfeln zu einem Mus verarbeitet. Ich wundere mich über mich. Zuweilen lebe ich meinen Gärtner-und Sammlerinstinkt aus. Die Bohnen sind schon eingefroren. Die Marmelade und der Mus kommen in die Schublade. Wie freue ich mich, wenn ich das Glas aufmache und der Duft von Feld und Wald den Raum bewildet.

Mathias liegt wieder auf der Decke und liest. Ich setze mich schließlich zu ihm und schreibe. Habe ein paar gute Ideen. Den Verlust eines Menschen kann man auf der Decke auf der Wiese unter einem Baum auch am besten ertragen. In der Ferne sehen wir Offenbach. Der Sommer ist langsam reif.

10.8.21

Auf einer Radtour am Nachmittag mit meinem Liebsten in den Taunus nutzen wir für eine kurze Strecke die U-Bahn. Wir werden kontrolliert. Ich suche nach meinem Portemonnaie – ich habe es zuhause vergessen. Ich habe keine Karte, keinen Ausweis mit. Da ich mit dem Fahrrad mitten im Waggon stehe, Mathias mit Fahrkarte vor mir, kann ich nichts Besseres sagen als die Wahrheit: Ich habe mein Portemonnaie nicht dabei. Der junge Mann mit dem schwarzen Bart lässt mich eine Karte ausfüllen. So nach und nach kommen die anderen dazu: ein junger people of color, ein anderer schwarzhaariger junger Mann. Ein etwas älterer mit kurzen Haaren. Die drei könnten meine Schüler gewesen sein. Unsicher erklären sie mir, dass sie meine Personalien prüfen müssen, wenn ich keine Ausweispapier dabeihabe. Sie rufen bei der Polizei an. Man bestätigt meine Angaben nicht. Die Angaben seien falsch. Der etwas ältere RMV-Angestellte versucht es mit Erklärungen: ob ich umgezogen sei, ob mein Name falsch geschrieben sei, ob ich auf dem Handy nicht ein Foto meines Passes habe. Dreimal nein. Ich bin noch nie auf die Idee gekommen, meinen Pass zu fotografieren. Werde ich zuhause nachholen. Meinen Führerschein auch. Man müsse jetzt eine Streife rufen, die meine Angaben noch einmal überprüfe. Ich gebe ihnen eine Visitenkarte, weil ich doch ein ganz kleines bisschen genervt bin, aber Visitenkarten reichen nicht. Ich frage, ob ich nicht einfach die sechzig Euro bezahlen dürfe (ich habe gar kein Geld mit, aber Mathias würde mich sicher auslösen), damit wir weiterkönnen. Wir wollen schließlich in den Wald. Nein, geht nicht. Meine Personalien müssten geprüft werden, dann könne ich zu den üblichen Geschäftszeiten an der Bockenheimer Warte mein Landesticket vorzeigen, dann müsse ich nur eine Gebühr von sieben Euro bezahlen. Mit Maske stehen wir also zu sechst auf dem Bahnsteig Hohemark und warten, bis zwei Polizeibeamte vorfahren und meine Angaben: Name und Adresse, Geburtsdatum nochmal prüfen. Der Polizeibeamte sagt ins Telefon: „Die Angaben stimmen also? Nein, sie ist ganz ruhig!“ Ich bin froh, dass er das so sieht, nicht dass ich noch den Arm auf den Rücken gedreht bekomme. In jedem Fall muss keine Verstärkung geholt werden. Ich bin auch wirklich ganz ruhig. Ich rege mich gar nicht auf, ich bin mittlerweile fast etwas gerührt, immerhin bin ich meistens die, die jungen Menschen mit Migrationshintergrund erklärt, wie etwas geht. Jetzt mal andersherum.  Das spricht eindeutig für die Kombination multikulturelle Gesellschaft und bürokratische Verfahren. Allerdings sechs Leute, die sich mit meinem Ticket beschäftigen, auch etwas übertrieben. Aber auch wirksam. Ich werde nie mehr etwas vergessen. Wenn man kein Landesticket hat und keine offizielle Adresse, wäre die Sache ungemütlicher.

Nachdem ich also jetzt weiß, wie ich die Gebühr blechen kann und meine Personalien auch geklärt sind und ich wirklich ich bin, strampeln Mathias und ich den halben Berg hoch. Dann wandern wir durch den Wald und finden tatsächlich noch Himbeeren.  Dann wieder den Berg hinunter sausen. Das ist die beste Methode für alles. Vor der Rückfahrt kauft mein Liebster mir ein teures Ticket. Das ist gut, denn in Oberursel steigen die vier jungen Männer in die U-Bahn.

9.8.21

Man sagt: Der Tod kommt. Aber er kommt nicht. Es kommt gar nichts. Jemand geht, wäre richtig. Das Leben geht vorbei, das Leben verschwindet einfach. Plötzlich ist es nicht mehr da, wo es eben noch war. Sie hört einfach auf zu atmen.

Wir verbringen den ganzen Tag gemeinsam. Am Nachmittag sehe ich den kleinen Spatz mit seinem Papa im Garten. Ich bin ganz sicher!

8.8.21

Ein sonniger Morgen beginnt. Immer noch fegt der Wind durch den Garten wie in Portugal. Um unseren Garten herum steht eine Wohnanlage, die uns immer an portugiesische Ferienwohnungen erinnert hat. Jetzt sehen wir den Komplex nicht mehr oder nur noch zur Hälfte, weil ein Haus davor gebaut wurde. Um neun rief der Vater meines Liebsten an, dass „es zu Ende geht mit Ruth“. Wir schwangen uns zu dritt aufs Rad. Sie schläft fest und die Glocken läuten, der Wind rauscht durch die Blätter im Garten des Hauses. Ihr Atem geht schwer, aber ganz regelmäßig. Sie hat gestern entschieden, sterben zu wollen, sie wird nicht wieder aufwachen, erklärt man uns. Wir respektieren das. Die Pflegerin sagt: „Sie hat sich auf den Weg gemacht.“ Wir sitzen zu viert im Zimmer, ziehen die Masken ab. Es sagt niemand etwas dagegen.

Wir sprechen leise. Irgendwann gehen Tom und ich und lassen die beiden Männer allein mit ihr. Als wir uns verabschieden, flackern ihre Augen kurz. Ich stelle mir vor, dass es ist wie am Abend, wenn die Männer noch fernsehen und ich bereits im Bett liege. Ich höre sie murmeln und bin beruhigt.

Zuhause finden wir einen jungen Spatz auf der Terrasse. Wir füttern ihn. Er ist gleich wieder ganz munter. Nachdem er ein paar Dehnungsübungen gemacht hat, setzt er sich auf einer angebotenen Stange zur Ruhe, vergräbt sein Köpfchen ins Gefieder und schließt die Äuglein. Aber eine halbe Stunde später hat er schon wieder Hunger und fiept bzw. piept. Also wird wieder gefüttert. Bis zum Abend haben wir ihn aufgepäppelt. Er fliegt über den Garten, Flattert den Baum hoch und ist irgendwann weg. Jetzt sind wir wieder traurig. Er hat sich auf den Weg gemacht. Sie hat sich auf den Weg gemacht. Manche Wege gehen nur allein.

7.8.21

Besuch meiner Mutter im Taunus. Besseren Zitronenkuchen gibt es nicht. Am Abend hören wir den Krimi weiter, der uns aus Italien hinausbegleitet hat. Außerdem möchte ich wissen, was das für einer ist, der neue Tagesthemensprecher. Ehemals Junge Union, jetzt Tagesthemen. Aus der CDU ausgetreten. Das passt nicht mit Journalistenkodex zusammen. Er hat offenbar alles richtig gemacht und er sieht gut aus. Oder sollte ich das umgekehrt sagen? Wer schön ist, hat es leichter im Leben. Dann sehen wir einen Film aus Mazedonien. Es geht um eine korpulente junge Frau (32), die Geschichte studiert hat und arbeitslos ist. Sie bewirbt sich bei einer Näherei um einen Sekretärinnenposten und wird vom Chef erniedrigt („Dich würde ich nicht mal ficken“). Auf dem Rückweg kommt sie an einer jährlichen Prozession vorbei, bei der Männer in den eiskalten Fluss springen, um ein hölzernes Kreuz, das der Pope hineingeworfen hat, zu fischen. Sie springt spontan in den Fluss und angelt das Kreuz heraus. Es folgt eine quälend lange Nacht auf der Polizeistation, in deren Verlauf sich alle möglichen Männer darüber auseinandersetzen, welches Vergehen der jungen Frau nun vorgeworfen wird. Sie wird von allen möglichen Seiten bespuckt und weiter erniedrigt, gedemütigt und beschimpft. Eine moderne Journalistin will parallel zu den Ereignissen in der Polizeistation diese Geschichte als Unrechtsgeschichte ausschlachten und empört sich.

Das ist also eher die Kontrastgeschichte. Beides findet statt auf der Welt. Parallel. Gleichzeitig. Nebeneinander. Die meisten Frauen, die ich kenne, können selbst Geschichten von Erniedrigung aus nichtigen Gründen erzählen. Kaum eine, die nicht selbst schon beschimpft oder auch nur beleidigt wurde, weil sie irgendetwas so getan hat, wie sie es eben richtig fand. Kaum eine, die nicht schon einmal in einer Situation war, in der es bedrohlich eng wurde. Ich würde nicht sagen, dass das Erlebnisse für „metoo“ wären. Ich würde eher sagen, man sollte sich das nicht gefallen lassen.

Bevor wir zu meiner Mutter fuhren, hielten wir bei einer Konditorei in der nahen Kurstadt. Ich fragte unter der Maske nach Himbeer- oder Erdbeerkuchen. Eine Frau aus der Ecke motzte: „Erdbeerzeit ist vorbei!“ Die Zeit der freundlichen Bedienung offenbar auch. Ich antwortete: „Das weiß ich.“

6.8.21

Wir treffen Ruth mit einer jungen Praktikantin in der Kapelle des Hospizes. Ein schöner Raum, in dem man denken kann. Mir fallen ein paar schöne Textstellen aus der Bibel ein, ich weiß aber nicht, wie man sie findet: „die Lilien auf dem Felde, sie arbeiten nicht, sie spinnen nicht“ oder „nun aber bleibt: Glaube, Liebe, Hoffnung, diese drei…“ Ich suche ein bisschen in der Bibel herum, habe aber keine rechte Geduld. Immerhin: „Korinther“ bekomme ich heraus. Als Kind wollte ich das alte und das neue Testament kennen. Die Geschichten haben mich fasziniert. Ich konnte sie nacherzählen. Ich musste sie in der Schule nacherzählen. Ich hätte meinen Kindern eine entsprechende Belehrung gewünscht. Aber ich glaube, man macht das heute nicht mehr so. Sie waren jedenfalls nicht in gleicher Weise begeistert von Moses, Jesus und Erlösung und Verrat. Vielleicht hatten sie auch einfach nur Pech mit ihren Lehrerinnen, ich hatte sicher Glück. Ich hatte eine Lehrerin, Frau Calabro, die ich bewunderte. Alles, was sie mir beibrachte, behielt ich. Später kam dann ein Herr Schäfer, ein Pfarrer namens Kirschner und zum Abitur hin eine Frau dazu, an deren Namen ich mich nicht mehr erinnere, deren Unterricht aber sehr aktivierend und spannend war und mir in bleibender Erinnerung ist. Erich Fromm, die drei Weltreligionen, moralische Fragen – alles Diskussionsthemen im Reliunterricht. Religionsunterricht gehört also für mich zu meinen eher guten Schulerfahrungen. Es gab auch ausreichend andere. Ich bin trotzdem vom Glauben abgefallen. Ich halte es jetzt schon sehr lange eher mit Dworkin und brauche zum Glauben keinen Gott. Das Universum ist fantastisch, das reicht eigentlich.

Nachdem wir also in unserem Textstudium wenig erfolgreich waren, begleiten wir sie beim Essen. Das ist auch wertvoll. Manchmal erzählen wir uns etwas, manchmal schweigen wir. Wir haben ihr etwas von der selbstgemachten Marmelade mitgebracht. Nun aber bleibt: Glaube, Liebe, Hoffnung.

Draußen weht ein Meereswind. Im Garten rauscht es und wenn ich die Augen schließe, höre ich das Meer.

5.8.21

Ein perfekter Tag zum Ernten. Rund um Frankfurt hängen die Hecken dicht mit Früchten. Mathias setzte sich auf seine Decke unter einen Apfelbaum und ich ließ mich stechen und kratzen von garstigen tiefschwarzen Beerensträuchern, deren Früchte so unverschämt saftig, fruchtig an der Dornenhecke hingen, so dass ich meine Hand einfach darunter halten musste und schon flog es in das mitgebrachte Sammelbehältnis. Ich habe sie alle vollgemacht die Gläser, Tupperwaren und Tüten. Jetzt gibt es reichlich Marmelade und Saft. Den Vögeln im Garten legte ich die Kerne der Renekloden hin, füllte das Vogelbad mit Wasser und häufelte Toms Kartoffeln auf.

Danach schreiben. Was für ein Tag!

4.8.21

Das Licht im Bad ist ausgefallen. Wir haben eine schicke Lampe im Bad, die alle paar Monate eine neue Birne braucht. Schrott eben, sieht aber gut aus.

Mathias weist mich darauf hin: Die Mauersegler sind nicht weg. Beim Wäscheaufhängen im Keller hat er sie gehört. Und wirklich: Sie fliegen weit oben über unserem Garten, unserem Haus und ja, ich höre sie. Der Tag ist gerettet. Außerdem habe ich auf einer Wanderung durch den Grüngürtel so viele dicke, saftige, saure und süße Brombeeren gefunden wie seit 1000 Jahren nicht. Daneben hingen wilde goldgelbe Mirabellen und rote Renekloden, dass ich juchzte. Ich werde morgen in die Brombeeren gehen!

2.8.21

Der heutige Tag im Garten tröstet über den verlorenen See hinweg. Ich ernte zwei Hände voll grüner Bohnen und drei wunderschöne, rote Bohnen. Sie liegen noch in der haarigen Hülse und glänzen, als ich sie hinausnehme. Sie haben eine zarte rosa Farbe und liegen schön artig nebeneinander. Sie werden für das Archiv des Sommers fotografiert.

Danach mache ich etwas Ordnung. Die Zitronenmelisse und der Majoran wollen überall dabei sein und verdrängen die anderen vom Platz. So geht das nicht, da muss eine ordnende Hand eingreifen, Hummeln hin oder her. Bei der Gelegenheit gebe ich dem Salbei einen Platz und sorge auch für die Pfefferminze. Die Paprika dankt meine Fürsorge mit reichlich Früchten und auch die Tomaten werden rot. Nur mein neuester Zugang, die Physalis fremdelt noch. Portugal wäre schöner, meint sie. Ja, sage ich, man kann es sich nicht immer aussuchen.

Ich bin sehr stolz auf mich.

Die Mauersegler sind seit zehn Tagen wieder fort. Es schreit nicht mehr. Der Nachsommer hat begonnen.

Am späten Nachmittag besuchen wir Ruth. Sie wird immer weniger. Wir trinken einen Schluck Rotwein miteinander und sie macht uns mit dem Personal bekannt. Zeit ist hier nicht knapp. Ihr kommen allerdings die Zeiten durcheinander und deshalb stimmen die Orte und Personen auch nicht mehr. Musikanten und Gymnastikstunden tauchen gestern auf, müssen aber zu einem anderen Zeitpunkt an einem anderen Ort erlebt worden sein. Es kann sich jedenfalls niemand anderes an die Gymnastikstunde erinnern. Es wird komisch, als der Pfarrer in der Gymnastikstunde auftaucht und wir fragen lachend danach. Sie korrigiert sich. Sie wollte gerne teilnehmen, durfte aber nicht. Wie einschneidend der Ausschluss erlebt ist. Tiefgreifende Erinnerung kommt als lebendige Erzählung zu uns als wäre es gestern gewesen. Die Erinnerung scheint keine Perlenkette mehr zu sein, auf der jede Perle ihren unveränderlichen Platz hat. Die Erinnerung ist eher eine Tortilla, in die alles fest eingebacken ist. Ich gebe zu, das entspricht auch eher meiner Vorstellung von Lebensgeschichte. Verschiedene Dinge gehen eine Verbindung miteinander ein und sind nicht mehr getrennt. Chronologie ist überbewertet.

Auch beim Rausgehen desinfizieren wir die Hände. Ich hasse das Gefühl trockener Haut und wasche mir zuhause gleich die Hände nochmal.

1.8.21

Die Fahrt nach Hause gelingt ohne langen Stau und mit Hilfe eines Kriminalromans, den wir hören. Wir reden auf dieser langen Fahrt nicht und hören und sehen nur.

Zweimal halten wir, um Pippi zu machen.

Vielleicht hätten wir reden sollen, über Enttäuschung und Traurigkeit, Hilflosigkeit angesichts des Sterbens, das uns in Frankfurt erwartet, angesichts der Tatsache, dass wir vielleicht zum letzten Mal mit Kind im Urlaub waren. Schon lange sind meine Kinder kein Kind mehr. Aber wie soll ich aus einem geliebten Leben hinauskommen, wenn auf der Rückbank jemand fragt, wie lange wir noch fahren?

Am späten Abend in einem Gartenrestaurant um die Ecke streiten wir uns, damit wir endlich ein Gegenüber für unsere Traurigkeit haben. Es ist nicht zum Aushalten, wenn man einfach so traurig ist und gar nicht genau sagen kann, warum. Da ist es besser, man streitet sich über liegengelassene Zucchini im Kühlschrank und den barschen Ton, den der andere anstimmt.

Am frühen Morgen waren wir noch bei allerschönstem Sonnenschein im Wasser des Sees. Die Haut macht es zart und geschmeidig und ich bin traurig, das jetzt wieder lassen zu müssen. Vielleicht brauche ich doch Kaninchen?

31.7.21

An diesem Morgen öffne ich die Fensterläden des Hauses und schaue in die bereits aufgegangene Sonne. Sie beleuchtet den wolkigen Himmel in verschiedenen Farben. Ich beginne ein neues Buch: Knausgard. Es kommt mir so vor, als kennte ich es bereits. Nach dem Frühstück packen wir die Koffer und die Badesachen und gammeln zu unserer Badestelle. Tom hat eine kleine Absprungstelle geschaffen, die wir rege nutzen. Ich liebe es, in dunkel türkisblaues Wasser zu hüpfen. Wahlweise darf es auch helltürkis sein. Ich mache sogar einen Köppert. Dann überrascht uns wieder das Gewitter. Wir bleiben in Badehosen sitzen und werden von oben nass. Über uns donnert es. Wir hängen uns die Strandtücher um, rupfen den Sonnenschirm aus dem Gestänge und eilen nach Hause. Es regnet, die Erde wird nass. Woher kommt all‘ dieser Regen?

Am Abend: Pizza,

was sonst. Dünn und knusprig, heiß und geschmolzen. Dazu ein Moretti.

30.7.21

Ein Sommertag mit Sommerwind. Michael Sandels Überlegungen zu der Solidarität zersetzenden Ideologie der Leistungsgesellschaft begleiten mich. Ich habe jetzt das Wort Meritokratie gelernt und verstanden, dass wir in einer solchen leben. Es bedeutet, dass wir glauben, jeder könne in unserer Gesellschaft aufsteigen, sofern er sich nur anstrenge. Es bedeutet auch, dass die, die es nicht schaffen, vermittelt bekommen, selbst schuld zu sein und das auch zu spüren bekommen. Die „Aufsteiger“ oder die, die bereits „oben“ sind, glauben dann, dass sie ihre gesellschaftliche Stellung verdient haben. Natürlich ist das eine Ideologie, da der Aufstieg nicht allein von den individuellen Möglichkeiten eines Menschen abhängt, sondern ganz wesentlich von kulturellen und sozialen Zutaten und schlicht Glück. Außerdem kann man auch die Figur des Aufstiegs in Frage stellen. Für ein glückliches und solidarisches Leben braucht es nicht in erster Linie den „Aufstieg“. Ich habe bisher auch immer gedacht, das bemesse sich an den Bildungsabschlüssen. Aber die Frage ist ja berechtigt, warum die Bildungsabschlüsse mit Bildung verwechselt werden und ob es überhaupt gesellschaftlich erstrebenswert ist, dass möglichst viele Menschen einen Universitätsabschluss haben und insofern „aufgestiegen“ sind. Andererseits soll auch niemand daran gehindert werden. Letztendlich kommt Michael Sandel dann zu politischen Forderungen, die ich nachvollziehen kann: Steuern mehr über den Konsum anstatt über Arbeit einnehmen, Kapital stärker besteuern und den wild gewordenen Finanzsektor politisch regeln. Welche Arbeit, welche Werte man gesellschaftlich für relevant hält, lässt sich nicht über die Wirtschaft und die Arbeitswelt definieren. Das müssen wir schon alle gemeinsam machen. Da darf sich jeder einmischen.

Am Ende des Tages gewittert es ganz fürchterlich und Tom, Mathias und ich spielen gerade auf einem unübersichtlichen Grasparkplatz Fußball. Unser Tag endet mit einem verknacksten Knöchel, Millionen von Stichen an Beinen, Rücken und Armen, nassen T-Shirts und Hosen und einer tollen Dokumentation über Saxonz, eine Breakdancegruppe aus Ostdeutschland.

29.7.21

Ich habe von Antonio Polizzi geträumt. Wir waren zusammen, ein Paar, aber aus irgendeinem Grund waren wir getrennt worden. Darüber war ich traurig. Antonio Polizzi, ein Name wie eine Landschaft: erfrischend, zärtlich und aufregend. Er klingt nach scharfen Spaghetti und einem starken Esskastanienbaum. Ich weiß nicht, was aus meinem Schulkamerad geworden ist, aber den Namen werde ich nie vergessen. Auch nicht, dass ich ihn mochte. Er war nett und witzig. Vielleicht ein bisschen ungelenk oder linkisch. Warum haben wir uns aus den Augen verloren? Klingt in italienischen Ohren „Wolfgang Müller“ auch so poetisch? Vielleicht sitze ich nur einem Voruteil auf, das sich in mir zu einem Stereotyp verfestigt hat: alle Lautkombinationen mit a, o und i sind schön wie ein Sommerwind, weil sie aus dem Land der blühenden Zitronenbäume kommen. Zu einem positiven Vorurteil zwar, aber stereotyp allemal. Was soll ich machen? Ich mag den Klang des Namens einfach: Antonio Polizzi. Vielleicht mag ich die italienische Sprache auch nur deshalb, weil ich als Grundschülerin einen netten italienisch aussehenden und so wunderbar heißenden Mitschüler hatte. Wenn er mich geschlagen hätte, wäre ich vielleicht anders voreingenommen. Ich möchte mir gerne über meine in mir tobenden kolonialistischen und imperialistischen Vorurteile Aufklärung verschaffen und gleichzeitig den Klang des Namens weiterhin wunderbar finden. Ist das möglich? Vielleicht nicht, sagt Erich Fromm, sagt mein Mann. Die Sprache kann die Erfahrungen auch entzaubern. Wenn man eine schöne Erfahrung nur benennt und bezeichnet, wenn man dem Ideal der Genauigkeit nachstrebt und für jeden Erfahrungspartikel ein Wort finden möchte, kann man die schönste Erfahrung zerreden. Poesie ist das Gegenteil, würde ich sagen. Poetisch geht es nicht um die Frage, wie es gewesen ist. Es geht darum, die Erfahrung zu teilen. Es geht darum, den anderen nicht allein zu lassen. Das Wort „Sommerwind“ ist auch wunderbar, so wunderbar wie Antonio Polizzi. Kommt auch ein o und i vor.

28.7.21

In der Kaninchenmeditation war dies die wichtigste Übung: Betrachte die Kaninchen im Garten und folge den Bewegungen und den Geräuschen. Jeder Gedanke darf kommen und gehen. Konzentriere dich nur auf die Regungen der Kaninchen. Die Abfolge von ruhigen und mitunter hektischen und schnellen Bewegungen macht die Betrachtung abwechslungsreich, wenn nicht sogar lustig. Überraschend springen sie in die Luft oder auf einen Baum und schaukeln auf einem Ast. Dann lassen sie sich ins Gras plumpsen und blinzeln und schnüffeln. Zwei Kaninchen im Garten sorgen dafür, dass du keine Langeweile mehr hast. Du kannst deinen Kopf vollkommen entleeren, indem du ihnen zuschaust und dabei nichts bewertest oder sagst. Du konzentrierst dich allein auf das, was sie tun oder nicht tun. Selbst wenn sie schlafen, kann man sie betrachten. Sie legen ihre Ohren oder Pfoten übereinander und manchmal träumen sie und knottern mit dem Mäulchen.

Ich vermisse unsere Kaninchen. Aber neue will ich auch nicht im Haus oder Garten. Man gewinnt so ein Tier doch lieb, ob man möchte oder nicht.

Es hat aufgehört zu regnen, über dem blauen See leuchtet jetzt der blaue Himmel und die Boote fahren wieder auf die Insel. Wir gehen schwimmen. Nackt, weil es verboten ist.

Am Abend sprechen wir über das Abschiednehmen und die Moral. Ich lese ein Buch von Michael Sandel, da geht es auch um die gesellschaftliche Ethik des Leistungsprinzips. Eigentlich bin ich auch gegen das Leistungsprinzip als gesellschaftliches Verteilungsprinzip. Warum sollte nur der Mensch eine schöne Wohnung haben, der viel arbeitet? Und wer definiert, wieviel ich wie gut geleistet habe? Es gibt sehr viele Menschen, die sehr viel arbeiten und leisten und sich gleichwohl wenig leisten können. Die also nicht bekommen, was sie verdienen, weil sie zu wenig verdienen, obschon sie viel leisten. Ist auch interessant, dass im Deutschen „verdienen“ zwei Bedeutungen hat. Auf der anderen Seite ist Anstrengungsbereitschaft durchaus eine erstrebenswerte Eigenschaft, die einen dazu führen kann, Berge zu erklimmen, einen tollen Beruf zu erlernen oder auch eine Fremdsprache zu erwerben. Gleichwohl meine ich, sind alle Menschen gleich viel wert und so sollten am Gesamtreichtum aller auch alle partizipieren können. Es läuft bei genauerer Betrachtung darauf hinaus, dass Güter, die dem Gemeinwohl dienen, auch allen gehören müssen und entsprechend auch nicht unter dem Gewinndiktat stehen dürfen: Gesundheit, Verkehr, Bildung, Grundversorgung, Wohnen, Erziehung. Ich stecke meine Nase wieder zwischen die Buchdeckel.

27.7.21

Wir planen unsere Rückkehr nach Frankfurt. Nicht wegen des Regens, des Hustens, nicht wegen des ausgefallenen Internets, der nassen Rückwand im Schlafzimmer. Mit all‘ dem können wir auskommen. Aber meine Schwiegermutter wird immer weniger und wir möchten sie besuchen. Sie ist in einem Hospiz untergekommen. Dort dürfen wir sie besuchen, wann wir wollen und sie es möchte. Allerdings müssen wir auch dort einzeln kommen, vielleicht zu zweit, nicht aber zu viert. Corona. Endlich kann sie wieder ein Hemd oder T-Shirt tragen und muss nicht den ganzen Tag in einem Krankenhauskittel verbringen. Sterben ist keine Krankheit.

Ein paar Tage brauchen wir noch hier. Der Hügel auf der anderen Seite des Sees verschwindet langsam in den dunklen Wolken. Es rumpelt irgendwo. Die Arbeit am Wort ist etwas ähnliches wie den Geräuschen am offenen Fenster lauschen. Das Prasseln des Regens auf dem Fluss wird langsam lauter, wie ein Zug, der heranrollt, ganz langsam, irgendwann ist es ein Rauschen vor dem Fenster. Dann hüllt dieses Rauschen alles ein, die Kulisse: Häuser, Lichter, Hügelketten, am Ende einzelne Bäume, die etwas unterhalb stehen. Langsam lässt das Rauschen wieder nach und die einzelnen Regentropfen sind wieder zu hören. Ein Glockenspiel legt sich auf das feine Prickeln. Die romantische Hörszene wird durch ein Auto unterbrochen, das über den nassen Asphalt fährt.

Tatsächlich: Ich muss Eindrücke und Wörter sammeln für den Winter. Für Zeiten, in denen dauernd das Telefon läutet.

26.7.21

In die Aufgewühltheit meines Denkens fiel die glasklare Überlegung meines Liebsten, das Bett einfach umzubauen. Wir probieren es aus und nächtigen im Wohnzimmer, dass trockener und besser belüftet ist. Der Husten ist wieder im Koffer.

Zwischen den Regenzeiten schlappen wir ans Wasser, gehen schwimmen. Im Ort ist wenig Verkehr. Ein Eissalon mit bestem italienischen Eis ist offen und wir holen uns je zwei Portionen Zitrone, Schokolade, Nuss. Neben uns sitzt noch eine andere Familie, sie kommen vermutlich aus Belgien. Die Belgier scheinen auch Ferien zu haben. Zwei andere Restaurants haben ebenfalls geöffnet. Insgesamt ist es aber sehr ruhig und wenn wir eine Lokalität betreten, ziehen wir die Masken auf. Ober und Oberin tragen Maske. Das Nasenfrei-Outfit scheint auch in Italien cool zu sein. In Deutschland steigen die Ansteckungszahlen.

Es regnet wieder, nein, es schüttet, donnert und blitzt. Wir eilen den steilen Berg hinauf und betrachten das Gewitter aus dem Fenster heraus.

Am Abend spielen wir Poker. Die ganze Nacht regnet es wieder. Wie in einem wahnsinnigen Film von Bunuel fliegen die Bilder in meinem Kopf hin und her: übertretende Flüsse, Ruth im Rollstuhl, ihre dünnen Beine, Regen, Schlamm in Wohnungen, ein Zimmer im Hospiz, Atemmaschinen…Der Regen verstärkt die Wirkung der Bilder.

25.7.21

Der Husten war nur im Gepäck. Kaum sind wir in Pella angekommen, ich lege mich in das Bett einer mir unbekannten Wohnung, beginnt er mich durchzurütteln. So geht das die ganze Nacht. Und am nächsten Morgen. Es ist die Feuchtigkeit. Der Schimmel einer nassen Wohnung. Der Staub unbekannter Couchgarnituren. Der Stress, mit anderen zusammen zu leben. Aber will ich darauf verzichten oder muss ich wohl mit dem Husten leben? Soll ich für den Rest meines Lebens allein wandern und baden gehen? Ich bin verzweifelt. Ich huste im Urlaub und kann nichts dagegen tun, nicht mal mein Leben ändern.

Also spiele ich Fußball. Ich stehe im Tor und dann und wann halte ich einen Ball. Andere freuen sich darüber. Sogar ein paar Italiener bleiben stehen und bewundern meinen Sportsgeist. Vielleicht bewundern sie auch etwas anderes, aber die Vorstellung gefällt mir einfach.

24.7.21

Zuhause beschimpft meine Schwiegermutter immer häufiger die Männer, die sie liebt und die Pfleger, die sie pflegen, hört Stimmen, die nicht da sind: mich zum Beispiel. Die Widerstandskräfte, die Differenzierungen sind ihr abhandengekommen, offenbar gibt es in ihrer Welt nur noch Gefahr und Hinterhältigkeit. Es macht die anderen traurig. Sie wahrscheinlich auch. Die, die zurückbleiben, sind damit beschäftigt, es sich nicht zu Herzen zu nehmen. Es ist nicht zu ernst zu nehmen. Wer weiß, woher ihre Ängste kommen. Sie haben nichts mit uns zu tun. Dennoch bleiben die Worte an einem kleben. Man kann sie nicht einfach abschütteln. Sie haben doch ein bisschen mit uns zu tun, die Worte.

Ich bin in einer anderen Welt. Heute Morgen fuhr ich im Nebel zu dem nahegelegenen Stausee. Es nieselte und die Nebelschwaden hingen über dem riesigen Wasser. Bei der nächsten Gelegenheit bog ich rechts den Berg hinauf ab. Der Weg war frisch gemäht, ich rieche das so gerne. Immer der Nase nach, nach oben, bis zur Alm. Sie Kühe warteten auf mich. Sie blickten mich alle an, die Glocken klangen und ich wurde übermütig, ging weiter und weiter. Ich entdeckte Blaubeerfelder, die niemand zu ernten schien. Die blauen Beeren hingen schwer und reif. Ich musste einfach sammeln. Ich war wahnsinnig konzentriert auf die Beeren, so dass ich gar nicht merkte, wie es zu regnen begann. Zu regnen? Es schüttete und donnerte. Ich erschrak und flüchtete mich mit einer Tüte Blaubeeren unter eine Lärche, die tatsächlich Schutz bot. Ausreichend Schutz für mich und meine Blaubeeren. Ich sah dem Regen zu, hörte es rauschen und plätschern und überlegte mir, was schlauer wäre: Ganz nackig ausziehen und die trockenen Klamotten im Rucksack nach unten transportieren oder alles anziehen und hoffen, ich würde eine Schicht Trockenheit nach unten bringen. Die Kühe zogen langsam an mir vorbei. Ich hörte dem Regen zu. Als es nur noch brickelte, nicht mehr strömte, lief ich los. Die Blaubeeren im Rucksack. Ich jagte über die Wurzeln, Steine und Pfützen. Im letzten Regenschutt hatten sich auf dem schmalen Pfad Pfützen gebildet. Ich brachte meine Beute sicher ans Auto, als ich aufschloss, begann der Regen wieder zu hämmern.

Auf der Fahrt ins Hotel nahm ich ein Schweizer Pärchen im Auto mit. Sie hatten die Nacht über der Baumgrenze im Zelt verbracht. Wir fachsimpelten über die Bahn und Naturkatastrophen. Davon gibt es gerade reichlich und ich gebe zu, dass ich wenig bis gar keine Ahnung von Wasseraufbereitung, Flussverläufen und Hausstatik habe. Die Schweizer waren sehr zurückhaltend und fragten vorsichtig, ob Deutschland vielleicht noch etwas mehr in den Katastrophenschutz, die Renaturierung und andere Umweltschutzmaßnahmen investieren sollte. Ich nickte.

Bis zur Ankunft des Zuges der beiden Männer aus Deutschland in Bellinzona hatte ich noch reichlich Zeit. Die Züge hatten alle Verspätung oder genauer: weil der eine Verspätung hatte, erwischten sie den anderen nicht mehr und hatten deswegen mit allen anderen auch Verspätung. Ich setzte mich auf einen Platz in Bellinzona und begann zu schreiben und verpasste fast meine Männer, die dann schließlich endlich doch ankamen. Der Husten war abgefahren.

23.7.21

Auch ein dritter Tag „machen, was mir gefällt“ ist toll. Solange die Sonne scheint, der Fluss nicht weit, mein rosa Notizbuch nicht weit ist und es genügend Aprikosen gibt, habe ich zu tun. Zwischendurch wollte ich mir Sonnencreme kaufen und hielt dem Mann an der Kasse eines Rewe-ähnlichen Ladens meine Schweizer Franken hin. Er lehnte sie ab. Es seien die „alten“ Scheine. Ich erschrak; ich hatte glücklicherweise noch Euro in der Tasche. Kaum fährt man ein paar Jahre nicht in die Schweiz, tauschen die ihr Geld aus. Etwas auf Italienisch einem Italienisch sprechendem Schweizer, beide unter Masken, zu erklären, ist gar nicht so einfach. Meistens versteht man sich irgendwie und wenn man sich falsch versteht, ist es meist auch nicht schlimm. Dann läuft man halt in die falsche Richtung und entdeckt da was Neues. Im Urlaub muss ich ja nicht so auf die Uhr schauen. Ich habe sowieso keine an. Wenn man alleine unterwegs ist, wird man weniger abgelenkt. Entweder man kommt mit dieser mangelnden Ablenkung klar oder nicht. Mitunter ist es sogar sehr schön. Ich beobachte den Wasserstrahl einer Tränke gegenüber einer kleinen Kirche. Der Wasserstrahl wird vom Wind immer einmal abgetrieben. Die Bienen, die dort Wasser tanken, folgen der Bewegung. Ich sitze da so lange, bis ich das Interesse verloren habe. Ich mache mir das gar nicht bewusst. Es kommt einfach, dann wandere ich weiter. Die mangelnde Ablenkung kann auch unbarmherzig sein. Ich finde mich viel häufiger selbst peinlich, wenn ich allein bin. Wie ich da so sitze im Garten, alle anderen sind zu zweit und zu dritt, nur ich hocke da allein. Soll ich das Bein überschlagen, obwohl ich das sonst nie tue? Soll ich nochmal auf das Handy schauen? Habe ich nicht gerade eben bereits auf das Handy geschaut? Was wird der Kellner denken von mir? Meint er, ich bin ein Sparbrötchen, weil ich Polenta mit Gartengemüse esse, statt mit Fleisch? Irgendwann möchte ich mich dafür entschuldigen, dass ich in dieses Restaurant zu kommen wagte und etwas essen mochte. Wie konnte mir das nur einfallen?

22.7.21

Den ganzen Tag machen, was man will, ist toll. Ich frühstückte. Das ist zugegebenermaßen noch nichts außergewöhnlich Selbstbestimmtes. Aber das italienische Brot und die Aprikosenmarmelade schmeckten ganz und gar selbstbestimmt. Zwei Tassen Kaffee nahm ich zu mir. Auch das war ein Akt der Befreiung. Dann lief ich los. Im Rucksack trug ich, was ich verzehren und lesen und schreiben wollte. Außerdem meine Badesachen. Er war viel leichter als sonst. Zwei Aprikosen nahm ich vom Buffett weg. Sie sollten mir gute Dienste leisten. Ich wanderte dorthin, wo es mir gefiel. Ich dachte gar nicht darüber nach, immer der Nase nach und schließlich landete ich in Maggia auf einem Wanderweg zu einem Wasserfall: Gira del Salto. Zunächst war ich frohen Mutes, überholte ein Pärchen, eine Familie. Aber schon bald, sehr bald, ging mir die Puste aus. Ich hielt an und wartete, bis der Atem ruhiger wurde. Das geht bei mir ganz schnell, aber ich hatte nicht mit meinen Wackelpuddingbeinen gerechnet. Mit jeder Steinstufe wurden sie wackeliger. Entweder ich pustete oder wackelte. Alle zweihundert Meter musste ich anhalten. Die Familie überholte mich. Das Pärchen überholte mich. Ich wunderte mich und redete mir gut zu. Ich aß die erste Aprikose, etwas weiter oben die zweite. Ich trank viel Wasser und kam tatsächlich nach ziemlich oben. Ich würde sagen: nach fast ganz oben. Da mich alle bereits überholt hatten, konnte ich mein hübsches Hemdchen ausziehen und wanderte im Unterhemd weiter. Jetzt würde ich wenigstens braun. Nachdem ich mich damit abgefunden hatte, dass ich mich heute sehr schwertat, ging es besser und ich lief immer ein paar Stufen, holte Luft, sprach meinen Beinen zu und stieg weiter. Irgendwann war es gut und ich lobte mich für mein Durchhaltevermögen, meinen vergossenen Schweiß und die wunderbare Aussicht, die ich mir verdient hatte. Ich sagte zu mir, dass ich auch noch etwas Kraft brauche, um den Berg wieder heil hinabzukommen. Das war klug, denn der Weg war steil und die 568934 Stufen aus schwarzem und grauen Stein mussten gut abgefedert werden.

In Maggia angekommen, war ich ziemlich erschöpft. Aber meine Selbstbestimmung führte mich weiter zum Fluss. Ich querte die Fußbrücke, zog mich um und stürzte mich in das kalte Wasser des Maggias.

Den restlichen Tag verbrachte ich lesend und schreibend, ein bisschen Italienisch übend im Schatten im Gras. Wenn man Freunde hat, die zwischendurch anrufen, wenn man einen Liebsten hat, der bald kommt, ist Selbstbestimmung und machen-was-man-will toll. Der Husten verzog sich. Er wurde den ganzen Tag nicht gesehen.

21.7.21

Nach dem Frühstück fuhr ich los. Zum Abendessen war ich im Tessin. Ich habe ein kleines Hotel gefunden mit nur acht Wohnungen, von denen ich jetzt eine bewohne. Meine Männer kommen nach. Sie kümmern sich noch. Das ist gut. Für mich war es gut, jetzt zu fahren. Ich hörte Radio, irgendwann legte ich eine Thriller-CD ein und verlor mich in den Mooren von Michigan während ich die friedliche Schweiz kreuzte, überwand den Gotthardt-Pass und landete schließlich in Aurigeno im Tessin, direkt am Maggia. Ei, war das schön. Das Wasser ist türkisblau und klar, als gäbe es keine Umweltverschmutzung. Heute habe ich mich noch nicht hineingeworfen, aber morgen werde ich das tun. Danach werde ich meine Wanderschuhe anziehen und nach Maggio laufen oder Ancona. Es gibt auch eine tolle moderne Kapelle am Ende des Tales, die einen Besuch lohnt.

Ich werde meinen Husten hier lassen und am Abend einen Merlot trinken. Vielleicht können die Schweizer etwas mit einem deutschen Husten anfangen?

20.7.21

Ich schlafe traurig ein und stehe traurig auf. Finn ist aus Wien gekommen und bringt eine echte Wiener Sachertorte mit. Das versüßt den Nachmittag. Außerdem ist jetzt auch er geimpft. Wann kommt die dritte Impfung? In Großbritannien macht alles wieder auf. Es hört sich für mich an, wie der Tanz auf dem Vulkan. Wir hauen es jetzt raus, das Leben ist kurz. Bilder mit jungen Menschen in der Disco machen mein Herz noch eng. Ich bin nicht die Zielgruppe, ich weiß, aber ich möchte jetzt nicht eng an eng tanzen.

19.7.21

Wir denken darüber nach, ob es richtig und gut ist, wenn man ehrlich zueinander ist. So, generell lässt sich die Frage nicht beantworten. Ich denke, ich würde wissen wollen, wenn ich nur noch wenige Monate zu leben hätte. Auf der anderen Seite ist es ja auch egal, ich weiß ja jetzt auch nicht, ob ich nur noch wenige Monate zu leben habe. Die Chancen, etwas Neues an sich und anderen zu entdecken, vergrößern sich aber, wenn ich weiß, dass sich etwas ändert. Abstraktes Gequatsche? Nein, leider ziemlich konkret.

18.7.21

Da ich gestern gearbeitet habe, hole ich den Samstag an diesem Sonntag nach. Zeitung, Computer und Brille im Bett, draußen hämmert niemand, weder am Nektarinenbaum noch auf der Baustelle. Ich betrachte mir den sozialen Wohnungsbau in St. Louis aus den 60er Jahren: Pruitt-Igoe. Habe etwas darüber gelesen. Es war eine staatlich geförderte Wohnanlage, in die am Ende niemand mehr einziehen mochte. Der japanische Architekt oder amerikanische Städteplaner wollte, dass sich die Bewohner im Treppenhaus begegnen und ließ den Fahrstuhl nur in jedem dritten Stockwerk halten. Schlau gedacht, aber in der Realität wohl total daneben gegangen. Im Laufe der Jahre wurden nur ein Teil der Wohnungen bezogen, der Leerstand führte zu Vandalismus und das führte dazu, dass die wenigen Menschen, die dort bereits wohnten, wieder auszogen. Nicht jede gute Idee führt zu einer guten Realität. Das Phänomen der „broken glasses“ kenne ich gut. Kaum liegt ein Trinkpäckchen auf dem Schulhof, landen andere daneben. Deshalb laufe ich selbst oft über den Hof und sammle auf. Aber nicht nur ich, andere tun das auch. Noch besser wäre es, man brächte Kinder dazu, Trinkpäckchen in den Papierkorb zu werfen. Eltern wollen das oft nicht glauben, dass gerade ihr Kind Müll auf den Hof schmeißt.

Im Flanieren durch die Zeitungen und Zeitschriften bleibe ich an einem Artikel zu Vermeidung diskrimierenden Sprachgebrauchs hängen. Es geht um „schwarzfahren“. Da ich eine Humboldtsche Sprach- und Weltverstehensauffassung teile und lange dazu gearbeitet und viel geschrieben habe, muss man mir nicht erklären, wie die Sprache das Denken prägt. Man kann sich gesellschaftlich auf jeden Fall noch stärker als bisher bereits geschehen darum bemühen, diskriminierende Ausdrücke und Redensarten zu unterlassen. Das hält einen fit und flexibel im Kopf, weil man sich mitunter einfach mal mehr Gedanken macht als sonst. Allerdings entsteht Diskriminierung ja nicht nur durch Sprache, sondern auch durch soziale, politische und ökonomische Ausschluss- und Einschluss- und Bewertungsmechanismen, die ziemlich kompliziert sind. Ich teile meine Einschätzung in dieser Frage mit meinem Liebsten, der neben mir liegt und auch irgendwas liest. Mir ist zu Ohren gekommen, dass das Wort „Schamlippe“ oder „Schambereich“ auch auf der Liste der zu vermeidenden Wörter steht. Der Grund leuchtet mir ein: Für ihre Schamlippen braucht sich keine Frau zu schämen. Tue ich auch nicht. Ich finde es aber nicht so schlimm, dass in dem Wort „Schamlippe“ noch das Wort „Scham“ steckt, weil es mir verrät, dass es Zeiten gab, in denen Handlungen und Themen rund um die Vulvalippen und die Bereiche zwischen den Beinen stark mit Scham verbunden waren. Ich meine, es ist nicht so verkehrt, wenn ein Wort etwas über die kulturelle Geschichte des Bezeichneten sagt. Kaum sage ich es, meint mein Liebster: „Klimawandel ist wichtiger als Schambereich.“ Wir lachen, bis der Kaffee auf dem Herd überläuft.

17.7.21

Dass der Tod in uns wohnt, weiß ich nicht erst seit Corona. Aber da sich alles um Corona dreht, vergesse ich, dass man auch aus anderen Gründen sterben kann. Ein Gespräch mit dem Arzt und alles verändert sich. Ein Mensch, der mir nah ist, kann nicht mehr gesund werden. Es bleibt nicht mehr viel Zeit. Die Zeit, die gerade vergeht, wird wichtig. Unter dem Ahornbaum im Garten fällt es leichter, das zu akzeptieren: Dass es keinen einzigen Moment gibt, der so wichtig ist wie gerade dieser. Während ich tippe, landet ein Buntspecht auf dem Nektarinenbaum und pickt die Ameisen vom Stamm. Er hämmert mit seinem Schnabel gegen den armen Baum, dass ich fast eingreife. Aber ich warte noch ein Weilchen und beobachte ihn. Irgendwann wechselt er zur Akazie, dann höre ich ihn auf dem Nachbargrundstück hämmern. Eine Kohlmeise ärgert sich über mich, weil ich direkt unter dem Baum sitze. Sie schnäbelt unentwegt und hüpft von Ast zu Ast, immer über mir. Zwischendurch schaut sie, was ich tue. Sie kackt mir auf die Oberschenkel, die ich entblößt habe, weil es warm ist. Die Bienen und Hummeln hängen an den Majoranblüten wie Schaukeln. Welche zarte Bewegung.

16.7.21

Kinder und Eltern – das ist ein schwieriges Thema. Nicht nur, dass man Kinder haben kann und Eltern immer hat, man verdoppelt das komplizierte Verhältnis, weil man selbst noch eigene Eltern-Ichs und Kind-Ichs hat. Auch Menschen ohne Kinder sind davon nicht frei. Wenn ich also über mein Kind nachdenke, bin ich zu dritt: mein Eltern-Ich, mein Kind-Ich und ich. Wenn mein Liebster und ich uns streiten über etwas, was unser Kind betrifft, dann sind wir schon zu sechst. Wenn dann noch eine Freundin eingeschaltet ist, sind wir schon neun. Das wird dann unübersichtlich. Da unsere beiden Kinder vermutlich auch eine ähnliche Drittel-Spaltung im Laufe ihres Lebens erfahren, leben wir also zeitweise mit zwölf Leuten zusammen. Leute ist falsch gesagt. Persönlichkeitsanteile ist aber weniger poetisch. Ich habe schon oft gesagt, dass ich niemals in einer WG gelebt habe und leben werde, weil ich keine Lust habe, morgens meine Butter zu suchen und das Geschirr aus dem Wohnzimmer zu räumen. Dabei bleibt es. Aber dass ich bereits mit zwölf Leuten zusammenlebe, erschreckt mich jetzt doch.

15.7.21

Wenn man Kinder hat, wird man sehr oft mit sich selbst konfrontiert. Man sieht sich ständig im Spiegel. Das macht Eltern unter Umständen sehr empfindlich. Ich hatte oft das Gefühl, man kritisiert mich, wenn man das Verhalten meines Kindes kritisierte. Die Unterscheidung von Verhalten und Person hilft, aber in Gefühlsfragen sind analytische Unterscheidungen oft ein stumpfes Messer.

14.7.21

„Die Reihenfolge stimmt gar nicht!“, meint mein Liebster.

Manchmal denke ich mir etwas aus, manchmal entspricht es der Realität. Mit anderen Worten: Ich habe durchaus ein poetologisches Konzept. Ich dokumentiere nicht. Ich beschreibe meine Wirklichkeit. Das Datum ist die Überschrift, nicht der strenge Zeitgeber. Mich interessieren keine bloßen Daten, mich interessiert, was uns berührt. Letztlich muss ich beschreiben, was mich berührt. Indem ich es beschreibe, wird es zum Material. Es gehört dann nicht mehr nur der Realität. Es darf dann bearbeitet werden. Es wird dann bearbeitet. In einer Bewerbungsveranstaltung zu einer Professur, die ich dann (Gott-sei-es-gedankt) nicht bekommen habe (es wäre in der Provinz gewesen und die hätte mich unglücklich gemacht, die Professur auch), hat man mich nach meinem Poetik- und Ästhetik-Verständnis gefragt. Wenn es eine echte Frage gewesen wäre, hätte ich etwas dazu sagen können. Aber ich wusste, es war eine Abfrage-Frage. Jemand wollte wissen, was ich gelesen habe. Ich habe viel gelesen, aber das zu referieren, wäre das eine interessante Antwort? Vielleicht habe ich auch Unrecht und man wollte wirklich wissen, was ich dachte. Dann geschieht es mir recht, dass ich die Professur nicht bekam. Ich wollte sie nur kurz. So wie eine Art Bonbon im Glas.

Was man will und nicht will, verändert sich ja im Leben. Manchmal so, dass man sich nicht wiedererkennt. Früher mochte ich Brause sehr. Ich kaufte mir oft Brausepulver oder Brausewürfel. Es gab, als ich Kind war, kleine Brauseblöcke. Ich glaube, es gibt sie nicht mehr. Sie waren nicht schmal, wie die heute, sondern eher quadratisch. Nicht ganz quadratisch. Ich weiß selbstverständlich, dass etwas nicht ein wenig quadratisch sein kann. Aber die Form war eben nur fast quadratisch und in eine Richtung etwas länger. Das war die Brause, die ich kaufte und leckte. Am liebsten Orange, dann grün, dann rot. Gelb schied aus. Eigentlich war der Brausenblock zum Auflösen gedacht. Aber alle Kinder leckten sie. Wahrscheinlich holte man sie deshalb vom Markt, weil es massenweise kaputte Zungen gab. Man schmeckte tagelang nichts mehr und die Zunge tat weh.

13.7.21

Alles, alles wird unbedeutend von dem Ärger, wenn man jemanden zu verlieren droht. Wenn jemand stirbt oder krank ist. Es ist plötzlich gar nicht mehr wichtig, dass ich ermahnt werde, der Verordnung nachzukommen, die besagt, dass Kinder im vollbesetzten Klassenraum am Platz ihre Masken ausziehen dürfen. Damit beschäftigt sich eine Behörde in Wiesbaden gerade: Mich zu ermahnen. Wir haben kein WLAN, keine HDMI-Kabel für die Beamer, kein Videokonferenztool, nicht ausreichend Computer, kein ausreichend großes Gebäude für unsere Kinder, die Lüftung ist unzureichend, es gibt nicht genug Lehrer, viele Kinder sind unter Corona krank geworden, wir wissen kaum, wie wir die Kartons entsorgen sollen, die jedes Jahr im Sommer ins Haus schwemmen, weil wir Materialien bestellen und auspacken, die Ansteckungszahlen steigen wieder – aber ich werde ermahnt und mehrfach aufgefordert, die Kinder zu ermuntern, die Masken abzunehmen am Platz.

Eine Beamtin äußert sich als Beamtin nicht zu den Maßnahmen ihres Dienstherrn. Man kann mit einer mündlichen oder schriftlichen Abmahnung rechnen. Kommt in die Akte.

Kaum schreibe ich’s, komme ich zum Beginn des Eintrags. Es ist unbedeutend. Nicht das Geschriebene, nicht der Text, wohl aber die Ermahnung, Abmahnung.

12.7.21

Heute wird es so heiß, so dass wir unter den Masken schwitzen. Ich plage mich am Ende des Schuljahrs nicht nur mit Eltern, die sich nicht nur bei mir, sondern auch bei meinen Chefs und Chefinnen über alles möglich empören, nicht aber darüber, dass wir in der Schule kein WLAN haben oder dass die Polkappen schmelzen, sondern auch mit Kindern, die sich bei mir zum Theaterspielen am Samstag anmelden, dann aber nicht kommen (was denken deren Eltern, was ich am Samstag allein in der Schule mache, während ihre Kinder lieber zuhause bleiben?) und über Kolleginnen und Kollegen, die mit den Nerven runter sind. Am Ende des Schuljahrs sind immer alle mit den Nerven runter. Es gibt verschiedene Möglichkeiten zu reagieren, wenn man genervt und ausgebrannt ist. Man kann sich zurückziehen, man kann verschwitzt sein, man kann jammern, man kann noch mehr nerven, so dass der allgemeine Nervpegel ebenso steigt, man kann abtauchen, man kann alle anderen dafür verantwortlich machen, man kann ganz ruhig werden und auf Autopilot schalten. Es gibt immer ein paar Menschen, die machen die anderen dafür verantwortlich, dass sie so mit den Nerven runter sind. Wie immer ist das ein Teil der Wahrheit. Ich rege mich regelmäßig ja auch über andere auf. Der andere Teil der Wahrheit ist, dass jeder für sich selbst verantwortlich ist, wenn man mal über zwölf ist. Jahre meine ich. Deswegen rege ich mich über andere auf und wenn ich fertig bin mit Aufregen, sage ich mir in einer Art Mantra, dass ich alles so gut mache, wie möglich und es nur die Zeit ist, die hektisch ist. Zwischendurch höre ich den Amseln zu. Um 6:11 Uhr hören nämlich die Spatzen wieder auf zu piepen und nur die Amseln singen. Hätte ich ohne die Leute, die mich nerven und über die ich gerade nachgedacht und geschrieben habe, niemals bemerkt. Danke, Nervensägen.

11.7.21

Italien gegen England. Muss ich verraten, wem mein Herz gilt? Ich bin leicht hysterisch beim Fußballgucken. Ich schreie wie wild herum und kann mich nicht auf dem Sofa halten, hüpfe herum. Ich weiß auch nicht warum, es ist etwas Vegetatives. Deshalb habe ich es mir zur Angewohnheit gemacht, das Spiel auf dem Apparat laufen zu lassen und nebenher etwas zu schreiben. Das geht ganz gut. Wenn ein Tor fällt, sehe ich mir die Wiederholung an. Sonst nerven mich Wiederholungen, besonders die Wiederholungen von den Toren der gegnerischen Mannschaft. Ich empfinde das als Demütigung. Aber wahrscheinlich sind die Wiederholungen gerade für die, die nebenher schreiben. Müssen ziemlich viele sein. Ich dachte immer, dass ich einigermaßen einzigartig bin.

Seit einiger Zeit stehe ich um fünf Uhr morgens auf, um zu schreiben. Entweder an einem Sommertagebuch oder an meiner Novelle oder an einem Aufsatz oder einer Rede. Ich mache das freiwillig. Niemanden kann ich dafür verantwortlich machen. Vielleicht Derk, der mich auf diese Idee gebracht hat. Aber er hat mich nicht gezwungen, das zu tun. Ich habe es ausprobiert und festgestellt, es tut mir und meinen Texten gut. Ich habe außerdem herausgefunden, dass die Amseln nach vier Uhr, aber noch vor fünf Uhr singen. Nur die Amseln, sonst kein Piepmatz. Ab 5 Uhr, eher 5:07 Uhr beginnen die Sperlinge zu plärren, nein, das Verb passt überhaupt nicht zu dem kurzen, schnippischen Ton. Sie schnippen also in einer Eintönigkeit, die mir fast auf den Nerv geht. Gerade so nicht. Dann höre ich Amseln nur noch als Hintergrundgeräusch. Die Mauersegler kommen noch später. Es scheinen keine Frühaufsteher zu sein. Sie schreiben ja auch nicht. Ihren Ruf mag ich und habe ihn schon oft aufgenommen. Er erinnert mich so sehr an Sommer, er ist der Sommer. Früh aufstehen, die Amseln und die Spatzen hören, die Mauersegler und das Geplätscher der Vögel in dem Unterteil des Playmobil-Piratenschiffs, das wir im Garten als Vogelschwimmbad nutzen – das ist Sommer.

10.7.21

Ich stelle mir vor, dass ich ein Tier im Regenwald wäre. Es tropft von den Blättern. Es tupft: ein helles, leichtes Geräusch fallender Tropfen. Ich sitze unter einem großen Blatt, die es nur im Regenwald gibt und höre dem Wasser zu, das von der Baumkrone bis zum Boden 1000 Geschichten erzählt. Wahlweise hilft auch unter dem Ahorn in Frankfurt sitzen.

9.7.21

Regen, Sonne, Regen. Auf dem Fahrrad ist es ungemütlich, aber frei. Frei von Worten, außer meinen eigenen. Frei von Zeit, außer meiner eigenen. Freiheit ist immer ungemütlich.

8.7.21

Die Johannisbeeren, Himbeeren und Erdbeeren sind abgeerntet. Die letzte Portion geht ins Müsli am Morgen. Ich hebe es mir für Montag auf. Das versorgt mich mit Vitaminen. Ich befinde mich auf einem Spielfeld. Die Regeln des Spiels lauten: werft euch den Ball hin und her und lasst ihn nicht fallen. Normalerweise macht mir das Spaß. Es scheint aber eine neue Regel zu geben: Die Zuschauer dürfen Tomaten werfen. Zwischendurch wird der Rasen umgegraben. Wir weichen also den Löchern aus und fangen den Ball. Bald auch die Tomaten. Wir müssen höher werfen. Über ein Netz, das jetzt gespannt wird. Die Standards werden definiert. Der Ball ist platt und es beginnt zu regnen. Aber wir haben ein tolles Team. Von elf wollen neun weiterspielen, zwei hören auf und sitzen am Rand.

7.7.21

Eine Mitarbeiterin der Stadt sagt mir, wir sollen die Nawisammlung selbst einpacken, das mache jede Schule selbst. Es zieht allerdings nicht jede Schule dreimal um und bekommt jedes Jahr unzählige Materialien, die Lehrerinnen und Lehrer alle selbst aus- und einpacken. Bisher. Weder das Staatliche Schulamt noch die Stadt hat sich je überlegt, wie sie einen Schulneuaufbau logistisch unterstützen können. Denn eine Schule neu aufzubauen bedeutet ja, sechs Jahre lang in einer Ausnahmesituation zu sein. Allein die Frage: Wer macht die Kartonage, also wer zerschneidet die containerweise angelieferten Kartons, ist nicht gelöst. Am Ende macht es ein netter Hausverwalter aus Freundlichkeit und die Lehrkräfte oder die Schulleitung. Irgendwer muss es ja machen. Zwischendurch beschwert sich jemand beim Hessischen Kultusminister, dass man bei uns die Maske im Gebäude anlassen müsse, auch im Klassenzimmer. Wahlweise beschwert sich jemand beim Schulamt, weil ich ihr Kind und nicht ein anderes Kind in der Dependence im Container in Bockenheim unterbringe. Selbstverständlich haben immer alle einen guten Grund und sind in einer ganz besonderen Lage, die eine Beschwerde notwendig machen. Es falle zu viel Unterricht aus (bei uns fällt wenig aus), die Kinder lernten kein Mathe (stimmt, die meisten kommen mit einer 3 oder 4 ins fünfte Schuljahr), die Nachrichten über Änderungen im Stundenplan kommen kurzfristig (stimmt auch, wenn es früher möglich wäre, würde es früher kommen), die Kinder könnten immer noch nicht selbstständig arbeiten (stimmt auch, deshalb lernen sie es ja auch langsam bis zum zehnten Schuljahr). Ich schreibe Stellungnahmen.

Die Beispiele sind harmlos.

Wenn ich Baerbock hieße oder Laschet, müsste ich ganz andere Dinge ertragen. Ich könnte das nicht. Ich tue mir auch schon nicht mehr leid. Mir reicht das, was ich habe.

6.7.21

Ich habe gelesen, dass in Offenbach Schulen schließen und Kinder in Quarantäne gehen. Ich glaube, es ist das kleinere Übel, in der Schule eine Maske zu tragen. Aber ich mag es nicht.

5.7.21

Zwischendurch passieren die wirklich wichtigen Dinge: jemand verliebt sich, wird krank oder stirbt. Man achtet auf ein Schauspiel und bekommt die Geldbörse gestohlen. Zauberei funktioniert zu einem hohen Anteil so: man beobachtet das Tuch und achtet nicht auf die Kugel im Ärmel. Vielleicht könnte man die Dinge anders erkennen, wenn man sich stärker treiben ließe und nicht so konzentriert wäre. Aber das haben wir nicht gelernt.  Vielleicht doch? Wenn ich als Kind in der Schule aus dem Fenster geschaut habe, habe ich Dinge gesehen und geträumt, an die ich mich noch heute erinnere. Sie sind in meinem Kopf. Als ich Kind war, gab es viel Langeweile. Sie lag überall herum.

4.7.21

Zwischendurch geht die Welt unter: Es wird dunkel, der Regen gießt auf die Erde, ich kann nicht mehr arbeiten, nicht mehr lesen, mein Herz rast mit dem Donner, einen Blitz kann ich nicht sehen, vielleicht ist es Hagel, in jedem Fall ist es hartes Wasser, das mit Macht in den Garten rauscht. So laut wie ein Wasserfall. Ich habe vorher wieder die Himbeeren gerettet, die die ich noch aus dem Schälchen essen mag, nochmal Johannisbeeren, nochmal Erdbeeren. Ich stand schon an Wasserfällen. In Kanada, in Norwegen, in Italien. In der Schweiz. Sie alle haben Wasserfälle. Frankfurt hat heute auch einen. Danach gehen mein Liebster und ich spazieren. Es riecht nach Grün und die Luft ist so feucht, dass unsere Haut es auch ist. Im Frankfurter Garten ist ein Konzert. Gegenüber auf dem Wagenplatz zwischen unreifen Brombeeren und dem alten Bahnhofsgelände spielt auch Musik. Am Main wird Salsa getanzt und auf Rollern durch die Luft geflogen. Ganz offensichtlich gehen Weltuntergänge vorüber.

3.7.21

Mich nervt diese Baustelle auf dem Nachbargrundstück. Wenn ich gerade Kaffee trinken möchte, das Fenster geöffnet habe, die Zeitung auf dem Schoß, und den Vögeln lauschen mag, wird gesägt, gebohrt, Musik gehört (idiotische Musik), gequatscht, gehämmert, gehauen, abgestreift, gequietscht, gepresst, geschliffen. Es gibt sehr viele Tuwörter im Deutschen für unangenehme Geräusche. Das Wort „Tuwort“ ist selbstverständlich linguistisch gesehen ein irreführendes Wort. Ich „liebe“ und du „bist“ hat nichts mit „tun“ zu tun. Aber bei Krach stimmt es ja. Da tut jemand Krach machen. Das tun die sicher nur, um mich zu ärgern.

2.7.21

Auf der Straße mischen sich bemaskte und unbemaskte Menschen. Ich fühle mich unwohl auf der Berger Straße ohne Maske. Es sind so viele Menschen unterwegs. Ich gebe es unumwunden zu. Das war einmal anders. Aber jetzt ist es so. Unser Nachbar kommt mir entgegen. Er war saunieren. Ach, das geht wieder? Ohne Maske im Klassenraum sitzen. Ach, das geht wieder? Eine Waffel aus der Hand vor dem Waffelladen essen. Ach, das geht wieder? Alles geht wieder. Auch Sex ohne Maske.

1.7.21

Heute Morgen um kurz vor sieben war ich einen Moment vollkommen glücklich: Ich stand im Nachthemd im Garten und sammelte tiefschwarze, dicke, reife Johannisbeeren, die so köstlich süß-sauer schmecken, dass ich nicht genug davon kriegen kann. Zwischendurch nasche ich von den Walderdbeeren auf der anderen Seite des Gartens, während die Mauersegler bereits über mir kreisen. Die Himbeeren haben mir den Regen übelgenommen. Sie hängen matschig am Strauch. Ich streife sie vom Strauch ab und werde sie später einkochen.

30.6.21

Das Ranglistenverfahren für Lehrerinnen und Lehrer ist eine großartige Sache. Alle Menschen, die Lehrer werden wollen, machen das Referendariat. Allein das ist eine tolle Einrichtung. Nachdem man studiert hat, darf man zwei Jahre in die Lehre gehen an einer Schule. Das ist professionalisierungstheoretisch noch in Ordnung. In dieser Zeit lernt man seinen Unterricht so zu planen, dass man über alles Kontrolle hat. Das ist ein Mythos, aber alle Lehrer lernen es zu glauben. Man lernt in dieser Zeit, dass Schüler sehr unterschiedlich sind und alle eine Lernentwicklung machen können. Das wusste man vorher aus dem Studium auch schon, aber jetzt lernt man, sich für die Schnellen und die Langsamen etwas auszudenken. Außer am Gymnasium. Da lernt man, dass die Langsamen an eine andere Schule gehen müssen. Man lernt im Vollzug der Handlung und analysiert sein Handeln. Das ist wirklich eine wichtige Lernerfahrung. Allerdings wird man dabei beobachtet und bewertet. Die, die einen bewerten, haben in der Regel wenig bis gar keinen Unterricht und sind auch nicht an der selben Schule. Sie bewerten eine Stunde, die sie gesehen haben und in der ein fachliches Problem aufgetaucht sein muss und die Schüler zu einer Lösung gekommen sein sollen. Dass der Lernprozess nicht von einer Stunde abhängt, lernen die Lehrer dabei nicht. Auch nicht, dass das Lernen von den meisten Menschen nicht nach dem Schema: Problem, Zuhören, Lösung entwickeln funktioniert. Durch die permanente Bewertung und die Vorführpraxis haben die meisten Lehrer nach zwei Jahren keine Lust mehr auf kollegiale Besuche und Beratung zum Unterricht. Das ist ein echter Lerneffekt.

Nachdem Lehrer also eine solche Ausbildung durchlebt haben, lassen sie sich mit ihrer Gesamtnote aus dem Studium und dem Referendariat auf die Liste setzen. Wenn eine Schule einen Lehrer oder eine Lehrerin sucht, schickt man als Schulleiterin ein Formular an das Schulamt, dass man eine Deutschlehrerin sucht und bekommt die erste auf der Liste geschickt. Die darf dann „ja“ oder „nein“ sagen. Bei „nein“ bekommt die angehende Beamtin einen Malus. Das wars. So kriegen Lehrer einen Arbeitsplatz. Theoretisch spielt es keine Rolle, ob die Schule ein Profil hat, ob man in das Team passt, ob man etwas Besonders gut kann, was in der Schule noch gefragt ist. Wenn man das alles berücksichtigen will, darf eine Schule eine Stelle ausschreiben. Aber nur, wenn vorher die Rangliste abgefragt wurde und niemand Geeignetes drauf war.

Die Rangliste geht nach Abschlussnoten. Die Menschen, mit den besten Noten, stehen ganz vorne auf der Liste, die anderen dahinter. Dieses Notenkriterium passt toll zum Referendariat, in dem man Erfahrungen machen soll und gleichzeitig Bestnoten kriegen sollte. Das nennt man wohl Double Bind: Ambivalente Erwartungen und man kann nicht raus aus der Situation. Die Orientierung an Noten nennt man „Bestenauslese“.

In der Realität liegen die Dinge selbstverständlich oft anders. Schulen suchen nicht nur eine Deutschlehrerin, sondern sie suchen eine Deutschlehrerin, die zu dieser Schule passt und die an diese Schule will, damit sie nicht nach einem Jahr wieder weg ist, weil sie lieber woanders arbeiten möchte. Deshalb stellt man sich in der Regel an den Schulen vor, bevor man „von der Rangliste gezogen“ wird und entscheidet sich dann. In der Realität ist es so, dass Bewerber oder Bewerberinnen und die Schule sich kennen lernen und dann möchten beide entscheiden, ob sie zusammenarbeiten. Dabei sind Noten ziemlich unwichtig. Deshalb kommt es sehr oft vor, dass eine Schulleiterin jemanden möchte, der auf der Rangliste weiter hinten ist, auf dem dritten oder fünften Platz. Wenn die Bewerberin das auch will, ist das schön, aber belanglos. Denn nach der Rangliste muss man den Ersten oder die Erste nehmen. Ich finde allein die Sprache dieses Verfahrens großartig. Sie riecht nach glorreicher Vergangenheit und Kontrolle. Habe ich bereits gesagt, dass das ein Mythos ist?

Die ist ein literarischer Text. Ich, die Schriftstellerin schreibe, was mir gerade in den Sinn kommt. Ich habe eine Idee, aber keine Absicht. Die Interpretation liegt immer beim Leser und der Leserin. Ich finde dieses Ranglistenverfahren passt zu Corona.

29.6.21

Es gab auch Dinge an meinem universitären Leben, die ich gehasst habe. Ich kann mittlerweile daran denken, ohne dass mir schlecht wird. Die Eitelkeit meiner Freunde, die die Bedeutung ihrer Arbeit daran maßen, wer über ihre Texte sprach; die Runden in den Pausen irgendwelcher Tagungen, in die man sich quetschen musste, wenn man dabei sein wollte; die ständige Frage: Hast du das gelesen? Die Notwendigkeit, das, was man bereits geschrieben oder gesagt hat, nochmal zu schreiben und sagen; die Reduzierung auf ein bestimmtes Fachgebiet oder Thema; die machtvolle Definition dessen, was Wissenschaft ausmachen soll, dabei war es die machtvolle Definition der eigenen Position; die peinliche Frage, ob man nicht eine Vertretungsprofessur für ein halbes Jahr annehmen wolle, um vielleicht danach, eventuell, mal sehen, sich auf eine Professur dort bewerben zu können; die aufwendigen Bewerbungsverfahren, auf denen man mitunter beleidigende Fragen beantworten musste („Was ist für Sie Ästhetik?“), so als wäre es eine Prüfung und nicht eine Begegnung von Menschen, die sich das Wasser reichen können; die Stapel von Examensklausuren auf meinem Schreibtisch (80x psychoanalytische Literaturinterpretationen a zwanzig Seiten); die Planung eines Jahres, bei der jeder Monat eine andere langweilige Aufgabe für mich bereithielt: mündliche Prüfungen, schriftliche Prüfungen, Text zum Lesen für Zeitschrift a schreiben, Text zum Lesen für Zeitschrift b schreiben,  Gutachten fertig machen; das ganze hinterhältige Gerede über Leute, die nicht anwesend sind; die kaltschnäuzige Überheblichkeit derer, die bereits professoral im Sessel saßen und plötzlich vergaßen, dass Erkenntnis und Wahrheit keine Posten kennt.

Das alles und noch viel mehr, habe ich gehasst. Deshalb bin ich die Universität geflohen.

Vielleicht habe ich doch noch kein ganz ausgeglichenes Verhältnis zu einer meiner Vergangenheiten. Allerdings: Ich könnte einen mindestens ebenso langen Text darüber schreiben, was ich an der Universität geliebt habe. Mache ich aber nicht.

28.6.21

Als ich an meinen Doktorvater dachte, fiel mir wieder ein, wie schüchtern ich sein kann. Geradezu linkisch. Wenn ich nicht genau weiß, wie die Spielregeln gehen, dann taste ich mich langsam vor. Ich bin eher nicht der Elefant im Porzellanladen. Das bin ich nur, wenn ich denke, ich kenne die Spielregeln. Selbstverständlich habe ich mich auch schon ziemlich vertan.

An der Universität gab es viele Dinge, die mir viel Freude, ja richtig Spaß gemacht haben.  Ich mochte Forschungskolloquien. Seminare konnten inspirierend sein. Ich konnte länger schlafen. Ging allerdings auch später ins Bett. Ein Buch zu schreiben, war aufregend. Und ernüchternd, weil es meist gar nichts an den Umständen veränderte, die ich kritisierte. Ich hatte einige Kollegen, die ich sehr mochte. Allerdings waren die meisten kollegialen Freundschaften nicht von Dauer.

In meinem Leben an der Universität waren mir viele Dinge wichtig, die mir jetzt nicht mehr wichtig sind: Bekanntheit, Renommee, fachliche Autorität, Expertise. Aber es gibt auch Dinge, die ich vermisse. Ist es das, was man „auf den Tod vorbereiten“ nennen könnte? Wenn man ausgeglichen über sein Leben nachdenkt und findet, es war gut so, auch wenn es nicht immer toll war? Bisher dachte ich anders darüber. Ich dachte, dass ich eine Katze bin und drei Leben habe. Eigentlich vier:

Eines als Kind auf dem Land, eines als Grundschullehrerin, eines als Wissenschaftlerin, eines als Schulgründerin. Der rote Faden, an dem ich hänge, ist die Literatur. Das zieht sich durch. Draußen blüht das Johanniskraut. Das hilft auch.

27.6.21

Ich sitze im Bett und schaue auf den Garten. Ein junger Buntspecht klettert an der Zierkirsche empor. Was gibt es da zu klopfen? Die Zierkirsche steht im vollen Saft.

Mein Doktorvater ist im Frühjahr gestorben. Ich hatte keinen Kontakt mehr zu ihm. Gleichwohl bin ich betroffen. Wenn man jemanden nicht mehr sieht, konserviert sich das Bild im Kopf. Dann bleibt es einfach so, wie es war, auch wenn es längst anders ist. Ich erinnere mich, wie wir in der Georg-Voigt-Straße in seinem wunderschönen bürgerlichen Büro in dem Altbau der Universität saßen. Im EG war die Bibliothek, in der ich arbeitete, und oben drüber sein Büro. Die Sonne schien von rechts durch das große Fenster. Er wollte oft wissen, was ich dazu dachte oder dazu, aber meistens hatte ich gar keine dezidierte Meinung zu irgendwas. Und wenn doch, kam sie mir banal vor. Er hielt mich für klug und das war meine Rettung, weil ich endlich richtig zu studieren begann und Bücher las und forschte. Ich glaubte lange, dass man es mir an der Nasenspitze ansähe, dass ich nicht aus einem hochgebildeten und schon gar nicht aus einem akademischen Hause war. Ich bin ihm dankbar dafür, dass ihm das egal war, wenn er es mir angesehen hat.

26.6.21

Das Haus auf den Nachbargrundstück nimmt langsam Gestalt an. Bis zum ersten Stock ist hochgebaut. Die Pflanzen im Garten genießen das unverhoffte und ungewohnte Sonnenjahr. Bis zum letzten Stück wird jetzt alles mit Sonnenstrahlen ausgeleuchtet. Das ist schön. Mir gefiel auch die Mauer, die vorher das Nachbargrundstück von dem unseren trennte. Sie war weiß und ziemlich eingewachsen und wir konnten unsere Hängematte, in der ich an besonders heißen Tagen am Nachmittag lag, daran befestigen. Aber die Sicht auf das andere Grundstück gefällt mir auch und die Bohnen wachsen in diesem Jahr an einer Stelle, die im nächsten sicher nicht mehr mit Sonnenstrahlen verwöhnt wird. Manche Dinge sind besonders schön, weil man sie nur kurz genießt. Meine Erbensernte fällt dieses Jahr besser aus als letztes, aber es reicht gleichwohl nur für eine halbe Portion. Ich werde jede einzelne auf der Zunge zergehen lassen!

25.6.21

Ab heute besteht keine Gefahr mehr in der Schule, sich anzustecken oder jemanden anzustecken. Das Maskengebot fällt. Wir dürfen in engen Räumen die Masken abziehen und wieder ungeschützt miteinander sprechen, diskutieren und arbeiten. Ich weiß nicht, wer das Kultusministerium beraten hat, aber sicher war es kein Experte. Bis zu den Sommerferien wären alle ganz gut mit der bisherigen Regelung klargekommen. Variante Delta? Noch nie gehört!

24.6.21

Ich denke darüber nach, wie man sich vorbereiten kann. Sich mit sich selbst beschäftigen. Zur Ruhe kommen. Ich war immer der Meinung, man kann sich nicht vorbereiten, aber die Vorstellung, man könnte sich darauf vorbereiten, hat etwas Beruhigendes.

23.6.21

Vincente und ich unterhalten uns über den Tod. Vincente sagt oft Sätze, die ich mir behalten kann. Die ich mir behalten möchte. Diesmal sagt er, er bereite sich ab 60 auf den Tod vor. Ich bin erstaunt. Er erklärt mir, dass er sicher über neunzig werden würde, aber sich mit Zeit und Ruhe wie eine Katze auf den Tod vorbereiten wolle. Ganz langsam. Noch nie habe ich darüber nachgedacht. Aber „wie eine Katze“ leuchtet mir ein. Auch dass man sich langsam an den Gedanken gewöhnen will. Unsere Kaninchen sind sehr plötzlich gestorben. Sie waren schon lange krank, aber ich fürchte, sie waren gleichwohl nicht darauf vorbereitet. Dobby, der graue schrie, bevor er starb und Pig biss Tom in den Arm. Ich hätte beiden einen ganz friedlichen Tod gewünscht, wie jeder Kreatur. Es lag bald ein Jahr zwischen den beiden Todeszeitpunkten und gleichwohl war es beim zweiten Mal nicht weniger abrupt und plötzlich. Wir hielten beide im Arm, dafür bin ich dankbar. Ich bin froh, dass sie nicht allein im Käfig in der Nacht gestorben waren. In den Monaten vor ihrem Tod konnten beide nicht mehr laufen oder gar springen, sie hatten wohl die gleiche Erkrankung und zeigten immer größere Lähmungserscheinungen. Wir hielten sie also im Arm, es beruhigte sie ganz offensichtlich, aber die allerletzte Regung, die sie taten, war nicht friedlich, sondern erschien mir verzweifelt. Vielleicht ist es auch eine bloße Nervenregung und das Tier war schon hinüber, aber es tat mir dennoch leid, dass es nicht so aussah, dass sie einfach einschliefen. Wahrscheinlich gibt es auch bei Kaninchen einen friedlichen Tod, aber das waren nunmal die Fälle, denen ich beiwohnte und sie machten mich traurig. Ich war auch traurig, weil ich sie liebgewonnen hatte und sie zu meinem Leben gehörten. Sie waren unfreiwillig witzig.

22.6.21

Die Hitze hat nachgelassen. Ich arbeite in einem sehr schönen Holzgebäude, in dem es bei Außentemperaturen von 30 Grad ab zehn Uhr am Morgen auch unmittelbar und ohne Karenzzeit 30 Grad hat. Alle Versuche, den drei Ämtern, mit denen wir zu tun haben und die dafür Verantwortung tragen, dass wir gut arbeiten können und gesund bleiben, begreiflich zu machen, dass wir keine acht Stunden in einem Gebäude lernen, arbeiten und spielen können, das so aufgeheizt ist, führen ins Leere. Jeder zuckt mit den Schultern. Der Architekt sagt: „Bei 30 Grad ist es überall heiß, aber die lila Farbe ist doch toll und passt zu Ihrem Konzept, oder?“ Der Zuständige vom Amt für Immobilien sagt: „Kühlungssysteme baut die Stadt Frankfurt nicht ein und eigentlich war das Gebäude ja nur ein Provisorium.“ Das Staatliche Schulamt sagt das, was es immer sagt: „Wir sind nicht zuständig, aber füllen Sie bitte bis sofort die Liste richtig aus, wieviel Kinder bei Ihnen wegen Hitzeschlag abgemeldet werden.“ Das Stadtschulamt sagt: „Dafür ist das andere Amt zuständig, aber wir können Ihnen zwei Ventilatoren finanzieren, wenn Sie uns den Antrag dazu schreiben.“

Das Holzgebäude wird die nächsten dreißig Jahre dort stehen, wo der Stieglitz und der Falke sich „Guten Morgen“ sagen. Es ist ein schönes Gebäude und mein Weg dorthin ist ebenso schön.

21.6.2021

Wahrscheinlich könnte man eine Persönlichkeitscharakterisierung anhand von Filmen, die einem gefallen haben, erstellen. Dass darauf noch kein Psychologe gekommen ist. Eine Film-Persönlichkeitsanalyse. Ich bin der Meinung, man kann mit niemandem befreundet sein, der nicht einen ähnlichen Filmgeschmack hat. Das ist ein guter Partnerschaftstest. Es gibt selbstverständlich Graubereiche. Bei meinem allerersten Date mit meinem jetzigen Mann stritten wir über Pulp Fiction. Für mich war es einer der langweiligsten Filme, die ich je gesehen hatte. Ich hatte die Vorführung mit einem Freund lange vor dem Ende verlassen. Er war erstaunt bis entsetzt darüber, weil er schon lange nicht mehr einen so guten Film gesehen hatte: witzig, ironisch, bissig, kritisch. Zu dieser Einschätzung wäre ich niemals gekommen. Ich fand ihn fad, abgedroschen und roh. Die Ironie war mir zu plump. Da saßen wir also, es stand schließlich unsere Familiengründung auf dem Spiel. Er verriet mir später, dass sein bester Freund ihm von mir abgeraten hatte. Von einer Frau, die diesen Film nicht gut findet, muss man die Hände lassen. Er entschied sich anders und verlor seinen Freund. Ich hatte gewonnen, womit kann ich mir immer noch nicht so recht erklären, aber vielleicht ist der Geruch doch stärker als der Filmgeschmack und deshalb hat auch noch kein Psychologe die Persönlichkeits-Filmgeschmack-Analyse entdeckt.

20.6.2021

Ich habe über Jody Forster nachgedacht. Ich finde, sie ist eine hervorragende Schauspielerin, auch wenn ich nicht alle Filme mag, in denen sie mitgespielt hat. Sie hat auch Regie geführt, aber dazu kann ich wenig sagen, weil ich die meisten dieser Filme nicht kenne. Einen schon: Da hampelt ein idiotischer Showmaster über die Bühne und es geht um Geld. Nicht schlecht, aber nicht besonders beeindruckend. Einige der Filme, in denen sie mitgespielt hat, habe ich gesehen, angefangen bei Bonanza bis Panic Room. Danach gab es noch ein paar, von denen ich auch denen einen oder anderen kenne. Ich stehe eigentlich mehr auf französische oder italienische Filme, Filme, in denen intelligentes Zeug oder komisches Zeug gesprochen wird und nicht alle Frauen Lippenstift tragen. Ich bin also eher der Woody Allen-Typ, Anderson Filme mag ich auch. Gleichwohl hat mich Panic Room mitgenommen und Jody Forster hat mich beeindruckt. Besonders der Sprung hinter die bewegliche Wand, als die schrecklich bösen Typen hinter ihr her sind und sie sich und den Jungen rettet. Im Traum gelingt mir das nie, ich wache auf, kurz bevor mich die Verfolger erwischen, aber ich WEIß, dass sie mich erwischt hätten. Jody Forster hat sich sehr deutlich dagegen verwehrt, dass ihr Privatleben ein öffentliches Gut ist. Ich unterstütze das. Nicht alles, was man privat oder halb privat auf einer Party, wenn denn mal wieder eine stattfindet, von sich gibt, ist ein öffentliches Statement. Ich meine auch nicht, dass man sich mit irgendwas outen muss, wenn man nicht will. Andererseits steht man selbstverständlich für alles ein, was man sagt und tut. Parties finden momentan doch schon einige statt. Die Bergerstraße ist voll, der Günthersburgpark auch. Eigentlich so wie vor Corona. Nachdem ich noch bis neun Uhr abends im Günthersburgpark auf einer Decke saß, regnet es. Wie vor Corona. Und in Corona. Und nach Corona.

19.6.2021

Die Rosen werden geschnitten: die verblühten Spitzen müssen ab. Der Rest ist noch sehr schön und sie seufzen zufrieden. Der Majoran und die Zitronenmelisse ersticken alles, was bis zur Kniehöhe wächst. Die Walderdbeeren jammern und machen sich klein. Ich schimpfe mit den wilden Kerlen und sie versprechen, sich zu bessern. Am Nachmittag schneide ich sie etwas runter.

18.6.2021

Heiß, heiß, heiß. Aber mir kommt die Hitze eigentlich entgegen. Ich durchschreite sie schwitzend und verklebt. Aber auch das stört mich nicht besonders. Im Rock und Hemd trockne ich schnell. Besonders schön sind die Fahrten mit meinem kleinen Elektroroller über den weichen Asphalt am Abend, wenn ich den Riedberg verlasse und wieder in die Stadt brause. Ich komme mir vor wie Karla Kolumna. Die hat auch eine rote Vespa. Fest in mein Gehörgehirn eingebrannt ist das „Törööö“ von Benjamin Blümchen, der mit Hilfe von Karla Kolumna viele Probleme löst. Irgendwo eine Katze vom Baum holen oder vom Kirchturm und andere schwierige Aufgaben. Was Drei- bis Fünfjährige so bewegt. Es ist schon eine Weile her, dass meine Kinder das hörten und ich mithörte. Aber ich höre das Tröten dieser nachgemachten Elefantenstimme von der Kassette und dann der CD noch immer. Überhaupt, Stimmen im Kopf. Ich höre die Stimme meiner Großeltern, die Stimme meines Vaters, das Lachen meines Stiefvaters, die Worte von Günther. Alles noch da drin. Ich sehe sie nicht mehr so deutlich, aber ich kann sie alle noch hören.

17.6.21

Mein Spanisch ist auf den Hund gekommen: „se ha ido al garete“ oder „se ha ido al perro“? Auf meine Sprachkenntnisse habe ich mir noch nie etwas eingebildet. Ich bin einfach zu schüchtern. Mittlerweile verfüge ich über ein tolles Übersetzungsprogramm und prüfe manchmal, ob ich es wüsste. Das macht mir Freude. Damit vertreibe ich mir meine Zeit. Auch. Damit. Und mit Arbeit am Wort. Jeden Tag. Im Gedanken jede Stunde. Das ist mein Elexier. Tolles Wort.

„La lengua es mi elixir“. Geht doch. Zu Beginn meiner Spanisch-Lektionen hatten sie noch so wunderbare Sätze wie „Der Soldat hat eine Bombe“ oder „Die Soldaten kommen in der Nacht in die Stadt“: „El soldado tiene una bomba“ und „Los soldados llegan a la ciudad por la noche“. Hätte ich auch ohne das Programm gewusst. Ist also kein Verlust.

16.6.21

Der zweite Pieks im linken Arm. Um zehn nach sieben ist es geschafft. Es ist wie schwanger sein: Ich weiß, dass vor mir bereits Millionen Menschen schwanger waren, aber ich komme mir sehr einmalig und bedeutsam vor.

Ich stand früh auf, um fünf, wie immer. Ich zog mich an, duschen brauchte ich heute nicht, nur Haare waschen. Mit feuchten Haaren verließ ich das Haus. Diesmal ohne Fahrrad, weil ich die Bahnfahrt zum Träumen und für Italienisch nutzen wollte. Ich war die dritte in der Reihe vor dem Messezentrum. Das Haus wurde um zehn vor sieben aufgeschlossen und um 7:05 Uhr war ich geimpft. Die junge Frau, die mir eine Dosis Biontech verpasste, traf einen Nerv oder wer weiß was nicht. Mir fuhr die Spritze jedenfalls in den Arm wie ein Blitz. Ich betrachtete derweil die wunderschöne Festhallendecke. Danach übte ich Sätze wie „Mio fidanzato non e molto forte“ oder „Prima lavoriamo altrimenti non c’è niente da mangiare“. Ich dachte den ganzen Tag nicht mehr an das Virus.  Ich sehe die Masken und verhalte mich nach den Regeln, aber ich habe den Sinn dahinter vergessen. Es ist zur Gewohnheit geworden.

Ab zehn Uhr ist es in den Klassen und in meinem Büro annähernd dreißig Grad. Das Gebäude ist nicht groß genug, damit alle einen kühleren Platz aufsuchen können, also: Hitzefrei. Im leeren Haus können die Erwachsenen die Maske abnehmen und schwitzen weiter vor sich hin, bis keine Gedanken mehr in uns sind. Das ist ein schöner Zustand.

15.6.21

Mein Humor ähnelt mitunter dem der Fünftklässler. Sie spielen Theater und möchten etwas vorführen. In der Mensa gibt es genug Platz. Ich muss wirklich lachen, als die Kinder einen Sketch nach dem anderen bringen. Alles mit Maske selbstverständlich. Meist enden die kurzen Theaterstücke nach dem Vorbild von Martin Auers Balaban Geschichten in einem wilden Getümmel von hinfallenden Kindern. Spätestens da lachen alle. Kinderhumor. Das macht mir gute Laune.

Am Abend tun mir neuerdings die Knie etwas weh. Es ist das Alter. Mit einer warmen Decke ist es gut. Probates Mittel.

14.6.21

Ein Montag. Er kommt und hat eine wahnsinnige Präsenz. Ich versuche Einsteins Relativitätstheorie zu verstehen. Durchschnittliche Sechstklässler wollen wissen, ob Zeitreisen möglich sind. Ich versuche ihnen einen Begriff von Masse, Zeit und Geschwindigkeit zu geben. Das wäre ein Anfang. Aber irgendwie sitzt mir dieser Montag im Nacken und vergeht schneller als ich dachte.

13.6.21

Jetzt ist es Sommer. Die Glockenblumen blühen und sind so schwer, dass sie in alle Richtungen gakseln. Die Rosen leuchten rot und drall. Der Rasen schon wieder lang. Marienkäfer und Läuse bieten sich ein Kopf an Kopf-Rennen. Dazwischen Meister Ameise kräftig am Melken. Wir haben Gäste auf der Terrasse und sitzen bis tief in die Nacht, trinken Wein und Wasser und debattieren über die zukünftige Bundeskanzlerin. Wird sie es, wird sie es nicht? Wir wissen es nicht, wir sind nicht aus der Gilde der Wahrsager.

12.6.21

Keine Maskenpflicht mehr im Außenbereich in Frankfurt. Ich fühle mich nackt. Hurra-Schreie über den Garten. Es hat jemand ein Tor geschossen. Vor laufenden Kameras bricht jemand auf dem Spielfeld zusammen.

11.6.21

Ein Dreizehnjähriger aus akademischen Haushalt rotzt auf ein Sitzkissen im Flur unserer Schule. Die Flure der Schule sind lichtdurchflutet und behängt mit Arbeitsergebnissen aus dem Unterricht. Man kommt an Büchern in weißen Regalen vorbei. Wir haben Melonen, Bananen und Pfirsich-Säcke. Manche sind auch einfach nur apfelgrün. Auch die Klassen sind schön eingerichtet: bunt und abwechslungsreich. Es gibt überall interessante Bücher, Materialien, Spiele. Ein Tisch wird beschmiert, ein Plakat zerrissen. Es gibt selbstverständlich viele Gründe auf ein Gebäude oder auf Erwachsene, die den Tag über die meisten wichtigen Dinge (wo man isst, wann man isst und trinkt, wann man auf Toilette darf, mit wem man sprechen darf) bestimmen, wütend zu sein. Das weiß ich. Aber muss man deshalb im Ellesse-Jogginganzug, wahlweise in Hotpants und Bustier Wörter wie Waffen benutzen und Dinge, die eigens dafür gekauft sind, dass man sich wohlfühlt, beschädigen? Für diese Woche ist mein Verständnis aufgebraucht.

10.6.21

 „Du Flachland“, „Hurensohn“, „Halt die Fresse“, „Nagelbett“, „Du Schwuchtel“, „Fick dich“, „Verpiss dich“, „Ich geh‘ pissen“. „Warum duzen Sie mich?“ „Sie haben mir gar nichts zu sagen!“ Wenn noch einmal jemand behauptet, Lehrer hätten einen leichten Job, haue ich ihm in die Fresse.

9.6.21

Kein Brot mehr im Brotkasten. Das sind Sorgen! Heute ist das Internet im Erweiterungsgebäude wieder hergestellt worden! Wir haben es vermisst.

8.6.21

Es gibt Ereignisse, die machen wir Sorgen. Es sind ganz unterschiedliche Dinge. Gewohnheitsmäßig mache ich mir über das Klima Gedanken. Das schon sehr lange, ich bin ein 80er Jahre Kind. Da wuchs man auf mit Endzeitvorstellungen. Mit 16 Jahren waren wir alle davon überzeugt, dass wir entweder zu einer Maschine würden oder unter der Klimaveränderung sterben würden. Oder an Plastik. Ähnlich ist es ja auch gekommen. Ich will nicht sagen, dass wir es immer gewusst haben. Aber es gab gute Gründe, bereits in den 80er Jahren misstrauisch in die Zukunft der Menschheitsgeschichte zu schauen. Leider ist diese verbunden mit der Geschichte von Eisbären, Koalas und Tigern. Zahlreiche Pflanzenarten sind auch mit der weiteren Entwicklung der Menschheit verknüpft. Es gibt Orchideen, die werden von einer einzigen Fliege befruchtet. Fliege weg, Orchidee weg. Die Sorge um die Orchidee ist gewissermaßen immer da, im Hintergrund, im Kopf, irgendwo in der Verschaltung. Ab und zu ist es sehr präsent, dann wieder weniger. Insgesamt versuche ich keine Orchideen zu schädigen, aber allein durch mein normales Verhalten wird der Versuch wahrscheinlich konterariert. Wenn ich Nudeln kaufe oder Kaffee und nicht besonders darauf achte, habe ich sicher wieder dazu beigetragen, dass der Lebensraum der Orang-Utas vernichtet wird. Zwischendurch achte ich dann sehr darauf. Außerdem äußere ich meine politische Meinung, weil ich davon überzeugt bin, dass ich und mein Konsumverhalten nicht die Welt retten können. In Sachen Gerechtigkeit, Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit muss die Politik ran. Es ist eine Art Bürgerpflicht, sich gut zu informieren und differenziert zu argumentieren, auch wenn es schwerfällt und anstrengend ist. Dicke Bücher und Vorträge helfen da. Leider gibt es nicht für alle Sorgen ein ausreichendes Angebot. Das Oberlicht in unserem Küchenschrank ist ausgefallen und niemand weiß, woran es liegt. Mit „niemand“ meine ich alle Menschen in unserem Haushalt. Vielleicht ist der Begriff „Sorge“ hier auch unangemessen. Sorgen mache ich mir nicht um die Beleuchtung. Es ist eher die Sorge, wie wir das wieder zum Leuchten bringen. Außerdem sind alle meine blauen Socken weg. Ich verstehe das nicht.

7.6.21

Halleluja! Wieder eine Liste zum Ausfüllen! Diesmal darf ich Auskunft geben darüber, ob der Unterricht nach Stufe 2 ordnungsgemäß begonnen hat. Mach ich doch gerne, mal kurz ein paar Zahlen eintragen, „ja“, „nein“ irgendwas, zwischen Kindern, die mich etwas fragen, Unterricht, Eltern, die anrufen, einer Sitzung, die sich „Inklusives Schulbündnis“ nennt und dem Besuch des Neubaus und einer anschließenden Sitzung zur Schulentwicklung.

6.6.21

Gestern Kamtschatka, heute die westliche Küste von Island. Ich reise auf google earth. Heute beschäftige ich mich lesend mit Eiderenten und Eiderdaunen. Zwischendurch frage ich meinen Sohn ab: Anapher, Metapher, Pleonasmus, Klimax, Personifikation…

Diese Begriffe sind nicht wichtig. Der Klang der Sprache, die sprachliche Gestalt, die Aussage ist wichtig. Du musst die Schönheit der Worte, des Textes entdecken. Einen Tag vor der Prüfung brauche ich nicht kommen mit dem eigentlichen Bildungsgehalt. Hauptsache die Begriffe fallen richtig. Als ich mir die Prüfungsfragen ansehe, bin ich darüber erstaunt, mit welcher Eindeutigkeit dort eine Antwort zur Lyrik erwartet wird. Zum Ankreuzen. Ein ziemlicher Unsinn. Es gäbe zu den meisten Versen so einiges zu sagen und mindestens zwei Begriffe passen bei genauer Betrachtung. Ich widme mich lieber wieder den Eiderenten, über die es was zu erzählen gibt.

5.6.21

Zeit zum Staubsaugen.

Ein neues Buch begonnen und mich verloren: An das Wilde glauben. Ich kann nicht mehr aufhören. Mathias reißt mich los, fesselt mir die Arme, schleift mich zum Auto. Wir haben einen Termin auf dem Land. Im Auto machen wir einen Spuktest. Man spukt mit kehligem Laut in eine kleine weiße Tüte wie vom Spielzeug-Kaufladen. Dann fingert man eine Art Pipette aus Plastik aus der Packung, zieht die Spucke ein und drückt sie in das Röhrchen mit Pufferlösung. Einmal schütteln und zwei kleine Tropfen werden auf den Teststreifen balanciert. 15 Minuten später wissen wir, dass wir negativ sind. Wir können unbesorgt mit meiner Mutter Erdbeerkuchen essen. Der Waldmeister unter Buchen hat auch auf uns gewartet und wir laufen wieder vor dem Gewitter davon. Ich wundere mich über diesen Juni. Jeden Tag Gewitter. Die Pfingstrosen heben ihre schweren Köpfe nicht mehr und der Dill ertrinkt. Am Abend darf ich endlich weiterlesen. Leider komme ich noch am selben Abend zum Ende. Bis tief in die Nacht hinein schaue ich mir Bilder und Videos über Kamtschatka an.

4.6.21

Eigentlich wollten wir heute mit den Inlinern fahren. Eigentlich sollte es dann aber um 13 Uhr gewittern. Eigentlich fand ich das ziemlich blöd. Und eigentlich hatten wir dann zu zweit zu Fuß einen echt schönen Nachmittag zwischen Niederursel und Steinbach auf der Suche nach einer Natur, die sich selbst überlassen wird und nicht mehr intensiv genutzt wird. Ich zog meine Sommer-Sand-Strand-Sandalen an, die mich automatisch und sofort, wenn ich sie an die Füße schnalle, mental (wie man seit Boris Becker sagt) in den Urlaub katapultieren. Wir katapultierten uns also mit der U-Bahn nach Niederursel ins Grüne an diesen wunderbaren kleinen, süßen, entzückenden Häuschen mit Gärtchen und Höfchen entlang bis zu einem Feld, das aussah wie ein Nektarinenfeld, daneben Birne oder wer weiß was nicht und immer zwischen Autobahn und Hühnerhof. Die Autos blieben die ganze Zeit laut, aber die Felder waren schön, unterbrochen von Bäumen, Hecken und Sträuchern. Auf dem Rückweg spürte ich die Zehen und Fersen, wundgelaufen in der prallen Sonne. Über dem Feldberg war es dunkel, auch etwas rechts davon, über der Wetterau schien es zu rumpeln. In Niederursel kehrten wir beim Mutz ein. Mir war nach Zitronen-Erdbeer-Limonade und einem Quiche, während Mathias einen veganen Pfirsichkuchen aß. Das „Eigentlich“ vom Vormittag war verschwunden. Es war alles ganz uneigentlich, ganz heiß, ganz lecker, ganz duftend und summend, ganz schön und die Welt und das Herz war weit und die Liebe war nah. Am Abend kam das Gewitter.

3.6.21

Endlich ausschlafen. Ich danke den Katholen. Sollen sie ehren, wen auch immer sie mögen. Ich blinzele in den Morgen und schlafe weiter. Die Vögel und Katzen müssen heute ohne mich den Tag beginnen. Auf der Baustelle beginnt heute um sieben kein Klopfen und Quietschen. Auch das ist schön. Aber ein Eichhörnchen springt um 9:14 Uhr von der Mauer in den Ahorn, es macht einen ziemlichen Plumps. Dann den Stamm hinab, die Kirsche hoch, runter, den Kirschlorbeer schneidet es nur an und weg in die falsche Richtung. „Hey!“, rufe ich, „da hinten sind keine Bäume mehr.“ Aber Eichhörnchen hören nie auf mich. Damit ich nicht traurig werde, höre ich den neusten Drosten-Ciesek Podcast und komme auch zu dem Schluss, dass es noch zu früh dafür ist, alle Kinder zwischen 12 und 15 Jahren umstandslos zu impfen. Es wäre so schön gewesen: Wir impfen einfach alle Menschen und das Virus findet keinen Wirtskörper mehr. Aber selbst bei den Pocken soll es ja ab und zu einen neuen Fall geben. Ich gestehe: Ich bin ein Impf-Fan. Ich finde die Vorstellung toll, dass die Körperpolizei aktiviert wird und dann selbst mit den bösen Eindringlingen fertig wird. Vielleicht liegt es daran, dass ich mit „Alien“ und Sigourney Weaver sozialisiert wurde. Sie ist meine Heldin. Ich habe es mit anderen Helden versucht. Gerade las ich Kaubes „Hegel“ und dachte, vielleicht könnte ich noch einmal mit Hegels Philosophie beginnen. Aber ich bleibe lieber bei Sigourny. Sie ist schön, stark und klug. Genau das, was ich sein will – gerne wäre.

2.6.21

Um fünf Uhr in der Frühe sitzen zwei Katzen in unserem Garten. Es macht ihnen nichts, wenn ich den Rollladen hochfahre. Es quietscht. Die Nachbarn werden es kennen. Es ist schon hell, aber nicht zu sehr. Eine der Katzen ist schwarz und eine ist weiß, grau. Sie mögen die Gartenhütte. Eine sitzt am Eck. Ich weiß, warum. Über ihr an der Akazie hängt ein hässliches Ding mit den letzten Resten Vogelfutter. Gegenüber das offene Vogelhaus und ein Meisenhäuschen. Gar lieblich anzusehen, aber unbewohnt. Etwas versetzt im Efeu liegt eine Rotkehlchenhöhle aus Reisig. Ein guter Ort also für Katzen. Ich bringe es nicht übers Herz, die beiden davonzujagen, so früh. Die Vögel haben es sowieso längst gemerkt und sind entgegen ihrer sonstigen Gewohnheiten still. An jedem anderen Morgen machen sie Krach oder singen, ganz nach ihrem Vermögen.

1.6.21

Die Mutanten heißen jetzt Alpha, Beta, Gamma, Delta. Die Reihenfolge habe ich mir nicht gemerkt. Sehr gute Idee, dann verbindet man den Tod nicht mehr mit Südafrika oder Brasilien. Oder nur noch in begründeten Fällen.

31.5.21

Heute gebe ich eine Prognose über die Tests ab, die wir voraussichtlich nutzen werden in Stufe I und Stufe II der Beschulung unter Pandemiebedingungen. Übermorgen werde ich eine Liste ausfüllen darüber, wieviel Tests wir verbraucht haben. Ich liebe Listen. Nicht. Genau genommen stehe ich mit ihnen auf Kriegsfuß.

30.5.21

Diesen wunderschönsten aller Sonntage verbringe ich mit meiner Freundin am Pferdestall, auf der Weide mit einem Pferd und am beeindruckenden Springbrunnen in Bad Schwalbach. Von der Beobachtung eines Rehs, über Weinschorle, Coronatest ist alles im Freizeitprogramm enthalten.

29.5.21

Auch samstags gießen die Männer auf der Baustelle gegenüber Beton. Das Mietshaus ist auf Gartenhöhe angewachsen und ich sehe vom Bett aus die Köpfe hin und her rutschen. Die Spatzen machen einen solchen Krach, dass ich nach kurzer Zeit das Fenster wieder schließe. Ich ermahne mich, nicht mehr zu füttern. Es gibt einige sehr fette Exemplare, die sich kaum an den Rosen halten können.

Vor dem Frühstück muss das Wasserbad aufgefüllt werden und der Rasen ist dran.

Auf der Berger Getümmel. Wir dürfen jetzt wieder einkaufen ohne vorherige Bestellung. Bei Pohlmann ergattere ich einen Sack Blumenerde und pflege die Nektarine und die Topfpflanzen auf der Terrasse. Physalis neben Paprika und Petersilie. Sie scheinen sich zu vertragen.

28.5.21

Kobold kommt. Es ist ein Karton wie ein Sarg. Das, was ich heraushole, ist alles andere als unbeweglich. Ein eleganter Saugwischer in grün gelb. Bis tief in die Nacht staubsauge ich Matratzen und Boden ab, Decken und Schränke. Ich brauche keine Jahresmitgliedschaft bei der TG Bornheim mehr, ich habe Vorwerk. Mathias stört mich nicht, er ist beschäftigt. Tom will auch einmal und macht sein Zimmer allein. Familientauglich oder WG-tauglich ist er also auch.

27.5.21

Was will dieser Tag von mir? Warum hat er begonnen? Er tut freundlich, aber sicher wird es gleich wieder regnen. Am Abend meine Rettung: Ich darf Theater spielen mit Treibgut. Langsam geht die Sonne unter und das Zimmer, in dem ich vor dem Bildschirm sitze, wird dunkler. Ich betrachte das abnehmende Licht im Rechner und freue mich, dass der Tag sich durchgesetzt hat.

26.5.21

Ein fast ganz normaler Mittwoch. Früh auf, ich schreibe jeden Morgen eine halbe Stunde. Danach auf das Fahrrad. Zwischendurch steige ich in die U-Bahn, weil ich dann eine Lektion Italienisch schaffe. Duolingo schläft nicht. Ich bin leider abgestiegen in eine andere Klasse. Bis zum Erstplatzierten fehlen mit 250 Punkte. Das hole ich nie wieder auf. Warum sollte ich auch zu einem Italiener sagen: Als Kind saß ich auf der Schulter meines Vaters? Aber ich bemühe mich.

25.5.21

Die Luft am Morgen ist klar und feucht. Genau richtig zum Fahrrad fahren. Es duftet an den Feldern zwischen Oberursel und Frankfurt nach Raps und Erde. Die Autobahn überschallt das Felderpanorama. Ich mag die Strecke.

Am Morgen gleich ein Anruf, ob der Regelbetrieb ordnungsgemäß begonnen hat an der Schule. Melde gehorsamst: Ordnungsgemäß stattgefunden. Wenn jemand hören möchte, was klappt und was nicht klappt, würde man anders fragen. Und man müsste Zeit mitbringen.

Die Böen sind heute zwischendurch so stark, dass die Fenster fliegen und das Herz rast.

24.5.21

Mit Sohn und Mann in Schierstein. Die Hafenstraße ist geöffnet, die Zahlen geben es her: Inzidenz unter 100 über fünf Tage. Vielleicht hat Wiesbaden bereits 14 Tage geschafft? Paare, Familien allen Alters flanieren unter den Bäumen, es wird Popcorn, Kaffee und Zuckerwatte verkauft. Tom isst einen Crêpe. Vorher treten wir einmal hoch und einmal runter den Hafen im Tretboot. Als wir starten allerschönstes Wetter mit Gegenwind. Die letzten zwanzig Minuten ordentlich im Regen. Bei hochgezogener Hose, ist das zu schaffen. Der Wind kommt jetzt aus der anderen Richtung, also immer noch Gegenwind. Meine Männer wechseln sich ab mit dem Treten, es wird anstrengend, Wellen kommen auf. Es ist ein Sprühregen, der leicht auf die Haut fällt, ein leichter kühler Wasserfilm legt sich um meine Beine und die Schwalben fliegen knapp über der Wasseroberfläche mit uns.

An der Kaffeebude auf der kleinen Promenade sitzen die zweizentner Herrschaften dicht an dicht und schwadronieren. Wir hören zu, trinken Kaffee und haben den Sommergeist empfangen. Der Heilige ist vorübergezogen.

23.5.21

Der Heilige Geist kommt an diesem Wochenende zu den Menschen. Ich lese über Hegel und verstehe, was monotheistische Religionen mit dem Patriachat verbindet.

Zwischen Regen und Sonne laufen Mathias und ich über die Taunushügel bei Hausen und auf dem Weg nach Hause erhaschen wir einen Blick auf den Rhein. Ich habe gelesen, auf dem Land beachte man das Maskengebot weniger und man träfe sich häufiger in Gruppen. Die Hygienregeln würden in den großen Städten besser eingehalten. Den Nachbarn kenne man gut, der könne kein Corona haben. Wenn man durch die Taunusdörfer fährt, ist da niemand auf der Straße. Kein Kind, das Federball spielt, kein Nachbar. Sie müssen im Garten sitzen oder in ihrem großen gelben, roten, weißen Haus mit Drumherumgarten. Bärstadt, Hausen vor der Höhe, Fischbach, Ramschied, Dickschied, Espenschied, Lindschied, Langenseifen, Laufenselden – wie ein Gedicht aus einer anderen Sprache. Hat Klang und Volumen. Die Häuser haben Masse und Volumen. Aber die Schwalben sind schön.

22.5.21

Im Abendlicht liegt der Garten ganz mild vor meinem Fenster. Der Wind wirbelt durch den Baum und beruhigt sich gleich wieder. Ich bewundere die Taube, die auf dem Bauzaun balanciert und über die Tiefgarage wacht, die auf dem Nachbargrundstück entsteht. Die Erdbeeren blühen bereits und vor dem blauen Himmel schreien wie Mauersegler ihr Sommerlied.

Heute Nachmittag war ich mit Mathias laufen, durch die Stadt spazieren. Das haben wir jetzt bereits ein paar Mal gemacht. Wir versuchen uns treiben zu lassen, gar nicht so einfach. Manchmal weiß ich nicht, wo es mich hintreibt. Ich müsste stehenbleiben, aber auch das will ich nicht. Wir haben uns einen Kaffee geholt und müssen einen Deckel auf den Pappbecher klemmen. Die Geschäfte dürfen den Kaffee ohne Deckel nicht verkaufen. Vor das Café darf man sich auch nicht setzen. Wir schlendern um die Ecke und bleiben dort stehen. Die Maske ziehen wir kurz ab. Der Wind zerzaust das Haar, ein Herbstgefühl fast.

21.5.21

Ich habe nicht mitgezählt, wie oft wir den Plan für die Beschulung der Kinder und Jugendlichen verändert haben. Es waren unzählige Pläne. Ich zähle auch nicht mehr, wie viele Tests ich mache. An Weihnachten haben wir vor der Bescherung noch Fotos gemacht, wie wir uns gegenseitig das Stäbchen in die Nase führen. Wir haben uns darüber amüsiert. Jetzt nur noch Routine. Mit den Kindern in der Klasse lachen wir manchmal, weil es kitzelt und die Augen tränen. Aber eigentlich ist es eher wie Zähneputzen. Wenn wir auf das Ergebnis warten, fangen wir schon mit Mathe, Deutsch, Englisch im Fachbüro an. Am Ende vergisst man fast, dass der Teststreifen in die Mülltonne muss. Die Anwenderinnen und Anwender bringen die Teststreifen in die doppelte Mülltüte auf dem Gang. Der Hausverwalter erledigt netterweise den Rest.

April 2021

Die Stadt schickt eine Anweisung, dass die Anwenderinnen und Anwender den Testmüll selbst in eine doppelte Tüte in einen extra Mülleimer entsorgen müssen. Die Kinder sollen also ihren Testmüll nicht nur in den Mülleimer im Flur, sondern auch die doppelte Tüte selbst in den Mülleimer draußen auf dem Hof bringen. Nicht aber in den Restmüll soll der Plastikkram. Es wird uns eine Sondermülltonne geschickt, die etwas 50cm mal 50cm groß ist. Sie wird alle 14 Tage geleert. Wenn sich jeden Tag 120 Leute testen, den Müll dazu in eine doppelte Plastiktüte schmeißen, wie lange dauert es, bis die Sondermülltüte voll ist? Zwei Tage. Im Serverraum stapeln sich irgendwann die Tüten. Nach einer Woche beschließen wir, die in der schwarzen Tonne zu entsorgen. Auf meine Nachfrage bei der Stadt antwortet man mir, wir müssten die Sondermülltonne auf die Straße stellen (die Müllabfuhr holt den Müll normalerweise immer selbst aus dem Verschlag vor dem Haus und besitzt einen eigenen Vierkant dafür) und man solle den Müll auf keinen Fall in der Restmülltonne entsorgen, es bestünde Infektionsgefahr! Vielleicht fürchtet die Stadt, wir essen in der Restmülltonne? Sie fürchtet nicht, dass die Mülltonne auf der Straße einen Schaden anrichten kann. Zwischendurch wird unsere Internetverbindung städtischerseits gekappt. Distanzunterricht ohne Internet? Auf meine Nachfrage kriege ich keine Antwort.

Sommer 2020

Vergeht die Tropfen

Fallen die Zeit

In meinen vier Wänden verdreht sich das Leid.

2020 Diese Bilder leuchten: Van Gogh

Wenn man diese Ausstellung besucht, muss man sich durch Menschenansammlungen hindurch schlängeln. Aber diese vielen Menschen stören nicht, weil die Bilder eine solche Leuchtkraft haben, dass sie dich anleuchten. Sie leuchten dir entgegen. Der Schwung des Pinsels lässt die Leidenschaft des Malers erkennen.

Ich war erschöpft und unkonzentriert. Es braucht nur eine halbe Stunde vor den Feldern und Gesichtern, die mich nicht ansehen, sondern in eine ferne andere Richtung blicken, und ich gehe mit Gedanken über die Weite und die Sonne durch die Räume.

Jede Woche einmal an Bildern vorbei gehen, die den Blick weiten, das Malen erkennen lassen, an Bildern, die dir entgegenstrahlen. Das muss eine gute Therapie sein.

26.6.2020

Erst fährt an mir eine junge blonde Frau auf einem riesigen Traktor mit Anhänger vorbei. Es war wirklich ein riesiger Traktor. Nicht so einer, wie ich ihn aus meiner Kindheit kenne, auf den man hochklettern konnte, der vor dem Stall für die Milchkühe stand. Wenn ich abends die Milch im orange-weißen Milchkännchen holte, es war aus Plastik, ich komme aus der Plastikgeneration, ging ich an dem grünen Trekker vorbei, an dessen Rädern bei schlechtem Wetter die Erde klebte.  Aber dieser Traktor heute war anders. Es war ein Texas Traktor. Er war riesig und grün und hatte einen Anhänger, in dem ein zusammengeklapptes Fußballfeld Platz gehabt hätte. Diesen Traktor für eine junge, überaus schöne, langhaarige blonde Frau im roten Spaghettitop. Ich glaubte, ich träume. Ich war mit meinem Fahrrad unterwegs, also eher verletzlich auf der Straße, aber es war schönes Wetter und ich zog meinen Rock noch etwas höher. Auf dem Alleenring setze sich dann eine Frau mit hochgestecktem Haar auf einem klapprigen blauen Fahrrad vor mich, die etwas schneller schien. Sie trug auch einen leichten Baumwollrock und nur ein Top. Wir hielten das gleiche Tempo, ich fuhr also eine Weile hinter ihr her und verliebte mich unsterblich in ihre braunen, nicht zu dünnen, nicht allzu langen Beine. Diese Beine zogen mich an, ich hielt das Tempo, bis ich abbog.

21.7.2020

Wir haben ein sieben Meter langes Wohnmobil gemietet. Es ist sehr komfortabel. Allerdings findet man trotzdem die Dinge des täglichen Lebens nicht und weiß nie genau, wo man sich hinsetzen soll.

Jeder Handgriff beim Campen ist überlegt: Der Kaffee muss in einer bestimmten Reihenfolge gemacht werden, da man sonst nicht weiß, wohin mit dem Untersatz oder dem Handy, das neben der Spüle liegt. Nach dem Duschen putze ich die noch dunklen Haar alle einzeln aus der Dusche. Um meinen BH zu holen, krabble ich zu Tom auf das Bett – wenn das jetzt ein Psychoanalytiker sähe – und beim Eingießen des Kaffees in den Plastikbecher beachte ich, dass die Milch erst ein bisschen abgekühlt ist, so dass der heiße Espresso hineinfließen kann.

Drei Nächte auf dem Campingplatz Clausen am Clausensee im Pfälzer Wald. Die Orte haben unvergessliche Namen wie Waldfischbach-Burgalben. Im roten Sandstein sind die Kirchen und Rathäuser gehauen. Der See liegt in einem Tal, Schwarzbach heißt der kleine Bach, der dem Tal entlangfließt und durch den See hindurch. Das Wasser ist eiskalt.

Ich sitze jetzt in der Sonne, mit dem Rücken zu den Familien, die sich gegenseitig nette Geschichten über ihre Kinder erzählen, sie lachen. Ihre Kinder sind vier, fünf und acht und fahren mit dem Gocard über den Platz. Schnell ist die Übeltäterin in der Familie ausgemacht: Marie heißt die junge Dame. Sie kann nicht älter als vier sein und weiß sich offenkundig durchzusetzen. Aber das bringt ihr bei ihrer Mutter keine Achtung ein. Marie tritt ihren Bruder unter dem Tisch, Marie hört am allerschlechtesten von allen Kindern auf dem Campingplatz, Marie lässt sich immer bedienen, Marie ist verschwunden und alleine über den Platz gelaufen, Marie will immer neben der Mama sitzen. Ich würde sagen, aus Marie wird einmal eine wunderbare Führungspersönlichkeit werden und ein paar Jahre Psychoanalyse werden ihr das nötige Selbstbewusstsein schon zurückgeben.

22.7.2020

Wir stellen beim Frühstück fest, dass wir nicht mal eine anständige Picknickdecke haben, um auf dem Boden zu sitzen. Der Platz vor dem Camper ist groß genug. Wir fahren mit unseren Fahrrädern nach Waldfischbach-Burgalben. Dort finden wir einen Bäcker, bei dem wir uns das frische Brot schneiden lassen können. Der Lidl hält dann die Picknickdecke in rot-blau bereit und was wir sonst noch so brauchen. Der Rückweg durch den Wald ist eine kleine Offenbarung: so schön kann die Pfalz sein: Rotbuchen, Moose, der Schwarzbach, der sich entlang des Weges schlängelt. Jede Stelle lädt zum Verweilen und Schuhe ausziehen an. Wir tun es an einer der schönsten. Ich kann kaum zehn Meter im Wasser laufen. Es ist so kalt wie das Quellwasser in den Alpen. So klar sowieso. Das Flussbett wird durch den gleichmäßig in Schindeln gelegten Sand gebildet. Nicht ganz gleichmäßig, einige Sandschindeln sind größer, andere kleiner.

23.7.2020

Diese Familien am Wasser sind neurotisch. Ein sportlich wirkender Vater lässt seinen dicken Jungen nicht ohne Schwimmweste paddeln. Der Junge kann sich kaum auf dem Brett bewegen.  Wenn er ins Wasser fällt, kommt er nicht mehr auf das Brett hinauf. Man sieht ihm an, wie enttäuscht er ist, aber eine zweite Chance bekommt der Kleine nicht. Nebenan bangt die Mutter um ihre Tochter, die mit dem Brett etwas weiter weg gepaddelt ist und jetzt den Rückweg nicht mehr ganz so schnell hinkriegt. Der See ist klein und man könnte auch an das andere Ufer laufen. Der Kleinen geht es gut, sie ist wohlauf, müht sich wacker ab. Wozu die Unruhe? Warum die Angst? Ich verstehe, dass das Wasser Angst macht. Es ist kalt und dunkel. Aber es ist nicht mal besonders tief.

Zum Nachtisch Selbstgepflücktes. Mit dem Fahrrad und im schicken französischen Rock bestieg ich den Berg und wagte mich in die Felsformation vor. Dazwischen Walderdbeeren und Himbeeren soweit das Auge reicht. Ich konnte nicht anders, zog den Helm ab und befüllte ihn mit Früchten. Am Abend dann der Pfälzer Nachtisch. Erstaunlicherweise etwas bitter. Wir überlebten!

24.7.2020

Auf einem Campingplatz am See in Haspelschied, gleich hinter der deutsch-französischen Grenze. Der Platz erstreckt sich über einen Hang, beim See angefangen. Die meisten Plätze sind feste Hütten, so hässlich wie die Nacht und umgrenzt mit Nadelbäumen und Kirschlorbeer. Das Gras davor ist braun. Ganz oben auf der Kuppe dürfen wir uns einen der geräumigen Plätze aussuchen. Die Sonne knallt heiß auf den Kopf. Am See können wir Eis essen, bis der Bauch kugelrund ist.

Der See ist braun, aber tief. Todesmutig stürzen wir uns hinein und balgen auf der Luftmatratze herum.

Am Abend gesellen sich zwei Motorradfahrer aus Frankfurt neben uns. Wir erfahren, dass der Blonde immer im Familienverbund wählen ging, man sprach nicht darüber, aber man tat es gemeinsam, das fand er lustig, wir hören von anderen Motorradfahrern, die auf Korsika in Hängematten schliefen und wenig Gepäck dabei hatten, wir hören, dass er selbst drei paar Schuhe mit hat und lieber noch ein Bier trinkt.

Wir planen mit Googlemaps eine Fahrradtour durch den Wald: es ist mehr Schieben als Fahren. Im Hintergrund die Schießerei der französischen Militärs, die uns unwillkürlich den Berg hochtreibt. Die Räder flitschen im Sand zur Seite. Das Ganze hat etwas von einer Cameltrophy. Kennt heute natürlich niemand mehr. Wir schaffen die Bergbesteigung und werden für die Abfahrt mit einer Asphaltstraße belohnt, die direkt in den kleinen Ort Roppeviller führt. Mathias juchzt laut. Das schreckt ein Reh auf, das vor unseren Rädern aus dem hohen Gras aufspringt und unsere Straße quert. Staunend halten wir an und Mathias ist beschämt. Im Café Lorraine in Roppeviller dürfen wir an einen Tisch und sitzen zwischen mehreren Gesellschaften aus Deutschland. Alle sind betagt und frisiert. Sie mögen Kohlräbchen und Lammkotelett, während wir uns an den Krautsalat halten.

Nachdem wir über die Landstraße wieder zurückgefahren sind, tanzt auf dem Campingplatz der Bär. Wenn er denn tanzte, eine Gruppe junger Erwachsener mit Bier ist schlimmer. Es ist laut, unerträglich schlechte Musik aus Lautsprechern. Neben uns Deutsche, die russisch sprechen und Modern Talking hören. Wir werfen den Motor an und fahren runter an den See. Dort gibt es nur Entengequake und eine sternenklare Nacht.

25.7.2020

Am nächsten Morgen ziehen wir weiter.  Wir bleiben auf einem kleinen Campingplatz am Fleckenstein hängen. Hat auch See, Wasser und Burgen drumherum. Mit dem Fahrrad sind wir bald oben, bald unten und können die Vogesen mal von unten, mal von oben sehen. Die Äpfel sind reif, die Himbeeren immer noch, langsam die Brombeeren. Auf einer kleinen Insel im See picknicken wir auf unserer neuen Decke, die wirklich toll ist. Einen kalten Hintern kriegt man nicht. Aber es ist ohnehin warm. Wir brauchen keine Decke, die Ameisen lassen sich nicht davon abhalten und ziehen über die nackte Haut. Es gibt viele Ameisen.

26.7.2020

In Lembach kaufen wir Brot und gehen in den „Grie Baam“ essen: Forelle, Wildschwein und Entrecote. Hört sich wie Hessisch an und schmeckt auch so ähnlich, gut. Die Weingläser sind klein, aber es reicht.

27.7.2020

Wir fahren nach Hause. Das Wetter ist schön und wir pfeifen, obwohl die Toilette und das Grauwasser voll ist. Aber das ist uns egal.