2021

Frühling in drei Farben

rosa

Spatz

Rotkehlchen

Mango

Honigduft

blau

Hyazinten

Hubschrauber

Tirili

Marienkäfer

orange

Durst

Mauersegler

Lindenblüten

Amsel

Frühling: Werden und sterben

Vom Himmel fallen selten Gedichte

So wie uns nie der Himmel auf die Köpfe fällt

Wenn das Himmelsblau in dem besondren Lichte

Den Hund nach draußen lockt, er bellt.

Die Knospen springen duftend rosa auf

So wie sich Herzen jetzt sehr leichttun

Wenn der Tag ganz mild in seinem Lauf

Mich auch nach draußen lockt, ich mag nicht ruhn.

Das Fernsehen spricht von vielen Toten

So wie tausend Vögel täglich sterben

Auf einer Reise als geliebte Frühlingsboten

Und wir die Ostereier färben.

2020

Dieser Text hat die Gestalt eines Tagebuches. Es ist weniger ein Bericht als ein literarischer Text. Alles an ihm ist unbedingt wirklich, nicht aber unbedingt real. Viele Freunde und Bekannte haben mir ihre Erlebnisse geschickt. Ich habe sie verarbeitet, manches musste ich kürzen, aus dem Zusammenhang reißen und wieder einbauen. Aber das gehört sich so, wenn man etwas verstehen will.

16.3.2020

Am ersten Tag der Schließung stehe ich pünktlich auf, nicht ganz pünktlich: ich habe mir erlaubt, eine halbe Stunde länger zu schlafen. Mein Weg zur Schule ist einsam. Ungewöhnlich für einen Montagmorgen. Es ist weniger Verkehr und die Fahrradfahrer, die mich normalerweise überholen, kommen heute nicht. In der U-Bahn ab dem weißen Stein das gewohnte Bild: müde Gesichter. Ich lasse die Handschuhe an. In Niederursel steige ich aus und fahre den Hügel hinauf auf den Riedberg. Zwischen Bundesstraße und Streuobstwiese strample ich durch ein Meer von Düften: die Kirsche, der Weißdorn, die Forsythie, die Frühblüher blühen. Es berauscht mich: Es riecht süß nach Honig und die Sonne glänzt rotgelb über das Feld, auf dem die Hasen hocken. Eine Hasenfamilie hier, eine Kaninchenhorde dort.

Im Laufe des Vormittags kommen alle Kolleginnen und Kollegen ins Haus. Ich weiß nicht, wie ich mich verabschieden soll: „Bis bald“, „Ade“ oder immer wieder „Bleib gesund“. Wir hocken zu sechst im Raum und denken das Konzept der Schule weiter. Das ist das, was uns Spaß macht und wir vergessen, was um uns herum ist. Auf dem Nachhauseweg fällt es mir wieder ein und ich habe ein schlechtes Gewissen. Wieder leuchtet die Wiese rot. Wieder die Hasen. Ich habe kein Sensorium für eine Gefahr, die ich nicht sehe und nicht spüren kann. Ich ziehe mir die Meldungen des Tages am Abend rein, damit ich dieses Gespür vielleicht entwickle.

Es gibt noch einen anderen Anfang:

Am Tag, als es anfing, brach mir ein Nagel ab. Genau genommen halb ab: Ein Teil von dem Shellack splitterte weg, darunter der dünnere echte Nagel, auch er aus Nervosität den ganzen Tag über Stück über für Stück kürzer genippelt. Da war also eine Stufe. Und ein Gedanke: Wenn die vordere Stufe wieder so lang ist wie normal, ist es vorbei… Dann täglich am Nachrichtenstand nachjustiert: Wenn die ganze unschöne Stelle rausgewachsen ist, ist es vorbei… Wenn das ganze Shellack rausgewachsen ist, ist es vorbei. Inzwischen eher: WAS wird sein, wenn der Nagel… 

17.3.2020

Der Wecker spricht zur gewohnten Zeit zu mir. Corona. Nur das. Wieder das Fahrrad, wieder das selbe Bild wie gestern. Weniger. Die Strecke ist frei und der Frühling knackt. Die Bäume können sich kaum halten vor Freude. Ich auch nicht, ich radele schneller. Die Bahn ist frei. In der Schule sind heute nur wenige. Vielleicht acht. Dazwischen ein Kind, das etwas vergessen hat. Wir fassen uns nicht an, geben uns nicht die Hand. Auch an diesem Tag vergessen wir zwischendurch, warum wir soviel Zeit zum Besprechen der wichtigen Vorhaben im nächsten Jahr haben. Erst als Myu in der Tür steht und ihre Arbeitshefte holen möchte, erinnern wir uns und rutschen einen Meter auseinander. Abends trinke ich einen Rotwein, den ich nicht gut vertrage im Frühling. Ich denke, warum nicht?

18.3.2020

Heute arbeite ich von zuhause aus. Über Nacht habe ich Blutungen. Es ist nicht sehr stark, aber da ich keine Binden mehr zuhause habe, laufe ich schnell über den Wochenmarkt zum dm. An der Tür lässt ein junger Mann in schwarz immer ein paar Leute hinein, andere müssen draußen warten. Wir gehen einen Schritt zurück, damit man nicht so eng steht. Vom Gewürzstand ruft ein Paar rüber: „Mehr Toilettenpapier – Mehr Toilettenpapier!“ Ich habe unmittelbar das Bedürfnis, dem Kerl eine reinzuhauen. Ein junger Mann versteht den Einlasser an der Tür falsch und antwortet: „Wieso soll ich mir die Hände waschen?“ Aber das hat der Mann in schwarz nicht gesagt. Alle warten geduldig unter dem spöttischen Blick des Gewürzhändlers. Die kleine Käufergruppe wird eingelassen. An der Kasse sitzt die Kassiererin hinter einem durchsichtigen Plastikvorhang und gibt das Kleingeld in Gummihandschuhen auf die Theke heraus. Als die ältere Dame vor mir ihre Hand aufhält, sagt die Kassiererin. „Ich lege es Ihnen hin!“ In der Apotheke möchte ich Paracetamol kaufen. Die Apothekerin hinter Glas fragt mich, ob ich nicht Ibuprofen nehmen könnte. Ich frage zurück, warum ich das tun soll. Sie erklärt, dass Paracetamol nicht mehr in großen Mengen vorrätig sei und für bestimmte Patientengruppen vorgehalten werden sollte. Ich stimme zu, obwohl ich die Vorbehalte gegen Ibu kenne. Wer hamstert Paracetamol?

Zuhause erledige ich Rechnungen, mache Pläne, bereite Unterricht im Schulportal vor. Draußen singen die Amseln.

19.3.2020

Ich stehe früh auf. So früh, dass es noch zu kalt ist für den Unu. Es ist nur sieben Grad und auf dem Motorroller wird es dann empfindlich kalt, wenn man keine adäquate Rollerkleidung hat. Habe ich nicht. Ich fahre in Mantel und Lammfellhandschuhen, die ich bereits seit 25 Jahren besitze. Der Mantel ist neuer, aber nicht windundurchlässig. Die Handschuhe: unverwüstbar. Also fahre ich nicht und steige wieder auf das Fahrrad. Ein bezaubernder Morgen. Die Luft ist klar, die Bäume duften noch, die Magnolie springt auf und in unserem Garten der Nektarinenbaum strahlt kräftig rosa wie in der Spielwarenabteilung für Mädchen.

Am weißen Stein nehme ich die heranrollende UBahn. In der Bahn singt ein Spanier von Liebe und anderen Gefühlen und spielt Gitarre. Mein erster Impuls ist: „Welche Unverschämtheit! Wie kann dieser junge Kerl hier singen und die Luft verpesten!“ Ich sage es nicht, drücke mich an ihm vorbei und genieße dann doch das Lied und die Sprache. Ich werfe ihm 70 Cent in die Tasse und bedanke mich. Noch nie hat jemand in der U8 gesungen. Den Hügel hinauf strample ich wieder. Ich möchte mich anstrengen und meine Lungen spüren. Aber ich bin in Übung und die Luft ist nicht kühl.

In der Schule begegnen mir gutgelaunte und tatkräftige Kollegen, eine Sekretärin und ein Hausmeister. Alle sind wie immer. Ich kann es auch sein und erledige meine Aufgaben. Um elf beginnt meine erste Videokonferenz auf dem Handy. Es ist saulustig. Wir albern herum, machen Gesten und winken uns zu. Jeder muss sein Zuhause kurz präsentieren. Von Holzvertäfelung bis moderne Architektur ist alles dabei bei Lehrerinnen und Lehrern. Wir diskutieren darüber, dass die Noten möglichst schnell abgeschafft werden sollten und sind uns einig. Eine Kollegin führt die Rednerliste, sonst würde man gar nichts verstehen. Irritierend ist, dass man sich dauernd selbst sieht. Aber da alle anderen ganz normal aussehen, denke ich mir, dass ich wohl auch normal aussehe, es nur nicht weiß, dass ich so aussehe und mich deshalb nicht so normal finde wie sonst. Mein Handy wird heiß. Der Akku beginnt zu glühen. Ich muss ausschalten. Die nächste Videokonferenz muss ich von zuhause aus machen. Ich radle schnell nach Hause, installiere den ganzen Kram noch einmal auf dem Computer und quatsche jetzt bequem auf dem Sofa ausgestreckt mit anderen Kolleginnen, bei einer kleinen Vesper. Wir machen gegenseitig Fotos von unserer Sitzung. Eine Krise sähe anders aus. Effektiv sind wir nicht, wir albern zu viel herum.

Am frühen Abend fahren Mathias, Tom und ich mit den Fahrrädern in den nahegelegenen Huthpark. Auf einem abgesperrten Bolzplatz (Corona) lassen wir ein Flugzeug hin und her fliegen und kicken uns den Fußball zu. „Wenn jetzt die Fernsehkameras kommen, dann denkt wieder die ganze Welt, ach, die schrulligen Deutschen!“, sorgt sich Mathias. Tom nervt das. „Woher sollen die Fernsehkameras kommen?“ Ich gebe ihm recht, gleichwohl beschleicht auch mich ein komisches Gefühl beim Passen und Flanken, weil ich auf einem geschlossenen Bolzplatz bolze. Ich kann aber nichts Schlechtes daran erkennen. Wir sind eine Familie und ohnehin dauernd zusammen. Es ist sonst niemand hier außer uns. Frische Luft ist gesund und das Wetter ist wundervoll. Ich beruhige die zwei Männer. Wir spielen halbherzig ein paar Runden und drehen dann noch eine um den Hutpark, bis wir wieder nach Hause fahren. Der Eissalon hat heute zu, verkauft nur noch über die Theke. Gestern war noch offen.

20.3.20

Heute schlafe ich lange. Präsenzdienst hat meine Kollegin. Ich habe so fest geschlafen, dass ich müde und verwirrt bin, als die neuesten Erkrankungszahlen für Deutschland durchgegeben werden. Gestern hat kaum jemand auf dem Balkon gesungen. Ich habe keinen Balkon. Als ich meine Nase in den Abendhimmel steckte, war alles ruhig. Ich traute mich nicht, alleine laut in den Garten hinaus zu singen. Ich ließ es sein. Langsam bewege ich mich aus dem Bett heraus. Mache Kaffee. Trödele herum. Der Friseur hat mir vorgestern die Haare zu kurz geschnitten. Meine Kollegin wird am Nachmittag auf der Videokonferenz sagen, dass es nachwächst. Das finde ich nicht sehr schmeichelhaft, wenn auch gewiss die Wahrheit. Die Wahrheit ist nie schmeichelhaft, es ist nicht konstitutiv für die Wahrheit, schmeichelhaft zu sein. Aber es täte gut. Nachdem ich das Haus verlassen habe, besuche ich meine Lieblingsbäckerei. Wir brauchen ein Brot und die Quarkhäschen hinter der neuen Glasscheibe grüßen mich. Zwei Stück, bitte. Ich leihe mir bei Stadtmobil ein Auto und beachte die Gebrauchsanweisung, die die Firma vorgestern per Mail verschickt hat: Handschuhe tragen, gleich die Hände waschen, wenn ich ins Büro komme. Nicht in das Auto niesen. Ich schalte das Radio ein: YouFM ist voreingestellt und irgendein modernes Zeug läuft. Nicht schlecht, aber auch nicht bleibend. Es vertreibt die Zeit, die nicht allzu lange währt, weil kaum Verkehr ist und ich schnell auf den leeren Hof der Schule fahren kann.

Es kommen ein paar Kolleginnen und Kollegen herein, räumen auf, fragen nach. Die Sekretärin und ich machen Büroarbeiten. Der Sekretärin und meiner Kollegin lege ich das Quarkhäschen auf den Tisch. Als es da liegt, frage ich, ob sie es noch essen möchten. Ich habe es angefasst. Aus der Tüte geholt. Noch nie im Leben habe ich mir darüber Gedanken gemacht. Ich versichere ihnen, dass ich mir die Hände gewaschen habe, als ich die Schule betreten hatte (Tut mir leid, aber das Präteritum von „waschen“ ist nicht schön, deswegen muss es hier das Perfekt sein). Sie beruhigen mich und essen den Hasen. Gleichwohl habe ich ein schlechtes Gewissen. Wie kann ich jemandem einen Quarkhasen schenken, ohne ihn zu berühren?

Am Nachmittag habe ich zwei Videokonferenzen, die lustig und effektiv sind. Zwischendurch klingt das Telefon, jemand macht einen Tee in der Küche, die eMail-Nachrichten klingeln. Dauernd sehe ich mich selbst. Der Satz mit den Haaren fällt. Aber es ist ja wahr, die Haare werden wieder lang werden. Corona wird irgendwann vorbei sein. Wenn die Haare nicht mehr wachsen werden, werde ich tot sein. Alles ist gut. Der Tod wartet woanders. Ich blicke in den Garten. Was mich wirklich beunruhigt: Es gibt noch keine Hummeln und Bienen am Rosmarin, an den Schlüsselblumen und dem Nektarinenbaum. Wo sind die Insekten, haben die etwa auch Corona?

21.3.2020

Eine gute Zeit, um über Wörter nachzudenken, die man nicht mehr oft benutzt. Ich probiere es aus, als mir eine Bekannte eine Nachricht auf das Handy schickt. Ich antworte: „Dufte“. Wir unterhalten uns kurz über Frisuren und Friseure. Meiner ist Selbstversorger und so sehr er selbst, dass ich immer etwas verliebt in ihn bin. „Verknallt“, nichts Ernstes. Zuweilen macht es Freude, sich mit Wörtern die Zeit zu vertreiben und wunderhübsche Dinge zu sagen, die man nicht mit beliebigen Worten auszudrücken vermag. Immerhin, es wurde eine Biene gesichtet. Sie hatte sich vor ein paar Tagen kurz im Kinderzimmer verirrt und flog einmal quer durch den Raum, bevor sie wieder verschwand.

Ich lese elektronische Briefe, die heute gekommen sind:

Liebe Susanne,

unsere italienische Nachbarin haben wir gestern im Hof getroffen und uns mit 1,5 m Abstand unterhalten, sie war ziemlich aufgelöst: Ihr Onkel wird seit zwei Jahren jede Nacht an ein Sauerstoffgerät geschlossen, aber vermutlich geht das nicht mehr lange, weil er alt ist und jüngere Corona-Patient*innen es brauchen werden. Als sie zwölf war lief die Oma meines Freundes mit ihrem Vater nochmal durch Frankfurts Altstadt und er sagte, sie solle sich das gut einprägen, denn bald könne das ganz anders aussehen. Unsere Gebäude werden nicht so schnell und plötzlich in sich zusammenfallen, aber je nachdem, wie die Politik sich entscheidet, werden sie ausgehöhlt: wenn Künstler*innen ihre Existenzgrundlage wegbricht, Restaurants schließen müssen, sichere Arbeitsplätze verschwinden und prekäre Jobs ohne Lohnfortzahlung im Krankheitsfall von Infizierten weitergeführt werden. Viren verbreiten ist richtig blöd, aber weil sie keine Neonfarbe haben, die dick und fett blinkt, ist es wie mit dem Klimawandel: was nicht sichtbar ist, existiert nicht. Nicht wirklich. Das Gefühl von hilfloser Wut kenne ich seit ein paar Jahren, weil es mit Butter, Sahne, Käse, Joghurt, Fleisch, Autofahren, Fliegen, Kreuzfahrten, Billigklamotten das Gleiche ist: superschlecht für alle.

Gestern war ich spazieren und habe Magnolienblüten vor schönen Häusern beobachtet. Am Spielplatzgeländer habe ich Sport gemacht und mich dann doch nicht getraut, mit Ausfallschritten nach Hause zu gehen. Am Dienstag ließ ich abends meinen Tag rückwärts ablaufen und war erstaunt, wie viele Details ich noch erinnerte: die Stimme der Frau im Park, die mir entgegenkommenden Radler*innen, was welche Kolleg*in gesagt hat, das Gefühl, in einem bestimmten Raum zu sein, wie sich mein Lenker anfühlt und wie der zweite Filterkaffee schmeckte (furchtbar sauer).Und wie sehr ich es genossen habe, die anderen zu sehen, ohne Zeitdruck zu haben.

Ich stiere aus dem Fenster in unseren kleinen Garten. Keine Biene, keine Hummel, kein Rotschwanz, kein Rotkehlchen. Ich fühle mich verlassen. Es ist, weil die Sonne nicht scheint.

Liebe Susanne,

die Verwirrung angesichts des Erbes: 2039 qm mit Bauernhaus in O.A im Sauerland, eine mir völlig fremde Gegend. Das Gelände ist zugestellt mit alten Militärfahrzeugen und Schrott. Das große Bauernhaus von 1870, völlig mit Schiefer eingekleidet, ist desolat, verfällt. Ein Raum darin wird von einem Glaubensbruder meines Vaters bewohnt. Herr Kraft, der vor Kraft strotzt, obwohl er 86 Jahre ist. Ureinwohner, Milchbauer, ehemals Eigentümer des Hofes, den er verkaufen musste, als ein Brand ausbrach und sonstige Schicksalsschläge. Karl hatte ihm zuliebe das Haus mit dem Geld gekauft, dass er vier Jahre zuvor vom gemeinsamen Konto mit seiner Frau abgeräumt hatte. (Von einem Tag auf den anderen war sie – und damit auch wir Kinder mittellos. Seine Rache für die erzwungene Scheidung). Die Idee war, dass Herr Kraft das Grundstück mit Haus zurückkauft, sobald er kann. Das beabsichtigt er noch heute. In seinem dunklen Zimmer umgeben von Bluttränen-weinenden Madonnen und Rosenkränzen führt er mit seiner mechanischen Schreibmaschine diverse Korrespondenzen … mit der Stadt, mit Rechtsanwälten, mit meinem Vater, als er noch lebte. Ein zugestelltes Grundstück mit einem verfallenden denkmalgeschützten Gebäude plus eigenwilligen Mieter – so ein Erbe sollte man lieber nicht antreten. Im Namen meiner Geschwister habe ich es der Stadt weit unter Grundwert zum Kauf angeboten. Das Interesse ist da, aber eine gemeinsame Besichtigung wurde wegen Corona abgesagt. Die Stadt möchte „besenrein“ kaufen, ohne Militärfahrzeuge, ohne Mieter. Das können wir nicht anbieten, nur mitdenken, vermitteln. Mitten in den Verhandlungen: Corona. Mein Ansprechpartner vom Fachbereich Bauen und Stadtentwicklung drei Tage nicht im Büro. Am Donnerstag läuft die Frist für die Erbausschlagung aus.

Ich putze aus therapeutischen Gründen die Wohnung. Weil die Zeitung heute nicht kam, muss ich raus und kaufe eine. Die drohende Ausgangssperre fegt die Regale nun tatsächlich leer. Ich kaufe Rotwein. Angeblich machen das die Franzosen. Muss nicht schlecht sein.

Heute Nachmittag kommt das arme Tier zu mir. Mein Mann zieht sich zur Meditation in eine Kammer zurück, mein Junge spielt in seiner Stube am Computer. Ich wechsle den Platz mehrfach zwischen Klavier, Computer und Spülmaschine. Ich sinniere darüber nach, ob ich den Majoran und die Paprika im Garten einpflanze. Beschließe, dass es zu kalt ist.

Dann bekomme ich wieder Post. So liest man sich in die Leben ein. Mich berührt die Schilderung einer Beerdigung eines jungen Mannes im Friedwald. Man darf sich nicht umarmen, aber man tut es. Ich denke an einen kürzlich verstorbenen Freund. Es ist heute kalt draußen. Mich beschäftigt die Erbangelegenheit meiner Freundin. Wir haben uns so lange nicht gesehen. Und jetzt geht gar nichts.

Liebe Susanne,

Ich denke häufig an die ganzen Menschen aus ärmeren Ländern, die komplett ohne medizinische Versorgung auskommen müssen und was wohl passiert, wenn in ein Flüchtlingslager Corona einschlägt. Auch die Situation, wenn man medizinische Hilfe braucht und von Medikamenten oder Apparaten abhängig wird, macht mir zu schaffen. Ich kenne das in Ansätzen, weil ich (im Frühling, wenn die Pollen beginnen zu fliegen) Asthma habe. Hin und wieder gibt es Nächte, in denen ich nicht gut Luft kriege. Eigentlich reicht es schon, nicht genau zu wissen, wie voll das letzte Asthmaspray noch ist, um nervös zu werden. Das Gefühl, durch einen Strohhalm atmen zu müssen. Schrecklich die Vorstellung, akut in ein Krankenhaus zu gehen und vielleicht in einem Bett auf dem Flur zu liegen und zu wissen, dass einem kaum geholfen werden kann. Vielleicht wird man auch „einfach“ weggeschickt, weil alles schon überfüllt ist. Also genau so, wie Europa momentan mit den Flüchtlingen umgeht (und das „Krankenhaus“ ja nicht einmal voll ist).

Die beiden Männer sind aus den Zimmern gekommen. Es wird dunkel. Tom dreht das Licht heller. Irgendwann sehe ich keinen Garten mehr, wenn ich zum Fenster hinaussehen möchte. Die letzten Reste selbstgepflückte Himbeeren und Brombeeren vertilge ich am Abend im Sekt. Auch der aus dem Vorrat. Wir müssen schon wieder einkaufen gehen.

22.3.2020

Warum tun wir das alles? Für die Alten. Damit nicht alle gleichzeitig… um das Gesundheits… flatten the… StayTheFuckHome. Aber die Mutter unserer Nachbarin muss zum Frisör. Ihr Vater will zum 80. von Tante irgendwas vom Kegeln. Sie gehen täglich in den Supermarkt. „Bei uns gibt es das nicht“ sagen sie. Der Nachbarlandkreis hat als erster Kreis in Deutschland eine Ausgangssperre verhängt, weil zweithöchste Fallzahl nach Heinsberg und so. Risikogruppe? Nur weil sie Mitte 70 sind? Vielleicht der Anton, der hats auf der Lunge, oder die Frau Müller, die ist schon 80. Meine Nachbarin schüttelt den Kopf.

Wir gehen heute im Wald spazieren. Es ist immerhin Sonntag.

Ich muss lachen. Mein Sohn, der neben mir auf dem Waldweg läuft, fragt mich, warum ich lache. „Ich denke gerade an den jungen Verkäufer im REWE, der uns auf meine Frage, ob man noch eine Kasse öffnen könne, weil die beiden Schlangen so lang seien, antwortete, dass das eine optische Täuschung sei, weil der Abstand zwischen den Menschen so groß sei.“

Aber meine Worte werden weggetragen. Der Wind reißt die Worte vom Mund, kaum ist man aus dem Wald. Der Himmel strahlt so blau als könnte es kein Corona, keine Krankheit, keinen Tod geben. So ein Blau ist unbestechlich ewig und unsterblich.

Wir laufen zu fünft über die sonnigen Hügel im Taunus. Die Wintermäntel wurden heute wieder angezogen und die Mützen aufgesetzt. Zwischendurch vespern wir im Stehen. Zwei Paare und ein Kind in sicherer Entfernung. Wir unterhalten uns über die Fernsehnachrichten: Särge in Italien. Der Wind pfeift. „Küsst ihr euch noch?“ Mein Mann und ich schauen verlegen. Wie soll man das drei Wochen überstehen?

23.3.2020

Meine Mutter habe ich heute aus dem Bett gejagt. Ich hatte plötzlich Angst um sie. Was macht sie allein in ihrem Haus im Taunus? Wir plaudern ein bisschen, aber meine Plauderlaune ist schwer. Immer wieder erwische ich mich dabei, Finn einladen zu wollen, eine Spritztour in den Taunus machen zu wollen, eine Freundin besuchen zu wollen, einen Espresso in meinem Lieblingseissalon trinken zu wollen. Er hat geschlossen. Kontaktsperre. Hört sich an wie Kontakthof nur umgekehrt.

Den ganzen Tag schlechte Laune. Ich habe immer noch kein Headset, um eine ordentliche Videokonferenz zu machen. Was einem schlechte Laune machen kann. Ein Moralist in mir schreit: Stell dich nicht so an. Ich stelle mich aber an.

Liebe Susanne,

Für mich ist es auch eine Erinnerung an das Leben meiner Eltern – sie haben als Lebensprinzip „einfach“ gelebt, das heißt in etwa das was wir jetzt erleben. Hatten ein Haus mit Garten als Aufgabe, gingen nur zum Einkaufen, für Arztbesuche und kleinere Erledigungen hinaus. Wirkten nicht einsam oder es schien ihnen nicht langweilig zu sein. Für mich immer undenkbar – jetzt hab ich die Gelegenheit dieses Experiment selbst durchzuführen. 

Was ist wirklich wichtig? Diese Frage summt öfters durch meinen 58-jährigen Kopf! Wichtig im Außen und wichtig im Inneren? Im Moment habe ich nur die Spur aufgenommen und keine Antworten. 

Auf dem Nachhauseweg ist es auf dem Fahrrad immer noch so kalt, dass ich Mund und Nase hinter dem Schal verberge. Zuhause lese ich die Notiz eines Kollegen nach:

Liebe Susanne,

als ich Donnerstag bei einem Arzt eine Überweisung für meinen Vater abgeholt habe, habe ich für diese paar Minuten das erste Mal öffentlich eine Atemmaske (die hatten wir noch im Keller) getragen. Es war mir zu der Zeit selbst noch peinlich und ich fühlte mich unsicher. Die Arzthelferinnen hinter der Theke haben sich kurz angeschaut und geschmunzelt (zugegeben, warum weiß ich nicht). Ich gehe seit Freitag (Tag 5 nach dem 16.03.) nur noch mit Maske raus, trage sie auch in der Schule am Schreibtisch und erst jetzt fällt mir auf, wie wenige Leute eine Maske tragen: Kaum eine/r trägt eine. Gleichzeitig wurde ich mir immer sicherer, dass ich kein Freak bin, sondern das Richtige tue. Auf dem Fahrrad habe ich mich dann entschieden, die Maske anzulassen, um quasi Werbung dafür zu machen.

Mathias breitet wieder seine Theorie von den selbstgenähten Masken aus. Es geht darum, die anderen zu schützen. Wir nicken. Ganz langsam wird es dunkel draußen. Ich habe heute die Nektarinenblüten bepinselt. Nektarinen sind Selbstbestäuber. Sie sorgen sich selbst um sich. Wenn ich dieses Rosa sehe, muss ich einfach Biene spielen. In Deutschland gelten die neuen Regeln des Zusammenlebens, sagt die Nachrichtenstimme. Es gibt heute Nudeln.

24.3.2020

Das Coronavirus ist zwar nicht lebendig, führt aber sein Eigenleben. Es breitet sich immer weiter aus. Es greift um sich. Es ist ein starkes Subjekt. Es scheint alles zu beherrschen. Sogar die WGs dominiert er jetzt: Wer darf zu wem und wer darf mit wem? Und warum?

Ich bin heute sprachlos. Es kommt von überallher, immer wieder das Gleiche und der Tod springt aus der Zeitung, dem Fernseher, allen Geräten. Und wenn mir jemand entgegen kommt, macht das Gegenüber einen großen Bogen um mich. Dabei scheint die Sonne, als würde es kein Corona geben. Ich zwinge mich, an ein schönes Wort zu denken: Bohnenkaffee.

25.3.2020

Tom hat seine Schulsachen ausgebreitet. Endlich kann er seine Schularbeiten in seinem Tempo machen. Es quatscht niemand dazwischen. Er kann erledigen, was er für richtig hält. Heute will er eine Stunde Spanisch mit mir machen. Nicht weil er Spanisch so gerne macht. Einfach weil er heute dazu kommt.

Ich habe eigentlich gar keine Zeit, um mit Tom Spanisch zu machen. Denn ich muss soviel eMails schreiben, Telefonate machen, Videokonferenzen durchführen, zwischendurch die Programme begreifen, dass ich nicht dazu komme, jemandem zu helfen. Immerhin schreibt mir eine Mutter, wie toll sie es findet, wie wir das Material bereitstellen. Meine Nachbarin schreibt mir:

Liebe Susanne,

Homeoffice. Stress pur.  Nicht wegen quengelnder Kinder, nicht weil Kantine und keine Kaffeeküche fehlen, schon gar nicht, weil „der Kontakt zu den Kollegen“ fehlt, im Gegenteil: Die Kommunikation ist im ein Vielfaches potenziert. Jeder mailt, slackt, telefoniert, schreibt über das Dienstsystem oder startet einen Videoanruf. Jeder. Gleichzeitig, Parallel. A spricht mit B, C slackt mit D, E slackt auch, aber in einem anderen Channel, dann eine Mail in der alles anders steht, also eine Videokonferenz um zu klären. An Arbeit nicht zu denken bei der Arbeit.

Ich vermisse meine Kolleginnen und Kollegen. Ich vermisse meine Arbeit. Die ironischen Bemerkungen von pubertierenden Jugendlichen, die Pausen, in denen man in irgendwelche abgedrehten Unterhaltungen eintaucht, die Forscherfragen, die gerade in dieser Phase jetzt von Schülergruppen entwickelt werden sollten, meinen Gang das lila Treppenhaus hoch, die Sonne, die morgens über Frankfurt aufgeht, wenn ich den Hügel hinauf radle, das typische „Susanne“ meiner Kollegin, das „Na“ einer anderen, das ungespülte Geschirr auf der Spüle. Nein, das nicht.

26.3.2020

Ich könnte etwas einschlagen, erwürgen, verdreschen. Was macht mich so wütend? Ignoranz und Kleingeistigkeit. Das hat mit Corona gar nichts zu tun.

27.3.3020

Am Nachbarhaus ist eine Marquise ausgefahren. Orange gegen den blauen Himmel. Am Abend wechselt die Farbe zu einem lila-braun vor dem Abendhimmel. An Ostern werden die ersten Mauersegler kommen. Sie ergänzen das Vogelkonzert im Garten um einen langezogenen Schrei. Wesen, die den Boden nie berühren. Den Abend über pflanze ich Gladiolen und Lilien ein. Hochgewachsenes kann ich gut leiden. Diese staksigen Schönheiten werden dann irgendwo im Garten stehen und ich werde mich erinnern können, wie ich an einem Coronabend im März, bei Sonne und milder Luft in der Erde gewühlt habe. Majoran und Thymian habe ich gleich mit eingepflanzt. Sie werden sich gut verstehen.

Unser Nachbar hustet. Er bellt in den späten Nachmittagsraum. Sein Fenster ist geöffnet. Ich grabe darunter Löcher in den feuchten, nicht mehr ganz so kalten Boden. Der Nachbar ist krank. Wir waschen und jetzt auch die Hände, wenn wir die Zeitung aus dem Briefkasten holen.

28.3.2020

Ich wohne in Frankfurt in einer wunderschönen breiten Straße mit vielen alten Häusern.

Unser Haus, in dem wir eine Erdgeschosswohnung beleben, ist zurückgesetzt. Man muss durch eine Häuserschlucht durch. Die Einfahrt ist weit, hinter den zwei Häusern nach vorne raus öffnet sich eine Landschaft von verlassenen Werkstätten, Hinterhöfen, Parkplätzen und zwei Häusern in zweiter Reihe. Eines davon ist das unsere. Es ist schmal und wirkt dazwischen gequetscht. Hinter unserem Haus beginnt die Rückseite der nächsten Straße. Es war nicht Liebe auf den ersten Blick, als ich es zum ersten Mal sah. Mir war es zu eng. Zu dazwischen. Die umliegenden Häuser schauen alle auf dieses schmale Haus herunter.  Das Haus ist ein Riegel. Zwischen den beiden Eingängen und dahinter drängeln sich drei Minigärten.  Wenn man nicht weiß, was ein Riegel ist, stellt man sich zwei große Ls vor, die man auf die Seite kippt. So fühlt es sich auch von innen an. Man kommt hinein, geht den Querstrich des umgeworfenen Ls entlang an drei kleinen Zimmer vorbei, biegt um die Ecke rechts in den Längsstrich und steht in einer großen Küche, Wohnzimmer, Schlafzimmer in einem. Man glaubt sich zunächst in einem Hotelflur, um dann in einer Juppiwohnung zu landen. Die Bezeichnung „Juppi“ kennt heute niemand mehr. Bei uns ist auch wenig Juppi. Eher unaufgeräumtes enttraditionalisiertes Intellektuellen-Feingeist-Milieu mit starkem Einschlag in Familie mit Kindern. Obwohl unsere Kinder schon keine Kinder mehr sind, liegen überall Legos auf dem Parkett, Spiele, Blätter, Gemäldelandschaften. Unser Wohnzimmer ist gerade eine Startbahn. Da wo keine Startbahn ist, liegen großflächige Zeichnungen. Zur Poesie hat in unserer Familie nur eine gefunden. Die anderen malen, zeichnen und fotografieren. Bücher sind besser einzuräumen als Zeichenpapier und Farben, deshalb haben wir viele. Sie lassen sich besser abstauben. Im Regal zwischen den Büchern liegen die glitzernden Hüte unseres Chors, der sich nun seit vier Wochen nicht getroffen hat. Das gemeinsame Singen haben wir zuerst eingestellt. Was machen die anderen gerade? Ich habe seit Tagen meine Mutter nicht angerufen. Ich habe seit Monaten meine Freundin in Berlin nicht angerufen. Ihr Vater ist gestorben. Seit Wochen habe ich von meinen Freunden in Magdeburg nichts gehört. Was macht eine Freundin in Offenbach? Wie sieht es in Darmstadt und Bad Schwalbach aus? Abgerissene Fäden.

Unser Garten liegt in der Beuge des umgeworfenen Ls. Groß genug für Nektarine, Hibiskus, Ahorn, Kirsche, Rosen und ein Stück Rasen, aus dem irgendwann hoffentlich Gladiolen wachsen.

Von meinem Schlafzimmer aus sehe ich in den Garten. Jeden Morgen. Und die Rückseite der Hochhäuser in unserer Straße. Es gibt eine Anlage, die nennen wir „die Hochhäuser“. Es sind keine Hochhäuer im eigentlichen Sinn. Vielleicht sieben Stockwerke hoch, allerhöchstens, ich vertue mich in diesen Schätzungen. Vielleicht auch nur fünf. Jedenfalls sehen sie aus wie die Sommerresidenzen an der Atlantikküste in Portugal, eher im Süden als im Norden, entlang der Küste, gebaut, bevor man den ökologischen Tourismus erfand. Das Hochhaus ist nicht wirklich hässlich, auch nicht heruntergekommen, eher ein bisschen bieder in Kästen. Die Rückseite des Hochhauses in unserer Straße sehe ich vom Bett aus und das ist am Morgen, wenn es nicht bewölkt ist, ein wunderbarer Anblick. Ich sehe unseren Garten: die Nektarine, den Hibiskus, den Ahorn, irgendwann auch die Gladiolen. Dahinter unsere weiße Mauer, die auch die Mauer zur Werkstatt war, die leider nicht mehr in Betrieb ist. Flachdach. Dahinter: den blauen, hellblauen, orangeblauen, rosraorotblauen, graublauen, türkisblauen, weißblauen, bewölktblauen, tiefschwarzblauen, lilablauen, zartgelbblauen oder weißen Himmel. Im Sommer die Mauersegler, im Winter Ringeltauben. Ab und an einen Falken und im Sommer in der Dämmerung Fledermäuse (ohne Corona). In der rechten Ecke erheben sich die obersten zwei Stockwerke des „Hochhauses“ durch die Perspektive als Dreieck verzogen in mein Blickfeld. In dem Licht der aufgehenden Sonne strahlt das Hochhausdreieck eiergelb. Manchmal blendet mich ein Fenster. Die Sonne wird vom Hochhausfenster direkt zu mir zwischen die Kissen gelenkt. Nur ganz kurz geschieht das, aber ich fange den Strahl bei Sonne jedes Mal. Ich liege oder sitze im Bett und sehe auf den Atlantik vermittelt durch das Portugalgebäude. Alles stimmt an der Perspektive, den Farben, den Geräuschen: leichtes Rauschen, Vögel, ab und zu eine Brise Wind. Dahinter ist der Atlantik, sonnenklar.

Nachricht von meiner Mutter: sie habe Spargel gegessen. Der Frühsommer ist gerettet. Ich kaufe noch am selben Tag auf dem Markt Spargel.

Liebe Susanne,

heute ist der erste Tag, an dem ich spüre, dass es auch in dieser Ausnahmesituation eine Routine geben wird. Es ist der erste Tag seit einer Woche, an dem ich mich im Büro nicht ausschließlich mit coronabedingten Sonderaufgaben, sondern auch mal wieder mit gewohnten Themen beschäftigt habe. Ich habe gespürt, dass die Krise irgendwann zum Normalzustand werden wird, dass ihre Last nicht mehr spürbar sein wird auf unseren Schultern, genauso wie es mit anderen Lasten zuvor auch geschehen ist. So selbstverständlich, wie wir Sicherheitskontrollen an Eingängen oder Betonabsperrungen in Fußgängerzonen und auf Märkten zu ignorieren gelernt haben, so routiniert werden wir auch das Abstandhalten, das Nichts-mehr-anfassen-wollen, das Isoliertsein hinnehmen. Und wir werden nicht mehr darüber nachdenken, dass dies irgendwann einmal nicht zum Alltäglichen gehört hat. Die Angst vor den Viren wird irgendwann so alltäglich wie die Angst vor dem Terror sein. Die Kollegin, die heute ausnahmsweise etwas früher geht, weil sie krisenbedingt das Wochenende durchgearbeitet hat, verabschiedet sich behandschuht und mit mehr als zwei mich einsam zurücklassenden Metern Abstand von mir, nicht ohne mich nochmals darauf hinzuweisen, dass ich doch nun auch mit der Vorratsbildung anfangen solle, dies werde immer wichtiger. Vor ein paar Tagen noch hätte ich heimlich die Augen verdreht, nun aber spüre ich einen kleinen Kloß im Hals.

Am Nachmittag grabe ich im Garten um und sähe Rauke aus. Den Zitronenbaum bespritze ich mit einer Wasser-Spüli-Mischung. Tom fragt mich, warum ich das tue. Wegen der Schildlaus, die sich im Winter an die uralte Zitrone setzt. Die klebrigen Blätter klitzern schön im Sonnenlicht. „Die Läuse ersticken.“ Ich stocke. Ersticken ist in dieser Zeit kein Mittel der Wahl im Garten.

In dieser Zeit. Die Zeit im Garten dehnt sich. Sie steht und wird von Bienen und Hummeln, die sich mittlerweile am Rosmarin gefunden haben, durchflogen. Worte betrachten. Zugleich rast etwas anderes, was wir Zeit nennen, durch meinen Kopf. Die vielen Stunden, die bereits vergangen sind, die vielen Videokonferenzen, die mir rote Ohren machen und mein Handy heiß laufen lassen. Schon wieder nicht gesungen, schon wieder nicht gesehen, schon wieder kein Kind unterrichtet. Ich in zwei Sphären.

29.3.2020

Der Sonntag fühlt sich nahezu wie ein Freitag an: Telefonieren, das Schulportal betreuen, Unterricht vorbereiten, Material heraussuchen, Mails schreiben, Personalplanung machen. Ich habe keinen Sonntag. Das ist kein Drama, weil ich grundsätzlich einer Arbeit nachgehe, die kein rechtes Ende kennt. Ich habe gelernt, dem ein Ende zu setzen. Heute fiel es schwer. Heute hätte ich aber gerne mehr Klavier gespielt und Vorträge zur Lage der Gesellschaft aus der Perspektive der kritischen Theorie gehört. Was es alles auf Youtube gibt. Ich mag heute nichts lernen. Auch nichts kritisieren. Ich lese Rilke und fühle mich so.

30.3.2020

Der Morgen ist in den Minusgraden. Wenn ich jetzt keinen Schnupfen auf dem Fahrrad bekomme auf dem Weg in den hohen Norden Frankfurts, dann bin ich unsterblich. Meine Gereiztheit hält an bis zum Frühstück. Wahrscheinlich ist das die Lösung: gute frühstücken. Gefangen, eingesperrt, ohne meinen Gang in den Eissalon macht auch die Kritische Theorie, die Diskussion mit Kollegen keinen Spaß. Ich frage mich, ob ich ausbrechen soll, jemanden unanständig umarmen, meinen Mann küssen? Ungeheuerlich. Der Kollegin stirbt der Schwiegervater. Ganz allein.

Liebe Susanne,

meine Eltern besuchen möchte ich nicht, da ich Angst habe, Papa mit Diabetes und ü60 Risikogruppe.
Zuhause fällt mir die Decke auf den Kopf.
Habe mir aus Langeweile die Haare rot getönt. Leider zu sanft. Ein Feuermelderrot wäre toller gewesen.
Gestern im Supermarkt war alles komisch. Kein Lachen kein Reden. Das einzige worauf ich reagierte war Husten von einem Regal weiter weg. Komisch, dass man schon so konditioniert ist.
Da war dann der lange Gang vor mir voller Konserven… Teilweise leer… Ich hab mich auf meinen Wagen gestellt und ganz zurückhaltend Anlauf genommen. Mich auf den Wagen gestellt und den Gang lang.
Im Kopf hatte ich dann ein Bild vom Surfen und Wind, war leider nur ein Regal.
Kam mir irgendwie schuldig vor. Am Ende des Gangs angekonmen, Wagen umgedreht… Fuß aufs Gestänge und ein leises Huuuiii.

Erst ein Auge auf, hoffentlich sieht mich keiner und dann der imaginäre Mittelfinger… Der Gedanke, dass jeder das will.
Provokant nochmal in die andere Richtung umd und lauter… Huiiiii…. Ich Rebell 🙂

31.3.2020

Vom Bett zur Couch, telefonieren. Whatsappnachrichten checken, am Frühstückstisch Mails einsehen, schnell zurückschreiben, nach einer Stunde merke ich, dass eine Stunde vergangen ist und ich dringend in die Videokonferenz muss, die schon läuft, unfrisiert, wieso sieht man sich eigentlich die ganze Zeit selbst, ich muss mir Notizen machen, wo ist mein Papier, Hunger, zwischendurch einen Kaffee, wieder im Bild, ein Handyanruf mit schlechter Verbindung, sechs Kinder, die noch keine Aufgaben abgegeben haben, die ich auch nicht sehe, draußen scheint die Sonne, schon wieder, Protokoll schreiben, jetzt Konferenz mit Jitsi. Ein Kollege erzählt, dass er die Läuse im Haus hat.

Kein schöner Tag. Ich diskutiere kritisch mit Mann und Sohn. Ich frage, wer sagt uns, dass das alles wirklich ist? So etwas darf man nicht sagen. Es sterben Menschen. Man muss Mundschutz tragen. Man muss Abstand halten. Man muss zuhause bleiben. Ich will nicht. So lange ich die Freiheit habe, bockig zu sein, kann es noch nicht so schlimm sein. Wieviel Menschen sterben an Feinstaub? Wieviel an Grippe? Wieviel im Verkehr? Wieviel an Sorgen? Wieviel Kinder mit plötzlichem Kindstod? Wieviel an Lepra? Wieviel Beifang kommt ins Netz? Wieviel Tiger gibt es noch? Wieviel Eisbären schwimmen nach Grönland? Überleben die Pinguine auf der Antarktis? Es gibt wieder Fische in Venedig, die Luft in Tianjin ist wieder sauber. Wieviel Mensch verträgt der Mensch? Wieviel Mensch verträgt die Erde? Mir geht das Papier aus und die Briefmarken und der Papierladen hat zu. Was juckt mich der Beifang.

1.4.2020

Liebe Susanne,

seit einer Woche laufe ich morgens zur Arbeit und nachmittags wieder zurück, 30 Minuten jeweils, weil ich neuerdings das Bahnfahren vermeide. Das macht eine Stunde Bewegung an der frischen Luft täglich, die ich sonst nicht hatte. Ich überlege schon wieder, ob ich dafür mein gewohntes Krafttraining heute ausfallen lassen möchte, denn meine Muskeln kann ich ja gerade sowieso keinem zeigen. Ich genieße den Weg durch die sonnig-klare Frühlingsluft und durch die ruhigen Straßen. Ich nehme den täglichen Weg zu Fuß über die Mainbrücke in Kauf, denn die Angst vor den Viren ist offensichtlich stärker als die alte Angst vor großen Gewässern (eine Angst, über die ich nur mit ausgewählten Personen spreche, denn darunter verbirgt sich die Angst vor riesigen Seeungeheuern, die plötzlich auftauchen und mich mit ihrem großen Maul verschlingen… sehr männlich von mir, ich weiß…). Heute wohnt dem täglichen Schauder sogar ein klitzekleines Prickeln inne, zum ersten Mal. Also anscheinend auch hierbei gibt es einen Gewöhnungseffekt, eine Angstroutine.

2.4.2020

Man solle nicht denken, dass die saubere Luft jetzt ein langfristiger Effekt sei. Man solle nicht denken, dass die Ruhe auf den Straßen jetzt eine Lösung für die Städte sei. Man solle nicht denken, dass die leeren Plätze in Paris, Rom und Barcelona eine Entlastung für die Bewohner sei. Man solle nicht denken, dass das schöne Wetter eine Begleiterscheinung des Frühlings sei.

Jeder Gang nach draußen, nur noch ohne Handy, fühlt sich an wie ungeschützter Sex mit einem fremden Mann. Es kribbelt fast im Bauch, wenn auf dem Bürgersteig jemand entgegenkommt und ich nicht ausweichen kann. Das Öffnen einer Ladentür: ein Abenteuer. Vor dem Rewe drängelt sich eine alte Frau mit fettigen grauen Haaren vor uns in die Reihe. Die Reihe ist nur ein loser Zusammenhang, schwer zu erkennen, aber man dürfte es mittlerweile wissen, dass man beim Rewe nur noch reinkommt, wenn ein Einkaufswagen frei ist. Wir lassen sie vor. Drin überholen wir sie mit unserem Wagen und dafür rammt sie mir den ihren in die Seite. Ich kann sehr deutlich werden. Wer schützt uns vor denen, die geschützt werden sollen?

3.4.2020

Ein Freitagnachmittag wie er im Buche steht. Ich bin ausgesprochen früh zuhause, esse ein Eis aus dem Tiefkühlfach: Nuss und Schokolade, Tom isst mit. Leichter Wind in den Bäumen und Büschen.

Ein Vorteil dieser Tage fällt mir doch auf: Ich habe mehr Ruhe. Keine Termine am Abend, die mich mit der starken Sehnsucht nach Anregung, nach Gespräch, nach Nähe noch einmal auf das Fahrrad zwingen. Jeder Abend ähnelt sich, ich gebe zu, das ist nett. Jeden Abend etwas Gutes zu essen, ohne essen zu gehen. Werde ich Geld sparen? Zu dritt spielen wir ein Spiel oder sehen uns einen Film an. Ich erfahre etwas über Putin. Der Minister hat einen kurzen Film an uns Lehrer geschickt. Ich mag die Ansprache. Mitunter bin ich empfänglich für Sentimentalitäten. Am Wochenende will ich Ahornknospen ernten gehen, die soll man essen können. Junge Lindenblätter auch. Ich werde es versuchen.

4.4.2020

Ein ganz alltäglicher Samstag mit Kaffee im Bett und der Frankfurter Rundschau, die ich aus nostalgischen Gründen lese.

 „Google veröffentlicht Daten“, „Sperre für Generation 60+“, „Peru trennt Männer und Frauen“, „Bischöfe rügen Rüstungsindustrie“

Wie wäre es, wir trennen Junge und Alte, Kinder und Erwachsene, Blonde und Braunhaarige, Juden und Moslems? Dann kann man viel besser überblicken, wer wohin geht. Nicht mehr als zwei Menschen im öffentlichen Raum, wenn man nicht zu einer Lebensgemeinschaft gehört. Was ist mit der WeGe unseres Sohnes, in der sieben Menschen zusammenleben. Sie dürfen miteinander frühstücken und wenn sie raus gehen aber immer bitte schön getrennt. Am besten nach Weibchen und Männchen. Diverse dürfen an extra Zeiten raus. Meine Mutter geht gerade an Kontaktarmut ein, da hilft auch telefonieren nicht. Es soll verantwortungsvoll sein, sie nicht zu besuchen? Die neue Legierung, der alle ausnahmslos huldigen: Verantwortung und Distanz! In jeder Zeitung, in jedem Beitrag: Zeigt Verantwortung durch Distanz. Das ist Gehirnwäsche in reinster Form, alle machen mit und predigen, singen, klopfen und pfeifen (nein, das macht zu viel Spucke) die neue Zauberformel der Gesundheit wird überall in den Raum, der nur noch ein Video- und Textraum ist, gejodelt: „Zeig Verantwortung durch Distanz“. Stopp!

Jetzt mal ganz analytisch: Verantwortung ist ein Begriff, der sich auf dein Handeln und deine Handlungsbegründung bezieht. Du zeigst „Verantwortung“, wenn du dein Handeln nicht als ein unwillkürliches und eher reflexartiges beschreibst, sondern die Konsequenzen deines Handelns als die Konsequenzen deines Einwirkens akzeptierst und bereit bist, wieder mit diesen Konsequenzen umzugehen und zu handeln. Verantwortung ist also eine Haltung, die man anstreben kann oder im Nachhinein übernehmen kann für das, was man tut. Es gibt kein per se verantwortliches Handeln. Verantwortliches Handeln ist immer situationsbezogen und in Abwägung möglicher Folgen erfolgtes Handeln. Ich würde durchaus sagen, dass zur „Verantwortung“ im Sinne des verantwortlichen Handelns die Abwägung dazu gehört, welche Konsequenzen mein Handeln für die anderen und mich haben und sich Verantwortung darin zeigt, dass es möglichst allen Beteiligten nach meiner Handlung besser oder gleich gut geht. Soweit das Kriterium, das möglicherweise in der nun allseits wiederholten Formel „Verantwortung und Distanz“ enthalten sein könnte. Allerdings ist diese Abwägung immer eine einzelfallspezifische. Für mich – und ich unterstelle auch für meine Mutter – ist es verantwortlich, dass wir uns sehen. Das verantwortliche Handeln besteht in der Distanzvermeidung unter Berücksichtigung dessen, was das für andere, auch die, die nicht meine Mutter und ich sind, bedeutet. Unter Umständen muss ich also entscheiden, wen ich in den nächsten zwei Wochen nicht mehr sehen darf, wenn ich meine Mutter besuche. Die Gehirnwäsche besteht darin, dass „Verantwortung und Distanz“ kritiklos und situationsunabhängig, gebetsmühlenartig wiederholt wird und die, die so zu Objekten des verantwortlichen Handelns werden, gar nicht gefragt werden, ob sie solcherart verantwortliches Handeln wünschen. Eben nicht wie im Gebet müssen wir in dieser „Krise“ miteinander umgehen, sondern abwägend, diskutierend, besprechend, erörternd, plaudernd, disputierend, streitend und fragend. Wie viele Wörter des „Sagens“ das Deutsche hat! Das ist mir noch nie aufgefallen, dafür danke ich Covid-19! Jemand hat in einer Diskussion gesagt, die Deutschen wären so brav und würden immer das tun, was man ihnen sagt (ich weiß nicht genau, wer und was die Deutschen sind und ob es brav ist, wenn man tut, was man gesagt bekommt, es käme auch darauf an, ob man fragt, warum man etwas tun muss, dann fände ich das gar nicht brav, machen Sie den Versuch: Wenn Ihnen jemand an der Kasse sagt, gehen Sie bitte an die andere Kasse, fragen Sie mal: „Warum?“ Sie werden merken, das ist nicht brav, erst fragen, dann tun Punkt), wenn es so viele Wörter für dasselbe in einer Sprache gibt, dann zeigt, nein, dann beweist das, was diese Sprachgemeinschaft gerne tut: Streiten, diskutieren, besprechen…. Ich verlasse das Analytische: Tut es!

Verantwortung zu zeigen, Verantwortung zu übernehmen ist eine ausgesprochen schwere Aufgabe. Man kann sie sich nicht abnehmen lassen.

Ich beschließe, die Frankfurter Rundschau einzutauschen gegen Ronald Dworkin Punkt

5.4.2020

Ich komme nicht ganz ohne Zeitung aus. Allein schon der Bilder wegen. Ich habe eine Freundin, die genau deshalb immer wieder Spiegel liest oder las. Heute morgen lese ich die Biographie Woody Allens. Mich verbindet etwas mit Woody Allen. Ich hatte eine Liebschaft, die mehr als eine Liebschaft war. Es ist lange her, ich lernte gerade Auto zu fahren. Dieser Liebste las Woody Allen und wir schauten jeden Film von Allen (unsere Liebschaft währte länger, mindesten vier Filme lang, parallel zu anderen). Es gibt eine Szene in „Purple Rose of Cairo“, eine Szene mit Mia Farrow (da arbeiteten und liebten sie noch miteinander: Woody Allen und die) als Cecilia, da kichert sie in die Kamera. Als wir diese Szene sahen, nebeneinander im Kino, und wir sahen den Film danach noch zweimal gemeinsam, verliebten wir uns wieder ineinander. Der Mann, der mich zu Woody Allen brachte, zitierte diese Szene immer wieder und das war der Grund, warum ich nicht vom ihm loskam. Er kicherte selbst, davon konnte ich einfach nicht genug kriegen. Es war eine Szene, die uns begründete, warum wir uns liebten und warum es zugleich so hoffnungslos unmöglich war, es lange miteinander auszuhalten, weil unsere Liebe eben nur ein Kichern war, das sich nicht lange hält. Es war ein kurzzeitiges Einverständnis. Man kann niemanden gänzlich verurteilen, der einem diese Erkenntnis schenkt. Ich kann deshalb Woody Allen nicht ganz abhaken. Es geht einfach nicht, egal was er getan hat, wenn er etwas getan hat. Woody Allen kann nicht besonders gut schreiben, aber das kann er wirklich gut.

Liebe Susanne,

Im Moment denke ich über meine Verantwortung nach in dieser ungewöhnlichen Zeit – ich setze innerhalb der Familie auf Nähe und Kontakt (muss nicht eine Umarmung sein – obwohl wir sie alle gut brauchen könnten!!!). Und ich denke auch darüber nach, ob und wie ich mich einbringe, um meine im Moment freie Zeit anderen Menschen anzubieten. Wir gehen für die Nachbarin einkaufen, ich mache Radtouren mit meiner Schwiegertochter um sie aufzuheitern und ich spiele mit der Enkeltochter. Das ist für mich verantwortungsvoll gegenüber anderen Menschen.

Verantwortungsvoll mir selber gegenüber heißt, bewusst Kontakt aussuchen und evtl. auch mal zu meiden. Und – die Frage geht noch tiefer in mich hinein: wie gestalte ich gerade mein Leben und was denke ich – was wähle ich aus an Informationen, die ich hereinlasse? Über Medien, Sendungen …. ; und ich vermute mal, dass ich besonders aufmerksam meinen Gedanken zuhören kann und es mir manchmal gelingen mag, auch das Schöne zu denken, zu sehen, zu schmecken und zu riechen und tasten …. naja ganz ehrlich: meistens habe ich wenig Einfluss auf das, was ich da denke … und vielleicht ist diese Zeit die Einladung für das Erleben des Moments. Weil jeder Tag, der auf uns zu kommt, so ganz anders sein kann als das, was wir kennen – das Gewohnte bricht weg. Da tut es mir gut, mal inne zu halten – wie vorgestern im Garten als ich mich mit der Nase ganz nah an eine blühende Hyazinthe gesetzt habe und die Bienen mit ihren Pollensäckchen beobachtet habe – wie sie Blüte für Blüte abgeflogen sind! Ich wäre gern mit ihnen hinein in die Blüte gekrochen! Das war so bezaubernd – und hat mich lächeln lassen – und etwas Freude in mir freigesetzt.

Verantwortung und Distanz: Haben wir nicht auch dafür Verantwortung, dass in Moria auf Lesbos nicht alle an Corona, einfacher Lungenentzündung, Durchfall, Gewalt und Einsamkeit sterben? Ich weiß nicht, ob wir dafür die Verantwortung tragen müssen, wir könnten sie aber tragen. Manchmal zeigt sich die Verantwortung in Distanzüberwindung. Auf der Demonstration heute in Frankfurt und Berlin wurde zwei Meter Abstand gehalten. Warum musste sie aufgelöst werden? Die Antwort: „Es ist untersagt, sich zu versammeln“ darf nicht befriedigen. Ich kann keinen Zusammenhang zwischen gesundheitlicher Gefahr und friedlicher Demonstration in freundlicher Distanz erkennen. Demokraten wollen weiterdenken. Ich beende hiermit die kleine Einheit zu den Modalverben im Deutschen und zur politischen Lageeinschätzung.

6.4.2020

Ein kleiner Familienausflug auf dem Rad durch den Frankfurter Grünstreifen führt mich zu einer Beobachtung. Viele Leute schauen sich jetzt an. An einer Straße, die wir kreuzen, bleiben meine Männer und ich stehen und warten, bis der Passant, der uns entgegen kommt, vorbei ist. Die Stelle war etwas eng. Wir sehen ihn an, er schaut uns an. „Corona kriegen nur Weiße!“ Er lacht mich an.

Es gibt eine sehr schöne Weide an der Nidda. In die hinein hängte an Wäscheklammern ein Künstler kleine Läppchen aus Toilettenpapier. Es hielt nicht lange und irgendjemand hat es wieder abgehängt. Weiße Lagen im Wind. Eine andere zarte Lagenabschätzung.

7.4.2020

Ich bin nicht unsterblich: mich hat der Schnupfen gepackt oder die Allergie. Ich niese, huste, der Kopf ist dicht. Meine Haut um die Nase herum empfindlich. Wer krank wird, kann auch sterben. Wer lebt erst recht.

Es gibt eine sehr schöne Weide an der Nidda. In die hinein hängte an Wäscheklammern ein Künstler kleine Läppchen aus Toilettenpapier. Es hielt nicht lange und irgendjemand hat es wieder abgehängt. Weiße Lagen im Wind. Eine andere zarte Lageneinschätzung.

8.4.2020

„Solidarität nur dann, wenn es nichts kostet“, sagt mein Mann und schimpft über die Aussagen von einigen Politikern. Madonna badet in Milch und spricht von der allgemeinen Bedrohung durch das Virus: es gibt kein reich und kein arm. Auf der Berger hocken die Bettler vor dem Rewe und jemand aus der Schlange beschwert sich darüber, dass sie so nah dran hocken.

9.4.2020

Playback per Skype spielen. Wir probieren es: Gesichtsfluids, das geht so: Eine erzählt, wie es ihr geht oder was sie erlebt hat. Dann spielen die anderen drei das mimisch nach. Man muss den ganzen Bildausschnitt ausfüllen. Man schaut sich die drei Bilder der anderen an und sieht seine Geschichte oder sein Gefühl in den Gesichtern der anderen. Es gelingt ganz gut. Ich klatsche.

10.4.2020

Ein Feiertagfreitag. Was tut eine Lebensgemeinschaft, die nicht zur Gundelhardt spazieren, dort einen Erdbeerkuchen mit Sahne essen und wieder zurückspazieren darf? Wir drehen kurze Videos. Wir lesen Gedichte im Garten und nehmen uns dabei auf. Gedichte allein und still zu lesen, hat mich nie beglückt. Hatte auch keine Geduld dazu. Aber sie im Garten vor dem kleinen Publikum zu deklamieren, macht doch Spaß. Im Hintergrund die unverschämten Spatzen, die so laut meckern, dass man sein eigenes lyrisches Wort nicht hört. Meine Vorlieben schwanken zwischen Johann Wolfgang Goethe und Heinz Erhardt. Man muss sich bei Gedichten nicht festlegen, dafür sind die Texte zu kurz.

Am Morgen bei der Tasse Kaffee habe ich in einem alten Korb von mir nach Fotos von meinem Vater und meinen Großeltern gesucht. Ich besitze nicht viele, aber doch zwei bis drei, die interessant sind. Mein Urgroßvater war kleiner als meine Urgroßmutter. Ein kleines, dünnes Männchen mit Hut und einem Schnauzer. Er soll Erfinder gewesen sein. Ein Foto von meinem Großvater, dem an der rechten Hand die oberste Kuppe des Zeigefingers fehlte. Man erkennt es auf dem Foto. Er hat auf allen vier Fotos eine Zigarre im Mund. Daran kann ich mich auch erinnern. Eine Ausnahme bildet das Hochzeitfoto meiner Großeltern. Keine Zigarre. Die Zigarrenangewohnheit und die fehlende Fingerkuppe muss er aus dem Krieg mitgebracht haben, aus Russland. Mein Vater kannte ihn in den frühen Jahren seiner Kindheit nicht, er war 1941 geboren worden. Als mein Großvater aus russischer Gefangenschaft zurückkam, war mein Vater schon in der Schule. Er lehnte seinen stillen, mürrischen und zunächst auch sehr hageren Vater ab. Der dankte das mit der späteren Ablehnung seines jüngsten Sohnes, meines Vaters. Er war ihm nicht erfolgreich genug, außerdem war mein Vater Trinker. Ich liebte beide. Es geht mir mit ihnen so wie mit Woody Allen. Ich kann ihnen nicht böse sein, nicht ernsthaft böse, obwohl sie wahrscheinlich alle drei Dinge taten, die ich ablehne. Deutsche Geschichten (mit Ausnahme von Woody Allen) an deutschen Gedichten im Frühling zu 2020.

11.4.2020

Ich habe im Garten aufgerüstet. Meine Freundin hat mir Vogelknödel vom Samen-H. aus der Innenstadt mitgebracht. Es sind Gourmetknödel und tatsächlich: Die Blaumeisen lassen nicht lange auf sich warten. Seitdem ich gelesen habe, dass Kohlmeisen im Pulk schon mal andere Kleintiere jagen und verspeisen, finde ich Meisen nicht mehr nur niedlich und putzig. Es handelt sich aber bei dem beobachteten Exemplar im Garten um eine kleinere Blaumeise. Sie ist allein. Es droht keine Gefahr. Ein Rotkehlchen scheint sich auch keiner Lebensgefahr bewusst zu sein und sucht im Garten nach Fressbarem. Die Spatzen zanken sich um den einen Knödel am Kirschbaum. Es ist eine zänkische Art und die ganze Horde fällt am Morgen in den Garten ein, um die Ameisen vom Ahornbaum zu picken. Sehr nett auch, dass sie unter dem Kirschlorbeer kleine Sandbäder gebuddelt haben, in denen sie sich am Nachmittag zu dritt und viert suhlen. Die trockene Erde staubt kräftig. Ich werde da nichts pflanzen. Gegen Hygiene ist nichts einzuwenden.

Der Bornheimer Markt ist verlegt worden. Das getümmelige Gedränge auf der Berger rund um den Uhrturm hat – Corona sei Dank! ein Ende. Heute auf dem Markt auf dem Platz vor der Eissporthalle habe ich zum ersten Mal ein Mundschutz getragen. Eine Maske. Es ist viel los an einem Samstagvormittag in Bornheim. Ich musste vor dem Markt noch zur Bank. Mathias hatte vor ein paar Tagen vier Tücher mit einem hessischen Spruch darauf bestellt und fand es wohl witzig. Ich habe es ausprobiert. Das Tuch rutschte mir dauernd von der Nase und es kam mir nach der Entgegennahme von mehreren Papiertüten, Gemüse- und Obststücken nicht mehr allzu Abwehr-affin vor, das blauweiße Tuch mit dem modischen Frankfurtmuster und dem lustigen Spruch mit der ungewaschenen Hand immer wieder über die Nase zu ziehen. Ich war nicht sicher, ob das nicht vielleicht der Fall wäre, dass ein bisschen Sicherheit schlechter als gar keine Sicherheit sei. Auf dem Fahrrad nach Hause spürte ich, wie verloren ich mich in diesen unterschiedlichen Einschätzungen fühle. Normalerweise komme ich gut damit zurecht, dass ich Dinge nicht einschätzen kann und ich weiß, dass ich nichts weiß. Auch meine Meinung zu Woody Allen, die sich durch die Lektüre seiner Biographie noch stärker verflüssigt hat, lässt mich ruhig schlafen. Ich muss nicht immer wissen, wie etwas real gewesen ist oder noch ist. Meist vertraue ich auf mein eigenes Urteil bis zum Beweis des Gegenteils. Aber das lustige Nasen-Mund-Halstuch hat mich verunsichert. Vielleicht sollte ich mir doch endliche eine Maske zulegen? Ich halte Woody Allen für unschuldig, aber ich kann es selbstverständlich überhaupt nicht wissen.

12.4.2020

Unter den Fotos, die ich von meinem verstorbenen Vater habe, lagen fünf Impfnachweise. Sie sind in den Vierzigern und Fünfzigern ausgestellt. Mein Vater und meine Großmutter wurden gegen Diphterie geimpft. Alles in dieser Schrift, die nach einer untergegangenen Welt aussieht. Auch finde ich ein Sterbedokument von einer Schwester meiner Großmutter, die 1944 auf dem Eichberg an Herzschwäche bei Gebärmutterkrebs gestorben sei. War das nicht eine Nervenheilanstalt, in der Menschen ermordet wurden, die eine Behinderung oder eine psychische Erkrankung hatten? Ich wittere eine spannende Geschichte. Ein falsch abgelegtes Dokument? Neben der Anstalt, in der hunderte Kinder und Erwachsene ermordet wurden, gab es auch ein Ausweichkrankenhaus für die Wiesbadener. In der Geschichte wohnt immer alles gleich nebenan. Ich lese die Geburtsurkunde meiner Großmutter vor: Frida Margarete Roth, Vater: Tagelöhner. Das ist doch mal ein Beruf. Aber auch die andere Seite der genetischen Disposition hat etwas zu bieten: Mein Ururgroßvater war Ulane und diente in Bad Schwalbach, vermutlich im Kampf gegen den Erbfeind Frankreich. Der Bruder meines Großvaters, der endlich mal einem ehrbaren Beruf nachging, er war Konditor und Koch, diente in Nordafrika unter Rommel. Stolz posiert er in seiner Wehrmachtuniform. Er blieb in Afrika. Eben noch posiert, schon tot. Ich orientiere mich in meinen Männervorlieben eindeutig anders: alles Männer, die Zivildienst geleistet haben oder untauglich waren. Die meisten heute auch noch Vegetarier. Ich mag Männer, die es nicht mit dem Morden und Schlagen haben. Frauen auch. Echte Ehrenmänner und -frauen. Andere kenne ich nicht, finde ich aber auch gut. Heute ist Ostersonntag, da werden Eier gesucht, nicht Geschichten.

Meistens endet die Eiersucherei damit, dass wir einen Nestwettbewerb veranstalten. Wer hat das größte und schönste. In diesem Jahr gewinnt das Nest mit den Hackeln und den Löwenzahnblüten auf Grasresten, in der Mitte eine Blüte, so groß wie ein ausgewachsener Adventskranz. Im letzten Jahr gewann ein anderer, nur ich gewinne nie. Aber das ist okay, ich verteile die Schokolade. Die Übertreibung hat in dieser Familie ein Zuhause.

13.4.2020

Ich übe „Freude schöner Götterfunke“ auf der Mundharmonika. Man erkennt die Melodie. Ich werde bis zum nächsten Balkonkonzert weiter üben. Draußen verdunkelt es sich, na endlich mal schlechtes Wetter. Zur Aufhellung des Ostermontags melde ich mich freiwillig (Restbestand meiner militärischen Familiengeschichte) zum Croissant-holen. Mit dem Riesenschirm meines ehemaligen Kollegen Felix, den ich für ein halbes Jahr in einem Carsharingauto verloren hatte und kürzlich wiederfand, als ich just dieses Auto wieder einmal auslieh und mir der Schirm entgegenfiel mit einem Klebeband dran, der Besitzer dieses Schirms möge endlich den beschissenen Schirm rausnehmen, was ich sofort tat, weil der Schirm riesig ist und in Deutschland super zum Einsatz kommen kann, mit diesem Schirm also ging ich zum Café auf der Bergerstraße. Die Schlange vor dem Geschäft reicht bis zur Straße, quer über die Fußgängerzone. Ich entscheide kurzfristig zum Café Wacker zu gehen. Da ist nichts los und die Croissants sind auch erstklassig.

Eigentlich schade, dass es keine Wehrpflicht mehr gibt. Das ist ein glasklares Kriterium für die Partnerwahl gewesen: die einen machen ungefragt Kriegsdienst, die anderen putzen alten Leuten den Arsch. Haben wir damals so gesagt. Das ist gemein, ich weiß, aber die, die putzten, hatten bei mir eindeutig mehr Punkte. Und nicht nur bei mir. Ich kenne viele Frauen, damals junge Mädchen, bei denen die Memmen eindeutig im Vorteil waren. Das war also der Benefit. Heute ist es schwieriger so eindeutig zu kategorisieren. Mittlerweile gibt es ja auch viele Soldaten, die vom Einsatz in Kriegsgebieten traumatisiert sind und darüber sprechen. Das ist mir in gewisser Weise sympathisch. Ich wäre sicher traumatisiert, wenn ich in Afghanistan oder Mali erleben müsste, was einfache Soldaten und die Zivilbevölkerung erleben muss. Mir reichen die Berichte. Ich verspüre keinerlei Wunsch, dort im Einsatz zu sein. Allerdings habe ich mittlerweile auch Hochachtung vor diesem Einsatz. Das hat sich zu den 80er und noch 90er Jahren eindeutig verändert. Veränderung ist also möglich! Die Wehrmachtseinsätze bewundere ich nach wie vor nicht. Keinen einzigen. Ich fand es auch ein bisschen ungerecht, dass ich nicht verweigern durfte, weil es keine Wehrpflicht für Frauen gab. Die Isrealis sind da konsequenter. Allerdings würde ich sicher verweigern, auch wenn ich Israelin wäre, weil ich vor Jahren schon einen Roman einer israelischen Schriftstellerin gelesen habe, in dem es auch um den Militärdienst ging und das schreckte mich ziemlich ab. Ich weiß, dass ich als Israelin nicht verweigern dürfte. Offensichtlich bin ich allen Organisationen gegenüber, die Gehorsam verlangen und mit kämpfen zu tun haben, eher kritisch eingestellt. Jetzt werden irgendwelche Freunde von mir, die nicht in der Schule arbeiten, sofort dazwischen quatschen: „Wie kannst du dann in der Schule arbeiten?“ Mein Bild vom Bildungssystem ist eindeutig romantisch. „Alle Menschen werden Brüder!“ finde ich besser. Ich fühle mich da inbegriffen, wenn ich auch eine Schwester wäre und bin. Schiller kannte noch kein gendern.

14.4.2020

Das ist auch so ein Thema, mit dem ich so langsam meinen Frieden geschlossen habe. Ich habe akzeptiert, dass die meisten meiner Kolleginnen und Kollegen jetzt alles mit dem * schreiben: Schüler*innen und auch so sprechen. Das gelingt den meisten aber noch nicht durchgehend. Ich bleibe einstweilen bei meiner Einsicht, dass die Pluralbildung in der einfachen Form niemanden ausschließt. Ich fühle mich immer angesprochen, wenn jemand sagt, Lehrer sind doof. Wenn jemand sagt, Frauen seien doof, fühle ich mich auch angesprochen. Wenn jemand sagt, Menschen seien doof, auch. Ich fühle mich eigentlich nicht richtig angesprochen, weil ich mich ja nicht doof finde, aber ich fühle mich unter Umständen angesprochen. Ich finde, die Sprache ist nicht nur Medium der Erkenntnis, sondern auch der Kunst. Deshalb mag ich auch nicht „Lehrkräfte“ oder „Studierende“ für Lehrer und Studenten sagen. Es bedeutet doch etwas anderes und ist so abstrakt. Der Satz: „Die Studenten saufen und demonstrieren zu viel“ hat doch eine ganz andere Wirkkraft als „Die Studierenden…“ oder „Die Student*innen…“ Muss ich jetzt sagen, dass ich gar nicht der Meinung bin, dass Studenten zu viel demonstrieren und saufen? Ich habe dazu keine Meinung. Es ist nur ein schöner Satz mit Wirkkraft. Wenn man etwas auch schön oder kraftvoll oder pointiert oder besonders akzentuiert oder besonders sensibel sagen möchte, kann man es nicht allen recht machen. Deshalb geht „gendern“ nicht immer. „Alle Menschen werden Brüder“ darf meiner Ansicht nach genau deshalb so bleiben, weil in der Kürze die Kraft liegt. Heute würde Schiller sicher etwas anderes dichten. Das könnte auch schillernd schön sein.

Auf einer Fahrradtour zum Rhein sind wir heute an vielen Plätzen vorbei gefahren, die wie eine Kulturgalerie erschienen: Gartenzwerge, Plastikostereier im Vorgarten, Opel, moderne Brücken, Schotterhaufen, Parkplätze. Ein Querschnitt durch Deutschland.

15.4.2020

Wieso sind die deutschen Ortschaften meistens viel hässlicher als die französischen und italienischen? Ich denke, es liegt daran, dass Deutschland keine Renaissance hatte. Am Main entlang kommt man nicht nur an Vorgärten mit den putzigsten Tieren und Zwergen vorbei, die in Betoneinfassungen und zwischen griechischen Skulpturimitationen stehen. Man schnurrt bei wunderbarem Sonnenwetter über weißstrahlende Schneckenbrücken, über Metallgitterstege, an Industriestandorten entlang. Schaut man in Kelsterbach in die Fenster, strahlen uns die frischgewaschenen Gardinen an. Deutschland hat keine architektonische Verabschiedung des Mittelalters gehabt, aber soviel Industrie, dass jeder ein schönes Auto fahren kann. Fast jeder. Wir fahren mit dem Fahrrad weiter bis zur Mainspitze, von der aus man auf die Hohe Wurzel, Mainz und Wiesbaden blickt. Das ist wunderschön.

Liebe Susanne,

Fraxinus orbis 

Es ist erstaunlich, welche Strategien die Mutation von Fraxinus orbis entwickelt hat, um Homo sapiens sapiens als führende Spezies auf der Erde abzulösen. Als wir die Entwicklung zu spät1 erkannten, gelang es – wie wir alle wissen – nicht mehr, sie einzudämmen oder rückgängig zu machen. 

Noch vor vierzig Jahren war Fraxinus orbis bloß Fraxinus ornus, die Mannaesche, ein gewöhnlicher, lokal bekannter, im Kaukasus und der Türkei beheimateter Baum. In neuer Gestalt hat er sich nun die Welt untertan gemacht. Die Verwandlung ging schleichend vor sich. Ganz unbemerkt hat Fraxinus orbis im Rahmen des internationalen Pflanzenhandels und der vegetativen Globalisierung seine Reise um die Welt angetreten und auf allen Erdteilen Platz in Gärten, Pflanztöpfen und schließlich sogar Wäldern gefunden. Am Anfang der Expansion standen eine unkrautartige Keimfähigkeit, gepaart mit einer extrem verkürzten Entwicklungszeit. Zunächst blühten und fruchteten die Bäume noch als Zwergform, lieblich und Wohlwollen erregend. Sie machten sich in wenigen Jahren als niedliche Bonsaiexistenzen im Pflanzenbestand breit. Die Bekämpfung war auf den ersten Blick einfach. Es ging nur darum, das Baumkraut auszureißen. Das stellte sich jedoch als unerwartet mühevoll heraus. Die ausgestreuten Samen keimten nicht auf einen Schlag, sondern nach und nach in einer Kettenreaktion. Eine nicht vollständig entfernte Wurzel schlug mehrfach wieder aus. Zudem war die Pflanze zunächst kaum zu bemerken. Am Anfang waren nur bei genauerem Hinsehen zwei runde Keimblätter zu erkennen, die leicht mit anderen Pflanzen zu verwechseln waren. Danach entwickelten sich in allen Regenbogenfarben schimmernde Rosettenblätter mit drei bis sieben Fiedern3. Sie waren geeignet, auch das abgehärtetste Gärtner- und Bauerngemüt zu betören. Bezaubert und verwirrt, versagte vor solcher Zartheit auch wilder und entschlossener Vernichtungswille. Dann folgte das Endblättchen, etwas größer und typischerweise rauten- oder nierenförmig. Die rosa- bis blassvioletten Blütchen reckten sich nun auf langen, sanft gebogenen Stielen empor. Und wer auch immer es vermochte, sie manuell zu entfernen: Aus ihren Wurzelresten schlug Fraxinus orbis immer wieder von Neuem auf. Und am Ende, wenn gar nichts mehr half, bloß noch boshafte Zerstörungswut herrschte, vermochten die Reste des ohnehin nicht stark ausgeprägten, eher spinnennetzartig zarten Wurzelwerks, auch einen Ortswechsel vorzunehmen. Sie verbargen sich im Fell der Maulwürfe, ritten auf Regenwürmern davon oder ließen sich von Eichhörnchen an neue Standorte verbringen. Letztlich schien der Kampf gegen den Baumzwerg nicht der Mühe wert. Er tat ja niemandem etwas und wurde so nur halbherzig und weitgehend lustlos verfolgt. Ja, viele ließen nicht davon ab, ihn ob seiner Schönheit zu preisen! Kurz, wo Fraxinus orbis ankam, da blieb er auch. 

Dann aber, nach Jahren vorsichtiger Ausbreitung, schoss überall die zweite Welle aus dem Boden, zwanzig, dreißig, vierzig, fünfzig Meter hoch, ein weltumspannendes Laubdach entfaltend, städte-, mauern-, straßen-, pflastersprengend, zivilisationszerstörend. Die atemberaubende Geschwindigkeit der Verbreitung wurde durch die Entwicklung eines Schleudermechanismus unterstützt, der die zahlreichen, in riesigen Schoten enthaltenen Samen von Fraxinus orbis über viele Kilometer hinweg zu verteilen vermochte. Manche der Samen gelangten in Wolken bis in die Stratosphäre und erstreckten sich – die Sonne wie Asche verdunkelnd – über Hunderte von Kilometern. Im reifen Zustand genügte schon ein Windhauch, das Vibrieren eines Schmetterlingsflügels, das Zittern eines Blatts, ja, ein unbewusstes gedankliches Berühren, um das explosive Hinausschleudern auszulösen.  

Unser Schicksal als Weltenherrscher war besiegelt, und doch lässt sich diesen lästigen Pflanzen auch von uns Nachgeborenen, zweitrangigen Baumdienern, etwas Gutes abgewinnen. Denn die jungen und sogar die schon etwas größeren Bäume sind als Ganzes essbar. Fraxinus ist im Geschmack der bitteren Gartenkresse vergleichbar und lässt sich auch in ähnlicher Weise wie Kresse verwenden: als Zugabe zu Salaten, als Brotauflage oder in Verbindung mit Streichkäse oder Leberwurst. Typisch ist in jedem Fall der leicht pfeffrig-senfige Geschmack, von dem je nach Landstrich verschiedene Varianten bekannt geworden sind. Blätter, Stamm, Äste und Wurzelwerk von Fraxinus orbis haben sich allesamt als überaus nahrhaft und gesundheitsfördernd erwiesen. Es lässt sich aus dem Stamm des erwachsenen Baumes zudem ein erfrischender Trunk zapfen, der – in Gärung versetzt – angenehm rauschhafte Zustände und Wahrträume zu erzeugen vermag. Sie sollten sich also niemals ärgern, wenn Sie einem Fraxinus orbis begegnen, denn Sie haben – zumindest theoretisch – die Möglichkeit, ihn kulinarisch vollständig zu entsorgen4. Der Engländer nennt den Baum „man-suckling bittertree“, womit auf seinen Geschmack ebenso wie auf die Bitterkeit des Schicksals, das Fraxinus orbis der Menschheit bereitet hat, angespielt ist.  

1 Eine frühe, hellsichtige Beschreibung des Problems findet sich bei T. Bay in Eisenbahn Landwirt 4/2020 (103. Jahrgang), S.106. 

3 Hier und im Folgenden in Anlehnung an Bay, 2020.

4 Siehe Bay 2020, der tragischerweise nur wenige Jahre nach seiner Entdeckung bei dem Versuch, der Katastrophe schwimmend zu entkommen, vor San Francisco ertrank. 

16.4.2020

Himmel Herrgott, ich kenne diesen Fraxinus Orbis nicht. Aber es wird mir Angst und Bange davor, dass sich so einer in unserem Garten aussetzen könnte. Etwas, das nicht aufzuhalten, nicht zu stoppen, nicht kleinzukriegen ist. „Alien“ in echt. Das ist ja noch schlimmer als der Klee und das Moos. In letzter Zeit werde ich häufig von Mathias gefragt, ob ich keine Angst habe. Doch, schon, vor noch mehr Gartenzwergen und Gardinen habe ich Angst. Vor ertrinkenden Eisbären. Ich mag Eisbären, obwohl ich auch vor lebenden Eisbären auf freier Fläche begründete Todesangst hätte. Segourny Weaver ist eine Heldin meiner Jugendtage wie Pippi Langstrumpf und später Lou Andreas-Salomé und Hannah Arendt. Es gibt ein tolles Foto meiner Mutter mit einem Eisbären vom Tag ihrer Einschulung, glaube ich. Sie steht da ganz gerade in einem entzückenden Kleidchen und blonden Zöpfen zu Schnecken gebunden neben diesem Eisbären und lächelt verschämt in die Kamera. Sehr brav. So brav war sie wohl danach nie mehr. Die Brav-Reserven waren danach aufgebraucht. Wenn sie Schauspielerin geworden wäre, hätte sie Segourny Konkurrenz gemacht. Mein Liebster neben mir sagt, dass meine Fantasie mit mir durchgehe. Brav solle nach 1945 einfach niemand mehr sein, antworte ich. Wenn ich Eisbären und Flüchtlinge vor dem Ertrinken damit retten könnte, ich schwöre, ich würde kein Auto mehr fahren. Heute kommt der Gärtner und wird den Rasen vertikutieren. Ich werde ihn bitten, die Unkrautecken stehen zu lassen, aber auf Fraxinus sollte er achten.

Gärtner heutzutage sind unter Umständen attraktive Kerle. Bart, tätowiert, hellblaue Augen, könnte auch an der Bar in irgendeinem Club stehen. Die Adjektive, die man viel passender fände: knarzig, zotig, rau, derb, wortkarg oder was einem sonst noch so zum Typ Gärtner und Baumschneider einfallen mag, stimmt alles nicht. Mal sehen, ob er es schafft, aus unserem kargen Boden die Gräser sprießen zu lassen. Wir halten Abstand. Jemandem die Hand zu geben – auf die Idee komme ich schon lange nicht mehr. Mittlerweile habe ich auch gelernt zu erkennen, wann ein Treffen zuende ist, ohne dass man „Auf Wiedersehen“ sagt. Man sagt immer „Bleiben Sie gesund!“ Ein Freund von mir sagte kürzlich: „Bleibt schön!“, das war auch nett. Dann trennt man sich.

17.4.2020

Wir streiten uns heftig. Darf man noch mit der S-Bahn fahren oder lieber gar nicht mehr. Corona steht zwischen uns. Es knallen Türen. Die Details zur Ansteckung, die medizinischen Begriffe sind jetzt Waffen in einem Ehedrama und man weiß die Wissenschaft als Streitmacht hinter sich. Einer fragt: „Um was geht es eigentlich?“ Corona verschwindet aus dem Raum und wir sind wieder allein miteinander.

Nachdem die Politik entschieden hat, dass die Schulen am Montag noch keinen Teil- und schon gar keinen Vollbetrieb machen dürfen, kürze ich meinen Urlaub zwischen Mainz und Kirschbaum im Garten ab. Es gilt heute Pläne für die nächsten Wochen zu machen, mit einem Menschen zu sprechen, der uns eine Lernplattform vorstellt, meine Mails zu beantworten und neue zu schreiben. Rechnungen müssen eingereicht werden und Unterricht per Netz muss vorbereitet werden. Ich werde bis 17 Uhr beschäftigt sein, die Männer müssen heute den Rasen gießen.

Am Abend kommen wir auf einer Wiese an der Nidda zusammen. Die Nidda schlängelt sich an dieser Stelle in ihrem Altarm um sich selbst und ein Biber hat sich dazwischen breit gemacht. Wie kann das Tier in diesem Getümmel in Ruhe Bäume fällen? Und das tut es. An dem abgestandenen Nebenarm sind die Bäume angeknabbert und verarbeitet.  Die Bissstellen leuchten hellgelb. An ein paar Bäumen hat der Biber nicht mehr weitergearbeitet, der Baum hat jetzt ein fein ausgeschliffenes Loch im Stamm. Wir setzen uns unweit von der Stelle auf die Wiese und spielen Frisbee, während die Sonne untergeht. Finn kommt später dazu. Auf dem Weg radeln Menschen hin und her. Manche telefonieren, manche rennen oder joggen, einige schlendern. Eine schwört am Handy dreimal auf seine Mutter. An unübersichtlichen Stellen wartet man geduldig. Im Dunkeln radeln wir nach Hause.Auf der Ludwig Landmann Straße wechseln wir die Straßenseite und stehen vor einem großen Gebäude, vor dem viele Menschen in Schlappen stehen: Kinder, Männer, Jugendliche. Es muss hier einen schmalen Weg nach Bockenheim geben. Ich erinnere mich nicht mehr genau, wo der Abzweig war. Wir sehen uns kurz um. Auf dem Mittelstreifen der breiten Fahrbahn an der U-Bahnhaltestelle lungern ein paar Kinder herum und pulen an abgestellten Fahrrädern. Der eine hat Schippe und Besen in der Hand. Hinter uns bremst ein Polizeiwagen an der Ampel, zwei junge Polizisten eilen aus dem Fahrzeug, die Türen bleiben offen, sie rennen einem acht oder neun Jahre alten Jungen hinter her. Einer schnappt ihn und hält ihn von hinten umarmt. „Das darfst du nicht machen. So geht das nicht“, ermahnt der Beamte ihn fast liebevoll. Der Junge wehrt sich nicht. Die Umarmung ist vorbei. „Wenn der Junge aus einem Kriegsgebiet kommt, wird es für ihn bedrohlich sein, wenn ihm im Dunkeln ein Polizist hinterher rennt“, meint Mathias. „Ja“, antworte ich. Mir drehen sich die Gedanken. Was ist bedrohlich? Bedrohlich ist, wenn eine friedliche und unter Coronabedingungen angemessen geschützte Demonstration am hellichten Tag aufgelöst wird. Bedrohlich ist, wenn  mir im Fernsehen geschildert wird, wie schmerzhaft und quälend diese Krankheit im Körper wütet, bedrohlich ist, dass eine Beatmungsmaschine oft zu spät eingesetzt wird und die Nebenwirkung hat, dass sie das Lungengewebe angreift, bedrohlich ist, dass ich mit meinem Liebsten über die Frage streite, mit wem ich mich treffen soll, bedrohlich ist, dass es plötzlich eine moralische Norm der sozialen Enthaltsamkeit gibt. Ich kann gar nicht auseinanderhalten, was bedrohlich ist und was bedrohlich erscheint. Ich beschließe noch einmal mehr zu beobachten.

18.4.2020

Es ist momentan sehr einfach sich zu verabreden. Ich habe abends nie etwas vor. Wir spielen Tischtennis auf dem Küchentisch. Ich schaue den Jungen und wenigen Mädchen beim Besteigen des Flugeuges zu, das sie nach Deutschland bringt. Es sollte nur ein Anfang sein.

19.4.2020

Ich habe dreimal das Match am Küchentisch gewonnen. Ich werde besser!

Liebe Susanne,

Anruf vor einigen Tagen: Der Pflegedienstleiter des Altersheims, in dem meine Mutter (87 Jahre alt) wohnt, ruft an. Er braucht eine Entscheidung von den Angehörigen, das heißt meiner Schwester und mir. Hintergrund: meine Mutter hat Gallensteine und soll weiter mit Medikamenten behandelt werden. Sie war eine Woche im Krankenhaus (ich konnte sie täglich besuchen und erleben wie mit einer Frau umgegangen wird – die selbst nicht mehr laufen kann, sich selbst kaum äußern kann weil sie den Ärzten und dem Pflegepersonal gedanklich nicht so schnell folgen kann – und wenn sie auf einer überfüllten Station liegt und nebenher versorgt wird, die Ärzte kaum ansprechbar). 

Meine Mutter: ist sehr ruhig, angepasst, fügt sich ihrem Schicksal – damals wie heute!  Jetzt hat sie wieder Symptome, die gründlich untersucht werden müssten und evtl. sogar eine Operation ansteht.

Mit meiner Mutter in Ruhe darüber zu sprechen: geht nicht! Besuchsverbot in den Heimen! Am Telefon erkennt sie mich und meine Schwester nicht. Also Gespärche mit Pflegedienstleitung und Hausärztin – und viele Recherchen! Recherche um abzuschätzen was es bedeutet, sie jetzt ins Krankenhaus einweisen zu lassen, ohne mögliche Begleitung oder Besuchskontakt – dann zwei Wochen Quarantäne und ohne zu wissen, ob ein Krankenhaus im Moment überhaupt operiert. So schlecht geht es ihr im Moment nicht, dass es ein Notfall ist. Und ebenso Recherche über die Folgen eines Nicht-Handelns gesundheitlich, ethisch … ! Und die Frage ob und wie man eigentlich in einem Krankenhaus vor Corona geschützt ist – als Frau mit 87 Jahren? Wo doch alle älteren Menschen zu Hause bleiben sollen!!!

Gespräche, Familienkonferenzen, eigenes Gewissen befragen  … dann auch aktuellen Bilder von dem Notstand von New York im Kopf und die Erfahrungen von den Krankenhausbesuchen der letzten Jahre. Dann die Frage wie meine Mutter entscheiden würde, wenn sie die Situaion realistisch einschätzen könnte!

Wie würden Sie entscheiden?“ So eine Frage stellt sich im Leben nicht oft in dieser Brisanz – für mich ist sie gerade aktuell!
Mir scheint dass genau diese Frage von jedem Menschen auch anders bewertet wird. Jeder Mensch hat zur eigenen Mutter einen anderen Bezug, erlebt medizische Versorgung und Krankenhaus ganz anders.

„Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen sie ihren Arzt oder Apotheker!“ – ganz nach diesem Werbeslogan haben wir gehandelt … uns beraten und eine Entscheidung getroffen: sie bleibt vorerst in der Altenhilfeeinrichtung.

20.4.2020

Es gibt Gespräche, die hätte ich lieber nicht gehabt. Sie haben zu nichts geführt oder ermüden mich. Ich bleibe zurück mit dem Gefühl, mich nicht verständlich gemacht zu haben und an einer Tür abgeschmettert zu sein. Das ist ein Hauch Ohnmacht in einer Frage, die meine tägliche Arbeit elementar beeinflusst. Ich kann mir selbstverständlich erklären, warum Menschen nicht immer einer Meinung sind und welche unterschiedlichen Interessen dazu führen, dass man aneinander knallt. Wie schafft man es, seinen Gemütszustand nicht von den Bedingungen, unter denen man arbeitet, abhängig zu machen? Ich lese Spinoza. Ich schreibe einen Satz.

21.4.2020

Ich bin noch beschäftigt mit diesem Gespräch, von dem ich nicht weiß, für was es gut war. Immer wieder bin ich das Gespräch durchgegangen, habe Rede und Gegenrede gecheckt und komme zu dem Schluss: Ich habe versucht, etwas verständlich zu machen, aber Verständnis gab es keines. Wie mein Liebster sagt: Hier knallen nicht Personen aufeinander, sondern knallharte Interesse. Der eine will ein Problem vom Tisch haben, und du willst es nicht lösen. Ich kann also getrost meinen Ärger rollenkonform abstreifen. Aber es dauert. Ich gehe es wieder und wieder durch. Habe ich mich umständlich ausgedrückt. Warum habe ich das nicht gesagt, das hätte sicher überzeugt. Warum fällt mir das erst jetzt ein. Ich habe das doch sehr klar formuliert. Ich habe keine Antwort bekommen. Denn auch das Gegenüber weiß nicht, wie das Problem, das gelöst werden soll, gelöst wird. Ich grüble. Mein erster Sohn grübelt. Mein zweiter Sohn grübelt. Mein Mann grübelt. Ich grüble. Herrgott, was sind wir für eine Familie? Immerhin: wer grübelt, bringt keinen um. Ganz langsam bekomme ich wieder klare Sicht. Ich spreche alles mit meiner Kollegin durch. Ich spreche es noch einmal mit mehreren Kolleginnen durch. Ich spreche es mit einer Freundin durch. Durch manche Krisen kommt man nicht schnell. Durch andere langsam.

22.4.2020

Die erste Textlücke. Meine Stimmung ließ es nicht zu, über meine Stimmung zu schreiben. Ich konnte nur an einem sehr langen Text, eine Art Roman, arbeiten und schreiben. Ich bin fasziniert von Forschern und Insekten. Es ist eine Erzählung über einen Biologen in Costa Rica. Sie trägt den Titel „Vierfüßler“. Ich mag den Helden. Obwohl er sehr verquast ist. Gerade deswegen. Wenn ich fertig bin mit einem Text, ist es, als würde ich von einem Geliebten Abschied nehmen. Das ist schrecklich. Deswegen ziehe ich es in die Länge.

23.4.2020

Eine Freundin aus dem Süden Deutschlands schreibt mir, ihre Mutter sei gestorben. Ich kenne sie schon sehr lange und kenne viele Müttergeschichten von ihr. Wir teilten unsere Mütter. Jetzt teilen wir die Geschichte um den Tod ihrer Mutter. Es tut mir leid. Auf die Ferne kann mir etwas sehr leidtun. Ich bin traurig, dass diese Geschichte jetzt zuende geht. Ich teile meine Mutter gerne weiter.

24.4.2020

Ich habe Husten. Hustenanfälle. Am Morgen und auch tagsüber. Sie begleiten mich schon seit Jahren, aber ich mache mir jetzt Sorgen. Ich reagiere auf etwas, das in der Luft liegt, aber auf was?

Mit Freunden teile ich Geschichten. Lange und kurze. Manchmal sind sie sehr kurz. Deswegen sind mitunter auch Kollegen fast Freunde. Ich kenne so viele Geschichten von Kollegen. Gestern haben wir in einer nicht virtuellen Sitzung Videos über das Erstellen von Mund- und Nasenmasken geteilt. Da hat jemand eine Unterhose zu einer Maske verarbeitet. Wir lachten uns Tränen, als wir uns die verschiedenen Unterhosenmodelle zu Mundmasken dachten. Meine Kollegin erzählte, ihre Schwiegermutter schicke ihr solche Videos. Eine andere fand den String der Freundin ihres Sohnes auf der Heizung. So kamen wir von einem zum nächsten und lachten vollkommen ungeschützt und wahrscheinlich gar nicht mehr im Einklang der Abstandsregeln. Denn Lachen, Joggen und Singen dürften sehr gefährlich sein auf 1,5m. Das verbindet.

Im Eissalon stehen die zwei Italiener mit ihren Masken, die ihnen bis an die Nase reichen. Zum Ausgleich haben sie Gummihandschuhe an. Mit denselben Gummihandschuhen geben sie mir erst das Eis (Krokantbecher und eine Wundertüte nicht in der Tüte, sondern im Becher), dann das Geld. Auf dem Nachhauseweg schützen wir unser köstliches Eis mit den bloßen, ungewaschenen Händen, während wir durch die virengetränkten Straße zwischen bereits Infizierten und deren Ausswurf hin und her hechten. Zuhause mit letzter Kraft angekommen, essen wir unser vermutlich hochinfektiöses Eis. Den Heldentod spare ich an der Stelle. Eis in der Tüte darf nicht gegessen werden, weil – wie man weiß – im Leckvorgang immer so viel gespritzt wird.

Aus der Vorsichts- und Gesundheitsmaßnahme wird ein soziales Etikett, dass irgendwann einmal auch ohne Covid-19 wirksam sein wird: Bleibt mir vom Leib, fasst mich nicht an. Es geschieht aus Liebe und zu eurer Sicherheit.

Ich beobachte die Amseln. Ein Regenwurm nach dem anderen wird zu den Jungen verbracht. Ich beobachte wie sie ein ganz langes, dickes Exemplar aus dem Boden rupfen. Auch nicht friedlicher als ein Löwe die Gazelle. Die Jungvögel sind schon recht groß und flügge. Aber man erkennt sie an dem struppeligen Kopf und dem hellbraunen Federkleid.

Wieder ein Tag mit Corona überstanden. Wer schreibt, ist noch nicht tot. Immerhin.

25.4.2020

Der Gärtner hat Samen verteilt. Im Garten soll der Rasen sprießen. Kaum ein Hälmchen sprießt. Ich darf nicht ungeduldig sein, das weiß ich. Ich bin es aber von Natur aus. Die meisten Menschen halten mich für geduldig, aber ich täusche sie. Langsame Entwicklungen machen mich nervös. Ich muss sehen, was ich bewirke. Jetzt, hier und sofort. Beim Schreiben ist das eingelöst. Ich habe gelernt, die Nervosität zu verdauen. Ich beobachte, verarbeite, walge die Unruhe, die damit einhergehende Unsicherheit in mir durch, indem ich sie in Worte zu fassen versuche. Erst ein, dann zwei. Oft finde ich die richtigen Worte. Nicht immer. Dann ist es schlimm. Dann brauche ich etwas zum Beobachten oder mein Fahrrad. Amseln im Garten sind gut, die machen immer irgendetwas anderes. Schön anzusehen. Kaninchen waren auch gut, aber die sind leider tot, schon vor Corona. Ich vermisse ihre Anwesenheit noch immer. Ein grau-weißer und ein orange-weißer Fleck im Garten. Mein Blick streift oft im Garten umher. Das ist besser als in die Staubecken glotzen.

Heute werden meine Fußnägel lackiert. Ich wähle dunkellila, sehr schick und auch ein wenig typisch für Frauen meines Alters und meines Milieus. Aber darauf kann ich keine Rücksicht nehmen. Lila ist schön. Meine Füße jetzt auch. Ich rubbele die Winterhornhaut ab. Mein Sohn kennt das Wort „walgen“ nicht. „Walken“ hieße „kneten“, „walgen“ eher rollen. Ich hätte eher „walken“ sagen müssen.

26.4.2020

Ein Sonntagmorgen lässt mir viel Zeit zur Amselbetrachtung. Dazwischen lese ich erst einen Beitrag in der Zeit von Achille Mbembe und dann einen kurzen Beitrag der Zeit zu dem Streit um den Wissenschaftler. Mmmh. Seine Arbeit und seine Aktivitäten (hier werden genannt: Unterschrift unter eine Boykott-Erklärung zu einer israelischen Universität) scheinen mir erstmal zwei verschiedene paar Schuh zu sein. Es geht darum, ob man den Mann, der die Ruhrtriennale mit einer Rede eröffnen soll, wieder ausladen sollte. Ich kenne das Werk des Wissenschaftlers nicht, die kurzen Zitate aus seinen Büchern, die in der Zeit stehen, sind streitbar, aber es sind nur kurze Zitate. Wieder so ein Fall, in dem die Presse die Pflicht hat, differenziert und ausführlich zu berichten, damit ich überhaupt zu einer Einschätzung gelangen kann. Ich kann das vorschnelle Urteilen und knappe Beschuldigen nicht leiden und glaube, dass es keiner guten Sache dient. Der Reporter der Zeit, Martin Eimermacher, ist da ziemlich knapp und deshalb auch nicht im Sinne der Aufklärung unterwegs, sondern eher anheizend. Andererseits ist der Schritt von der Kritik an der Regierungspolitik in Israel zu Antisemitismus oft klein. Ich werfe empört „Die Zeit“ durch den Raum. Ich werde das Buch lesen müssen, um mir eine Meinung zu bilden, allerdings steht es gerade nicht auf meiner Leseliste. Bis ich das Buch gelesen habe, ist die Ruhrtriennale rum. Ein kurzer Blick in die Diskussionslage in den sozialen Medien erschreckt: Ein Dialog scheint nicht mehr möglich. Empörung regiert. Empörung im Bett bei der morgendlichen Zeitungslektüre ist etwas anderes als empörtes Diskutieren im Netz. Ich empöre mich darüber.

27.4.2020

Die Tauben sitzen bei uns nicht auf dem Dach, sondern im Ahorn. Ich klatsche in die Hände. Ich habe nichts gegen Tauben, aber sie sollen mir nicht den schönen Platz unter dem Baum zuscheißen.

28.4.2020

Anfang März in diesem Jahr habe ich das Schulamt gefragt, ob ich Headsets und Tablets kaufen darf von den Restmitteln, die wir noch aus dem letzten Jahr haben. Es ist reichlich. Ich bekomme ein Ticket. Das Hessische Kultusministerium fragt, ob wir zu einer Videokonferenz, eine Fortbildung, zusammenkommen können. Ich frage im Schulamt nach, ob man das ermöglichen könne. Die Antwort ist „nein“. Ich bitte um Auskunft und ein Gespräch. Ich bekomme ein Ticket. Ich frage nach zehn Tagen nach, ob uns die Kameras und Mikrophone in den Rechnern der Schule angestellt werden. Sie sind installiert, aber nicht freigeschaltet. Tägliches Hin- und Herfahren zwischen Schule und Zuhause hält mich in Schwung. Videokonferenz zuhause, Schülerbetreuung, Elterngespräche, Verwaltung in der Schule. Ich erhalte eine allgemeine Datenschutzverordnung als Antwort und ein Ticket. Ich frage nach, was mit den Headsets ist und bitte um ein Gespräch. Die Antwort lautet „nein“. Darf nicht gekauft werden. Ich frage nach dem Antrag zu den Tablets. Ein Ticket und keine weitere Antwort. Mitte April die Antwort: Es dürfen keine Tablets gekauft werden. Ich dränge auf ein Gespräch. Wir sitzen mit einem Hot Spot in der Schule, an unserem eigenen Rechner und konferieren mit Kindern und Kollegen. Ich frage nach beim Schulamt. Für Videokonferenzen zwischen Lehrern ist das Schulamt nicht zuständig. Ich bekomme ein Ticket. Nach einer Presseverlautbarung der Dezernentin, in der sie verkündet, Schulen könnten jetzt Geräte leihen und Videokonferenzen machen, fragen wir nach, ob wir 25 Tablets geliehen haben können und möchten Webcams kaufen. Es gibt keine Webcams mehr auf dem Markt. Fünf kann uns jetzt das Schulamt noch vermitteln. Wir haben da was falsch verstanden. Die Webcams dürfen wir kaufen, aber Laptops können nur die verliehen werden, die wir in der Schule haben. Wir haben vier alte Laptops in der Schule. Die sollen wir an vielleicht 30 Kinder verleihen, die zuhause keine Geräte haben? Ich frage nach. Die Antwort: ein Ticket.

Ich schlage den Computer kurz und klein. Jetzt ist das Thema erledigt.

29.4.2020

Mein Liebster hat Geburtstag. Finn kommt, Tom ist sowieso im Haus. Die jungen Amseln kommen auf die Terrasse und gratulieren. Sie jubilieren und zwitschern. Wir danken: Ich für den Vortrag, Mathias für das Geschenk. Ich habe ihm einen schönen Pullover ausgesucht. In der Zeitung: Pippi Langstrumpf wird 75 Jahre. Ich freue mich. Jahrelang schlief ich mit den Füßen auf dem Kopfkissen, immer kurz vor dem Erstickungstod. Putzen kann ich nur mit dem Schrubber an den Füßen. Es gibt eben Dinge, die man nicht mehr los wird. Das Lächeln von Mia Farrow in einem Film von Woody Allen, den Satz meines damaligen Liebsten neben mir im Kinosaal, die Füße auf dem Kopfkissen und die Begrüßung meiner Siamkatze, wenn ich zulange unterwegs war: ein eindeutiges Miau und Dauerstreicheln vor dem Fenster, durch das die Sonne, egal in welcher Jahreszeit, hineinfiel. Ich vermisse sie. Sie hieß Dimitrij. Wegen des „i“.

30.4.2020

Der Gärtner sagt, dass der Rasen nicht gewachsen ist, weil die Luft so trocken war. Heute ist sie nass. Es regnet. Mein Husten plagt mich. Aus therapeutischen Gründen esse ich Brokkoli. Ein wohlklingendes Wort. Italienisch-deutsch. Wie unser Speiseplan: Pasta, Gemüse, Pasta, Tomaten, Kartoffeln, Gemüse, Pasta, Pesto, Salat, Ravioli, Weinsoße, Gemüse.

1.5.2020

Endlich eine differenzierte Darstellung zum Antisemitismusvorwurf bei Mbembe. Weniger Antisemitismus als einseitig übertriebene Darstellung lerne ich. Ich werde der Zeitung „Die Zeit“ noch ein bisschen die Treue halten. Den Rest des Tages verbringe ich damit, meine Wanderung von Jiri nördlich von Kathmandu bis zum Mont Everest Basiscamp nachzulaufen. Zwischendurch stelle ich mich beim Wacker an, um Kuchen zu holen. Ein älterer Mann quatscht die Frau zwei Meter vor mir an und bleibt vor mir stehen. Ich nuschele ihn unter dem Mund-Nasenschutz an, dass die Schlange hinter mir endet. „Nein, ich bin vor ihnen“, blökt er. Ich bleibe dabei: „Nein, ich stand schon vor Ihnen hier!“ Die zwei jungen Männer am Brunnen feixen und lachen. Ich blicke mich um, werde ich hier zum Gespött? Der Typ will locker sein und dreht sich zu mir um: „Ist das wichtig?“, fragt er. „Ja, es ist mir wichtig, dass ich vor Ihnen bin.“ Er stockt und stellt sich hinter mich. Wieder feixen die anderen Männer und wieder weiß ich nicht, wer hier wen erheitert. Mir ist die Lust auf Käsekuchen abhanden gekommen. Ich stehe nur noch aus dem Bedürfnis heraus hier, jetzt nicht das Feld verlassen zu wollen. Er flucht meinen Rücken an, böse Wörter.

2.5.2020

Die Spatzen kommen von unten und immer zu zweit oder zu viert. Sie krallen sich an ein Ästchen unterhalb des Knödels und picken hektisch nach dem Fett-Kern-Knödel. Zwischendurch versuchen es ein paar Meisen. Blaumeisen und Kohlmeisen im Wechsel. Sie sind auch zu zweit, hängen sich an die Kugel dran und picken schnell etwas auf. Die Spatzen flattern aufgeregt herum, bis die Meisen verschwinden. Manchmal streiten sie sich und tanzen sich in der Luft an. Ich habe im Garten an zwei Stellen einen Knödel aufgehängt, den man nicht von unten erreichen und einen, den man bequem vom Ast anpicken kann. Eine Taube setzt sich unter den Knödel und wartet, bis die Kerne herabfallen. Die Amseln suchen auch nach den heruntergefallenen Stücken. Zwischen den Regenwürmern eine erfrischende kulinarische Abwechselung. Rotkehlchen und Rotschwänzchen brauchen keine Knödel, sondern andere Futterstellen. Ich nehme mir vor, das auszubauen.

Es gibt so viele Dinge, die ich Liebe. Ich möchte ein Hohelied auf die Vögel im Garten singen. Sie können es besser als ich, aber man sollte seine geringen Ressourcen nicht verachten. Das Sonnenlicht, das heute nur augenblicksweise durch die Wolken dringt, fällt schräg auf den sattgrünen Rasen. Zwei Tage Regen hat gewirkt. Die kahlen Stellen sieht man nur noch von oben. Dieses Licht ist die Offenbarung von Schönheit. Eine Windböe erfasst den Ahorn und zerzaust den gut geschnittenen Bubikopf. Mich beruhigen Tiere und Pflanzen. Sicher wäre aus mir eine gute Biologin geworden, aber die Liebe zum Wort war stärker.

Wir schauen beim verspäteten Frühstück ein Gespräch von Politikerinnen der Grünen, Brantner, Keller und einem Mann, Hofreiter, mit der Umweltministerin aus Österreich und einem Wissenschaftler Bofinger über die wirtschaftlichen Folgen der Coronakrise und die Frage der Coronobonds. Die Frauen beeindrucken mich: sachlich, differenziert, klar und staatstragend. Ich weiß nicht genau, was ich mit „staatstragend“ meine, aber es passt irgendwie. Vielleicht meine ich einfach nur „verantwortungsbewusst“. Die Zukunft ist weiblich und reflektiert. Umweltbewusst und nachhaltig hoffentlich auch. Vielleicht habe ich drei Wünsche frei, immerhin fühlte ich mich als kleines Mädchen immer wie Schneewittchen, ich glaube, ich habe noch keinen Wunsch verbraucht. Parteipolitisch bin ich nicht engagiert. Ich bin nicht kompromissbereit genug. Es reicht, dass ich Feministin bin. Den Rest müssen andere machen und die gute Fee.

3.5.2020

Ich bespreche mit Finn auf der Autobahn in einem geliehenen Transporter, ob Mbembe Israel der Kolonialisierung bezichtigen darf. Er meint „nein“. Er erklärt mir den Unterschied zwischen den Antideutschen Linken in Frankfurt und den anderen. Die Lili, Linke Liste, gehöre zu den Antideutschen. Die Lili gab es schon, als ich Studentin war. Ich habe mich auf deren Treffen ein paar Mal herumgetrieben, dann war ich mal bei jemandem zuhause und habe mit anderen gemeinsam Texte gelesen und analysiert. Es gab eine Menge schlaue Köpfe bei der Lili. Einer ist dann bei der TAZ gelandet, einer anderer beim studentischen Autoverleih. Eine habe ich auf einer Fortbildung wiedergesehen, offensichtlich ist die auch im Bildungssystem hängengeblieben. Ich merke, dass man eine Menge Zeug lernt, wenn man politisch engagiert ist. Finn kann mir viel erklären und ich langweile mich kein bisschen dabei. Wir waren mit dem Transporter auf dem Land, meiner Mutter eine Bank aus Paletten bauen. Wir hatten sie, die Paletten, noch im Garten, zwischen Weinranken und einer wilden Akazie moderten sie vor sich hin. Als ich sie am heiligen Sonntag heute abtransportieren wollte, erinnerten sich andere in unserer Wohngemeinsschaft daran, wie schön dieser Platz im Sommer immer gewesen war, wie praktisch und gemütlich zugleich. Wir hatten sogar Polster im Keller, die man nur schnell trocknen und entstauben musste, damit das Gefühl von Hochsommer wieder in den Garten einziehen könnte. Ich nahm also nur drei Paletten mit, die anderen beiden würden weiterhin unsere gemütliche, schattige Sitzecke bilden.

4.5.2020

Die Akazie blüht. Die Amseln liefern sich gegen 5 Uhr am Morgen einen Gesangbattle. Ich starre in die Dämmerung. Kann nicht mehr schlafen. Wie schön so ein Morgen sein kann.

5.5.2020

Ich fand im Garten einen Stein. Einen kleinen weißen. Fast Alabaster. Es leuchtete weiß im Abendlicht. Ich betrachtete ihn von allen Seiten. Er war so lang wie eine Kinderfinger und auch so schmal. So hell wie Schnee und ganz eben. Ich rührte ihn nicht an, betrachtete ihn bloß. Das Gras bog sich um den Stein, er musst schon einige Tage da gelesen haben. Ich schaute in den Himmel. Woher kam er? Die Mauersegler konnten ihn nicht mitgebracht haben, sie segelten noch nicht am Himmel. Er war auch zu groß. Fingerlang und fingerdick. Ein Kinderfinger in meinem Garten.

6.5.2020

In diesem wunderschönen jungfernweiß. Der Himmel dazu blau. Der Stein liegt im weichen grünen Gras. Die Mauersegler sind aus dem Süden angereist und kreisen um unseren hellen Stein, der das Grün zum Leuchten bringt.

7.5.2020

Dieser Stein liegt also im Garten und wird größer. Ich glaube nicht, dass er wächst. Er gewinnt an Größe. Heute ist er bereits daumendick. Das ist der Daumen, der schüttelt die Pflaumen, der hebt sie auf, der bringt sie nach Haus und der Kleine isst sie alle wieder auf. Der Reim schüttelt sich auch. Aber erfolgreich. Daumendick. Wie im Märchen: Es war einmal ein Mann und eine Frau, die wünschten sich nichts sehnlicher als ein Kind. Eines Tages bekamen sie eines, das nicht größer war als ein Daumen. Die Abenteuer vom Däumling sind verfilmt und weltberühmt. Dieser daumendicke Alabaster liegt im Garten und wird größer. Meine anfängliche Freude weicht der Überraschung.

8.5.2020

Ich glaube, ich bin gegen die Schulpflicht. Mit welcher Phantasie und mit welcher Neugierde viele Kinder und Jugendlichen in den letzten Wochen zuhause kleine Filme und Lapbooks gemacht haben, lässt mich niederknien. Ich kriege per Handyfilm und per Plakat erklärt, wer Gutenberg ist (hatten wir schon in der Schule besprochen, aber jetzt bekomme ich es nochmal mit der kleinen Schwester im Wohnzimmer referiert), was Newton mit den Fallgesetzen entdeckt hat (verstehe ich nur mühsam),  welche kriegswichtigen Erfindungen Leonardo da Vinci gemacht hat und dass er die Mona Lisa gemalt hat (habe ich mir selbst schonmal angesehen) und ich widerhole, welche Planeten unser Sonnensystem ausmachen. Mein eigener Sohn lümmelt auf dem Sofa und macht für GL einen Film. Einfach weil es Spaß macht. Er muss das nicht tun. Langeweile und freie Zeit gebiert eigene Gedanken. Die Kinder und Jugendlichen werden nicht dauernd gestört von Mitschülerinnen und -schülern, vom Klingeln, Blinken oder Lehrern, die reinkommen und Deutsch machen wollen, sie können im Liegen, Stehen, Sitzen, mit angewinkelten Knien, barfuß oder im Schlafanzug Mathe machen. Klar, hilft ein geregelter Ablauf, aber auch nicht für alles und immer. Mir hilft beim Schreiben auch ein geregelter Ablauf: Ich muss frei von Druck sein und eine Idee haben. Eine Idee bekomme ich, wenn ich beobachten darf. Manchmal auch beim Tun. Ich bin gegen die Schulpflicht. Es würde doch reichen, wenn man ein Schulrecht ausspräche und dann ein Mindestangebot vorhält, der Rest ist freiwillig. Dann müssten wir Erwachsenen uns auch wieder richtig anstrengen, die Dinge, von denen wir denken, dass sie wirklich wichtig sind, spannend zu machen. Ich finde Sprache und Literatur ja spannend. Ich liebe das Märchen vom Däumling. Vor Jahren habe ich zur Abschaffung der Schulpflicht einen Artikel geschrieben. Ich muss ihn mal wieder rausholen, weil es mir gerade wieder einfällt. Wieviel Schule braucht ein Jugendlicher? Viel weniger als man denkt! Allerdings zeigen die Ergebnisse auch, wie sehr sie gesehen sein wollen: diese Plakate, Filme, Bücher, Hefte, Buchkritiken und Lesetagebücher. Offensichtlich müssen wir das Publikum sein, vielleicht auch ein Ratgeber und ein Fachmann oder eine Fachfrau, vielleicht ein Coach und ein Korrekturleser. Irgendwas davon brauchen Kinder wohl. Mitunter wollen sie auch etwas erklärt bekommen. Manchmal fragen sie mich auch, ob ich was erzähle oder vorlese, den Däumling zum Beispiel.

9.5.2020

Nach dem Aufwachen spähe ich sofort zum Fenster hinaus auf die Wiese. Der Stein ist mittlerweile höher als das Gras. Das Gras ist gewachsen, es hat viel geregnet in den letzten Tagen und es ist statt grün hoch. Das graue Band des Regens macht es noch grüner. Der Stein sticht heraus. Ich traue meinen Augen nicht. Aber das Reiben hilft nicht. Der Stein wird größer. Er ist jetzt handgroß. Meine Überraschung ist spürbar, das Croissant bleibt liegen. Ich hocke mich an den Stein und staune.

10.5.2020

Die Spatzen haben den Stein entdeckt. Große und Kleine haben sich darauf niedergelassen. Sie machen Krach. Es ist kein schöner Gesang, den Sperlinge verbreiten. Es ist eher ein lautes Scharren und eine Mischung aus zwitschern und scharren. Wenn es ihnen gut geht, schnalzen sie ganz hoch und kurz und wenn sie sich um die Knödel streiten, die sie von unten anfliegen und heftig dagegen stoßen, meckern sie wie eine Ratsche. Gestern Abend fanden wir ein kleines Spatzchen vor der Tür, als wir gerade eine Nachtwanderung machen wollten. Wir haben schon mehrfach versucht, Jungvögel großzuziehen oder zu retten. Es ist uns nie gelungen, obwohl wir Heimchen und Mehlwürmer gekauft, geköpft, zerquetscht und verfüttert haben, und wir haben jedes Mal tagelang Trauerarbeit leisten müssen. Es gibt so etwas wie eine kollektive Trauerhysterie in dieser Familie. Sie dauert mehrere Tage und wir laufen alle mit gesenkten Köpfen durch die Welt. Auch dieses Mal ging es nicht gut aus und der kleine Spatz ist über Nacht verstorben. Ich wachte heute Morgen in aller Frühe auf und habe ihn begraben und schaute noch eine Weile den sehr lebendigen anderen Spatzen im Garten zu. Tut mir leid, ihr Sperlinge. Ich bin euch da keine Hilfe. Nach dem Frühstück habe ich einen neuen Knödel aufgehängt, es braucht ein positives Signal.

11.5.2020

Wie groß soll der Stein noch wachsen? Soll der Stein etwas? Er tut es einfach, er scheint kein Sinnen, kein Ziel zu haben. Der Fußball, der neben ihn gerollt ist, erscheint nicht viel größer. Ich staune.

12.5.2020

„Wir müssen mit unberechenbaren Risiken rechnen“. (FR) Ja, das müssen wir. Wenn man auf die Welt kommt, muss man sterben – irgendwann. Gut, ich gebe zu, in dieser Allgemeinheit hat der Satz etwas Unwahres. Ich demonstriere auch nicht mit den Menschen, die sich zu Hygiene-Demonstrationen zusammen finden. Es ist mir doch wichtig, nicht verwechselt zu werden. Ich bin ja auch das Gegenteil einer Impfgegnerin. Trotzdem kann ich nicht alle Sicherheitsmaßnahmen ernst nehmen. Einige aber schon. Es ist wie immer, ich verliere mich in der Abwägung. Eben doch ein bisschen Wissenschaftlerin, wenn ich nicht gerade literarisches Zeugs schreibe.

Ich staune:

Der Stein ist größer. Kniehoch.

13.5.2020

Er nimmt langsam die Gestalt eines Ungetüms an. Was soll aus unserem Garten werden frage ich mich heute das erste Mal? Es gibt etwas Größeres als uns: Die Schönheit dieses Steins, der sich in unserem Garten ausgesetzt hat. Warum bei uns?

14.5.2020

Ich glaube, ich bin dahintergekommen, welches Geheimnis hinter dem Stein liegt. Man will mir etwas sagen. Irgendetwas, eine Macht außerhalb von uns möchte mir etwas sagen. Ich bin ganz sicher, dass es eine Botschaft ist. Nur welche? Der Stein ist wunderschön. Weiß wie Schnee. Es durchziehen ihn sanfte graue Schleier, aber nur ganz zart. Ich habe den Eindruck, wenn ich zu lange auf das Weiß starre, verändert sich etwas in mir. Ich werde ruhig. Diese Form der Ruhe kannte ich vorher nur, wenn ich die Kaninchen beobachtete. Winters wie Sommers saßen oder lagen sie auf der Wiese und knabberten an den Halmen. Mitunter sprang Pigwidgeon über die Absperrung zu den Primeln, von denen er nichts, kein Blatt mehr stehen ließ. Die Kaninchen beruhigten mich. Es war eine Art Meditation, Kaninchen-Meditation. Kaninchen können unfreiwillig lustig sein. Sie klettern in jungen Jahren auf Hecken und Bäume, springen über Zäune und flitzen in Nachbars Garten. Da konnten wir noch ungeniert in den Garten der Nachbarn stapfen und sie zurückjagen – die Kaninchen. Der Stein sagt mir also: Werde ruhig und beobachte mich.

15.5.2020

Ich schlafe ruhig. Das muss an dem Stein liegen. Er hat eine Aura. Der Garten blüht schöner. Schade, dass die Kaninchen nicht mehr über ihn hüpfen können. Wieder setze ich mich vor den Stein. Aber nichts geschieht. Ich trete leicht dagegen. Dieser Stein sagt nichts. Aber was soll mir das sagen? Nachdem der Rasen gemäht ist, erstrahlt er in voller Pracht. Im Fernsehen eine kurze Rezension über einen Film aus Syrien. Wenn man das gesehen hat, fragt man nicht mehr, ob Europa weiter Geflohene aufnehmen sollte.

16.5.2020

Am Geburtstag meines Sohnes beschließe ich, in die Stadt zu gehen, um die Demonstration und die Gegendemonstration zu beobachten. Es geht um den politischen Umgang mit Corona. Mein Fahrrad stelle ich am Römer ab. Auf dem Liebfrauenberg stehen die Weintrinker um den Brunnen, die Leute kaufen wieder. Ich werde fast von einem weißen BMW überfahren, als ich kurz auf mein Handy schaue, weil ich versuche herauszufinden, wo ich hinmuss. Ich springe auf den Fußgängerweg, hinter mir Quietschen. Der bullige Glatzkopf in schwarz schreit in hartem Deutsch in meine Richtung: „Du Pisser, du Wichser, ich zeig dir’s.“ Er marschiert an mir vorbei und bleibt vor einem etwa 70 Jahre alten Typ mit Schlapphut stehen. Der redet beruhigend auf den Pisser-Schreier ein. Entschuldigt sich sogar. Ich rufe, was denken sie sich, es schwappt aus mir heraus. Aber niemand hört mich, die Glatze steigt in ihr Auto, die Tussy neben ihm lobt ihn für seine große Tat, weiter geht’s. Ich bin angewärmt für eine Demonstration. Am Roßmarkt tummeln sich ein paar hundert sehr junge Leute mit Transparenten: „Nie wieder Faschismus“, „Nieder mit dem Rassismus“ und ähnlichen Parolen auf riesigen Bannern, die sie vor sich halten und ihrer Demonstration eine Form geben. Drumherum: Polizei. Der ganze Roßmarkt ist umstellt. Die eigentliche Demonstration mit Menschen, die rund um Gutenberg gegen die Einschränkungen im öffentlichen Leben demonstrieren, liegt ein Stück weiter. Dazwischen auch Polizei. Überall Polizei. Ich sehe aus der Ferne Aluhütchen und Alukugeln um den Hals braungebrannter mittelalter Paare in bunten modischen Kleidern, die ihre erwachsenen Kinder mitgebracht haben. Ein ziemliches Altersgefälle zwischen Aluhut-Demonstration und Gegendemonstration. Eine Weile höre ich dem Trommelwirbel zu, als von rechts ein paar Polizisten eine Gruppe von vier jungen Demonstranten vor sich herschieben. Es wird geschimpft. Einer der Polizisten rempelt eine junge Frau und deren Bergleiter so an, dass sie stolpert. Ich zucke. Andere Demonstranten motzen. Die kleine Gruppe steigt auf einen Betonblock, der Polizist rempelt mit seiner Schulter nochmal so heftig, dass die zwei herunter stolpern. Von links und rechts rücken Polizisten nach. Meiner trockenen Kehle entkommt nur „Hey!“ Dann ist der Spuk vorbei. Die Gegendemonstration setzt sich in Bewegung in Richtung Aluhüte. Ich folge und stelle mich auf eine größere Sitzgelegenheit aus Holz mitten auf dem Platz, so dass ich die beiden Demonstrationen gut im Blick habe. Die Sonne brutzelt. Ein paar Antifaschisten laufen mit ihren Fahnen herum, aber die anderen rufen immer nur „Antifaschista“ und machen buh, wenn vorne am Gutenberg wieder etwas gesagt wird. Zwei frisierte Frauen steigen zu mir auf die Sitzbank und fragen das antifaschistische Pärchen hinter mir, ob sie ein Foto von den beiden Freundinnen vor der Demo machen können. „Nein? Haben Sie Angst, dass sie sich anstecken, wenn Sie mein Handy anfassen?“ Die Frauen lachen. Die Frau des Pärchens erwidert: „Nein, aber Foto auf einer Demonstration zu machen, wenn andere Menschen auf dem Bild sind, das macht man nicht.“ Die schicke Frau mit Alukugel um den Hals lässt sich nicht beirren: „Ach, wir machen selbst ein Foto!“, schießt ein Selfie. Dann zischen sie ab. Die Demonstration löst sich langsam auf, der Veranstalter dankt den Aluhüten und ruft dazu auf, am nächsten Samstag wiederzukommen. Die Gegendemonstranten sortieren sich wieder etwas um, die Banner werden nach vorne und weiter über den Platz gezogen, die Polizei bleibt immer zwischen Denkmal und Gegendemonstration. Ein großer Mann, Mitte vierzig, läuft immer am Banner hin und her und ruft aus der Menge der Gegendemonstranten: „Mäuse, Ratten Bullen, Schweine“, „Kann nix, bin nix, gebt mir eine Uniform!“ Nebenan unterhalten sich Gegendemonstranten mit jungen Polizisten. Ich stelle mich dazu, es wird disputiert. Beide Demonstrationen lösen sich auf. Ich habe Sonnenbrand.

17.5.2020

Meine Gedanken kreisen um den Stein, der unseren Garten blockiert und die Vögel belustigt. Ein nichtssagender, einfach weiß strahlender Stein, der immer größer wird und bald den Garten eng macht. Jeden Morgen schaue ich nach, reibe mir die Augen und will es nicht glauben, dass er immer noch daliegt. Wenn man viele Märchen gelesen hat, dann hat man gelernt, dass diesen Stein nichts zum Verschwinden bringen wird. Nicht Gewalt, nicht Bitten, nicht Beten.

Am Abend bringt mir die Tochter der Nachbarin eine schicke Maske. Ein Tuch, das man sich wie einen Schal über den Kopf zieht und dann bei Gelegenheit einfach über die Nase und die Ohren zieht. Es ist schon die zweite modische Maske, die sie mir schenkt. Ich freue mich und bewundere die Nähkünste der beiden. Ich nähe lieber Worte zusammen.

18.5.2020

Das Geheimnis ist einfach: Nicht dagegen ankämpfen. Aber wenn man kämpft, dann hilft es nicht, nicht kämpfen zu wollen.

19.5.2020

Ich verfüge über die Eigenschaft, das Tier im Menschen zu sehen. Es gibt noch andere, die das können, aber in der Regel tauschen wir uns nicht darüber aus. Wenn ich zornig auf jemanden bin, stelle ich mir vor, wie das Tier über den jetzt Gartenhütten großen Stein tanzt. Das bringt mich auf der Stelle zum Lachen und ich kann nicht mehr böse sein. Es sei denn, jemand sagt etwas vollkommen Dummes, dann reicht diese Vorstellung nicht, um mich zu beruhigen. Es ist ganz leicht, zu erkennen, ob jemand etwas Dummes sagt, also, ob jemand zu der Gruppe Menschen gehört, die öfter mal etwas Dummes sagen. Die, die Dummheiten von sich geben, kennen keinen Zweifel und kommen sich sehr schlau vor. Während die, die immer zweifeln, ob sie nicht etwas Dummes sagen, eigentlich nie etwas Dummes sagen. Ich kenne tatsächlich auch Menschen, die nie etwas Dummes sagen. Jeder Mensch hat also ein Tiergesicht, einen Geruch, der an ein besonderes Tier erinnert. Wenn ich jemanden mag, weiß ich, welches Tier er ist. Ich mag diesen Zoo um mich herum. Und jetzt hat der riesige Stein in meinem Garten auch eine Funktion: Er lässt die Tiere tanzen. Das ist eine lustige und zugleich sinnvolle Vorstellung, die mir über den Schmerz hinweghilft, dass der halbe Garten zugesteint ist. Ich selbst sage im Übrigen auch mal etwas Dummes. Das ist ja vielleicht das Schicksal des Menschen, dass er erkennt, was er nicht gerne ist und zugleich doch ist, obschon er gerne etwas ganz anderes wäre. Freilich darf man diese Erkenntnis auch verweigern. Aber dann weiß ich nicht, worüber man sich unterhalten sollte.

Es gab heute einen sehr schönen Moment: Das Kollegium stand auf einer Wiese auf dem Riedberg und sag, brüllte, flüsterte ein Lied zu der Melodie von „König von Deutschland“ mit einem selbstgeschriebenen Text einer Kollegin. Weil wir so weit auseinanderstanden, kamen wir nicht zusammen. Jeder sang so für sich. Es war lustig und anrührend zugleich. Und es kann eine gemeinsame Erfahrung sein.

20.5.2020

Das Gras sprießt wie verrückt. Der Gärtner kam noch einmal zurück, weil wir ihn vor drei Wochen noch einmal einbestellt hatten, weil seine Saat nicht aufging. Jetzt aber doch. Unser Garten ist ein Grasdschungel.

21.5.2020

Wir empfangen wieder Gäste auf der Terrasse: Heute die Familie, morgen Freunde. Rund um den Ahorn können wir Abstand halten und uns trotzdem sehen. Das ist eigentlich schon jetzt nicht mehr der Rede wert. Nur noch ein kleines Alltagsdetail. Es ist nicht wichtig, aber bedeutsam.

22.5.2020

Vor dem Bio-Spahn sitzt eine ältere Frau, die die Schultern gebeugt hält. Sie beißt in ihre Fleischsalatbrötchen. Im Haar steckt ihr ein dunkler Haarreif. Sie trägt ein rosa Kleid, es ist heute Vormittag noch nicht so kalt wie am Nachmittag. Ihre weißen Söckchen sind schmutzig. Sie trägt Sandalen. Sie kann sich nicht mehr aufrichten, aber ihre Füße sieht sie auch nicht.

Man gewöhnt sich an einen Zustand. Man gewinnt ihm Gutes ab. In einer Dokumentation über Afghanistan habe ich den Satz gehört, dass man sich an den Krieg gewöhnt. Man lebt nicht dauernd in Angst und Schrecken. Ich kann mir das nicht vorstellen, aber es wird so sein. Vor dem Museum steht man lange an und wenn man drankommt, sagt einem der freundliche Herr, dass man heute kein Zeitfenster mehr zugesprochen bekommt. Wir fahren ins nächste Museum. Dramatisch ist das nicht, die anderen Bilder in dem anderen Museum wirken auf mich auch beruhigend und das ist die Hauptsache.

23.5.2020

Der Stein hat ein paar wunderschöne Einbuchtungen, in denen die Vögel baden. Er graut an den Ecken jetzt etwas ein, weil sie dort ihr Federkleid ausschütteln.

24.5.2020 Im Video von einer Hygiene-Demonstration am Main gestern wird ein Mann mit Jesus Christus Geste abgeführt: mit ausgestreckten Armen, seinen Brüdern und Schwestern Mut zurufend, wird er von Polizeibeamten vom Mainufer weggeführt. Zu den christlichen Tönen komponiert er den Kampf gegen den Faschismus und staatlicher Folter dazu. Zur Folter reicht es allerdings auf dem Video nicht. Seine gelbe Jacke leuchtet. Es kommt aber einer Folter gleich, wenn man sich immer wieder Phrasen anhören muss, die einfach viel zu einfach sind. Ich war immer der Meinung, in der Demokratie muss man ausholten, dass nicht alle Menschen klug sind und diese trotzdem mitbestimmen dürfen. Ich muss auch aushalten, das ausgemachte Arschlöcher genauso viel Stimmrecht haben wie ich. Leute, die meinen, Frauen wären in erster Linie Müttertiere, Menschen, die den König wieder haben wollen, Menschen, die glauben, es gäbe eine internationale Finanzelite, die alles bestimmt, Menschen, die antisemitisch sind, Leute, die rassistisch und fremdenfeindlich sind, Leute, die sich in der Schlange vordrängeln, Leute, die immer sofort alle Rechtschreibfehler entdecken und das laut sagen, Menschen, die hässliche Vorhänge lieben und SUVs – mir würden noch ein paar Dinge einfallen, die ich widerlich und unerträglich finde, aber wohl irgendwie aushalten muss. Ich halte es auch nicht für klug, der Lufthansa Geld zu schenken, ohne sich Einfluss zu sichern. Immerhin ist es Steuergeld. Schulen müssen auch immer wieder begründen und ausweisen, was sie mit all den Millionen tun, die man ihnen schenkt. Warum sollte nicht auch im Falle der Lufthansa eine staatliche Inspektion möglich sein, die eine Woche prüft, ob alles mit rechten Dingen zugeht. Hat man eine Zeitlang mit Schulen auch gemacht: gute Schulen hat es besser gemacht, schlechte Schulen leider nicht. Manchmal neige ich auch zu Stammtischgerede und ich darf trotzdem noch demokratisch mitbestimmen. Das ist eindeutig ein Vorteil der Demokratie: Dummes Gerede führt nicht zur Disqualifizierung.

25.5.2020

Sie Mauersegler kreisen über unserem Garten. Dieses hohe „Iiihiii“ in Abständen erzählt von der Weite über einem kleinen, weißen Stein.

26.5.2020

Fünf Meter im Abstand in den Restaurants. Die Mauersegler über uns. Mal viel, mal wenig Abstand.

27.5.2020

Jetzt muss Corona aufhören. Ich verblute heute und das kann nur ein Zeichen sein: Corona ist bald vorbei. Ich habe begonnen mit Blut und höre damit auf. Einer meiner Lieblingsexfreunde sagte immer: so wie es anfängt, hört es auch auf. Ich kann das bestätigen. Mit Blut also. Ich sehe im Garten nach: Tatsächlich der Stein ist weg. Die Vögel sind noch da. Ich werde heute meine Fußnägel blutrot lackieren. Rot ist Leben.

28.5.2020

Wir sind erfinderisch und laden dreihundert Eltern zu einer Videokonferenz. Immerhin 200 kommen. Bleiben auf dem Sofa und schalten sich zu. Wir sitzen im Wohnzimmer einer Kollegin. Auch nett. Alle 200 müssen aufgefordert werden, das Mikro auszumachen. Man hört sie räumen und essen. Ein Fenster zum Wohnzimmer. Tatsächlich können Fragen sachhaltig beantwortet werden und viele Eltern können ihre Fragen stellen. Es erscheint mir viel geordneter und ruhiger in der Diskussion als auf einem Themenelternabend in der Mensa. Das Medium gefällt mir.

29.5.2020

Die Amseln stellen sich unter die Rasensprengeranlage und lassen sich berieseln. Es ist zum Piepen. Ich piepe. Im Viertel bewerfen sich die Kneipen gegenseitig mit Dreck, weil sie dem anderen die Kunden nicht gönnen.

30.5.2020

Der Mai geht unbemerkt zuende. Einfach so. Mehrere Freundinnen von mir haben im Mai Geburtstag. Ich denke, ich habe ein Faible für Mai-Menschen. ich selbst bin im November geboren, da musste ich mir ein freundliches Pendant suchen. Dieses Jahr schleicht es aus. Keine Pauken und Trompeten, kein Eiseinbruch, er hört einfach auf. Ich sehne mich nach Verlängerung.

Ich danke Sandra Trauner, Jutta Korz, Kirsten Emmerich, Lisa Heydarian, Christian Schuster, Dietmar Blume, Halina Stevens, Sinja Terschlüsen, Nicole Möhrmann, Derk Frerich, Mathias Fechter, Aline Lacour, Gabriele Schweinecke für ihre Texte oder Anregungen.