Die Betrachtung aus sicherer Entfernung öffnet den Blick für das Geschehen, den Ort, Tiere und Menschen in einer sehr spezifischen Situation. Nur wer hinschaut, sieht, was passiert. Aber das, was passiert, verändert sich sofort unter der Betrachtung – je nachdem, welche Worte ich wähle. Die Betrachtung hält inne und konzentriert sich. Dann reiht sich das eine an das andere und entfernt sich wieder. Die großen und kleinen Überlegungen wechseln sich ab und bleiben nicht stehen. Es ist der liebevolle Blick, aber ein Blick, der kein Bleiben kennt. Es darf zugespitzt, angespitzt und pointiert werden, aber nichts wird festgehalten. Und wenn doch, dann nur kurz. Klar, darf es Auslassungen geben, aber immer wieder wird der Faden aufgenommen und der Blick wird wieder daraufgelegt, was ist. Nur mit welchen Worten ist etwas, wie es ist?

15.4.24

Die Zeit des morgendlichen Gebets ist angebrochen. Bei mir ist es kein Gebet, sondern ein kurzes Nachdenken. Mitunter lese ich auch, was ich geschrieben habe, und lösche einen Buchstaben oder ein Wort. Oder füge eines hinzu. Die Kommas vergesse ich dabei. Nur wenn eines wichtig ist, mache ich mir darüber Gedanken. Obwohl: auch die gehen manchmal vergessen.

Vor ein paar Wochen habe ich das Wochenende damit verbracht, einen Text vorzulesen. Das Ergebnis: https://www.stadt-muenster.de/kulturamt/literaturline. Wie jeder Mensch höre ich mich selbst anders als andere. Aber bisher kam ich mit meiner Stimme zurecht. Zuweilen mag ich sie, in kurzen Momenten gar nicht. So geht es mir mit meinen Haaren, meinem Körper, meinem Charakter. Da ist es gut, wenn man die vier edlen Wahrheiten noch zusammen kriegt und sich ablenken kann. Jetzt wird es hell. Schnell anziehen und losradeln, der Tag wartet auf mich!

7.4.24

Wir haben Gartenarbeit gemacht: eine Stechpalme umgesetzt, Rasen ausgesät, eine Erdbeere gepflanzt, Zitronenmelisse bekämpft, die traurigen Überreste einer Physalis entfernt, die Zitrone, die Bougainvillea und die Süßkartoffel nach draußen verfrachtet, Unkraut gerupft, Steine eingesammelt, Mauslöcher gestopft und altes Laub gerecht. Beim letzteren Verb musste ich nachschauen, wie die Perfektform ist. Ich wusste sie nicht. Seltsam. Überhaupt gibt es sehr viele Dinge, die ich nicht weiß oder wieder vergessen habe, die ich aber schon einmal wusste. Den achtfachen Weg der Buddhisten kannte ich auch einmal auswendig. Ich kriege vielleicht noch zwei zusammen: rechtes Verhalten und rechtes Sprechen? Den ersten Satz der Erkenntnis wusste ich immerhin noch: Leben heißt Leiden.

Man vergisst also nicht nur unwichtige Dinge, auch wichtiges kann einem verloren gehen. Schade. Irgendwas mit Loslassen gehörte auch zu den vier Wahrheiten.

3.4.24

Gestern war ich mit meinem Liebsten im Wald. Es regnete, dann schien die Sonne, es regnete, dann schien die Sonne, es regnete – richtig: die Sonne schien. So heiß und kräftig, dass ich mir das Regencape wieder auszog. An und aus. Wir gingen auf den Wildschweinspuren zu einem kleinen Teich hinter einem Hügel, in dem die Kaulquappen tummelten. Kann das sein? Ist es schon wieder soweit? Es lebte jedenfalls eine Glibbermasse, in die ich ein bisschen hinein puhlte, weil ich sehen wollte, was passiert. Erkennen konnte ich nicht, welche Art Frosch, Kröte oder Salamander es war. Es war noch zu klein, das Massengetümmel. Für Salamander waren die kleinen Tierchen zu klein. Einen kurzen Moment phantasierte ich, das Alien käme heraus und fasste mich. Ich würde kämpfen wie Sigourney und ich würde das Alien besiegen. Wir verließen lebend den Wald.

2.4.24

Die Wiese ist bedeckt von einem Veilchenpelz. Er schimmert nur, weil das Veilchen eine kleine und zarte Pflanze ist, die ihr Lila oder Blau nicht zur Schau stellt. Unterm nackten Ahorn treffen sich hellblaue Vergissmeinicht und weiße Gänseblümchen. Diese wollen in diesem Jahr offenbar hoch hinaus. Der lila Gundermann erscheint jedes Jahr unter der Nektarine, deren Blütezeit zuende geht. Gundermann treibt sich in diesem Jahr bis an die Mauer herum. Ich habe für den Salat etwas den Bestand gelichtet. Insgesamt ein echtes Veilchenjahr. Dazwischen Glöckchen, Narzissen, Blaustern, Hyazinthen und heute die Kirsche, die die rosa Augen öffnet.

Meiner Beobachtung nach mögen die Eichhörnchen auch Knospen. Das kleinere rote fraß sich den Hibiskus hoch. Ich habe ihm und seinem Partner zwei Walnüsse in den Baum gelegt. Allerdings mit ungutem Gefühl, weil die Mäuse Nüsse auch mögen.

Ostern ist vorbei und die Auferstehung geschafft. Wir haben das Schlafzimmer frisch gestrichen, auch eine kleine Leistung. Jetzt macht das Schauen in den Garten noch mehr Freude.

27.3.24

Es war nicht stumm in mir, es war schon soviel gesagt.

Der erste Spargel landete heute in der Pfanne. Ein Festschmaus. Die Nachrichten am Morgen kann ich nicht ertragen. Mir darf keiner Querkommen, wenn er kein Spargel ist.

20.3.24

Das Geäst des Ahorns erscheint vor der hellen Hauswand. In der Nacht war es im Schwarz verschwunden. Ich bin heute Morgen stumm, während der Ahorn sichtbar wird.

14.3.24

Tatsächlich habe ich acht Tage lange keine Fingerübungen am Morgen gemacht. Dafür habe ich meine schwarze Brille wiedergefunden. Sie lag in ihrem Brillenetui in einer Radtasche, die ich nur mit zur Klavierstunde nehme. In die Klavierstunde ohne Brille zu gehen, ist blöd. Ich kann mich dann nur ungefähr orientieren und kann ein a nicht vom h unterscheiden. Da ich die meisten Stücke noch nicht auswendig spielen kann, hört sich das nicht gut an. Ohne Brille sieht die Welt anders aus: ich sehe keine Spinnmilben auf der Süßkartoffel, eingerissenen Fingernägel sehe ich auch nicht, die Noten kann ich nicht auseinanderhalten, das Essen auf dem Teller zerrinnt in ein Farbenmeer. Man braucht ohne Brille ein hohes Vertrauen in die Welt, das alles gut ist. Manchmal habe ich das, manchmal nicht. Ich habe genau eine Brille, mit der ich alles sehe, das ich sonst nicht mehr sehe. Das ist meine Lupe. Ich habe also die Wahl.

6.3.24

Ich suche eine meiner Brillen. Weiß der Teufel, wo ich sie habe liegenlassen. Jetzt ist die weg. Ich bin meine Plätze abgelaufen: das blaue Sofa, die Stereoanlage, vor der ich sitze, wenn ich in den Garten schauen will, wenn ich nicht gerade tippe oder wenn ich Keyboard spiele, weil mein Klavier gerade keine Tasten hat, weil es repariert wird. Aber nichts. Auf dem braunen Sofa, auf dem ich Zeitung lese, wenn eine da ist: die Armlehne. Nichts. Im Bad auf der Ablage, im Regal, wo die Tuben und Döschen stehen, die ich jeden Morgen öffne und schließe. Nichts. Im Arbeitszimmer, auf meinem Schreibtisch. Nichts. Ein Haufen Erinnerungen an Vielerlei, aber keine Brille. Ich muss zukünftig ohne sie auskommen. Die Erinnerungen bleiben da, wo sie sind.

1.3.24

Gestern las ich einen Bericht eines Kindes, es ist 13 Jahre, das seine Coronaerfahrungen aufgeschrieben hatte. Ich war gerührt. Es war kein gefühliger Aufsatz, eher ein trockener Bericht. Das Mädchen bewertete die Vorgänge nicht, aber die bloße Darstellung brachte mir in Erinnerung, wie einsam sie war. Es war so, als drohte Nähe verloren zu gehen.

28.2.24

Schämt euch! Wie kann man auf offener Bühne Slogans zum Besten geben, die Israel des Genozids verdächtigen, nachdem massenweise Israelis, Juden ermordet wurden? Wie kann man dazu klatschen? Warum buht niemand? Möglicherweise ist man perplex und folgt dem Fluss der Gruppe, klatscht, wenn geklatscht wird, man geht mit dem Flow, bevor man versteht, was auf der Bühne gesagt wurde. Ich kenne das auch, mir ist das auch schon geschehen und danach schämte ich mich. Aber jetzt: kein Wort der Scham. Es ist, als habe die Kulturschickeria ein blindes Auge. Wer die Verbrechen der Hamas und der Palästinenser, die mit ihnen sympathisieren – und das sind viele – nicht benennt, darüber schweigt, darf nicht Israel anklagen. Nicht jedes Kriegsgräuel ist ein Völkermord, ein Genozid. Dass viele Palästinenser mit Hamas sympathisieren, ist ihr Verbrechen.

Die Hamas wollen Israel vernichten, sie wollen Juden vernichten und zwar schon sehr lange. Lange bevor es eine radikale Regierung in Israel gab. Da gibt es nichts zu beschönigen. Soll Israel diese Kräfte walten lassen? Ich kenne die Antwort. Nein, Israel hat das Recht und die Pflicht, sich zu verteidigen. Israel hat kein Recht, die völkerrechtlich anerkannten palästinensischen Gebiete den eigenen israelischen Siedlern zu überlassen, aber es hat das Recht, seine Menschen und sein Staatsgebiet zu verteidigen.

Israel tut nicht gut daran, die Bevölkerung Gazas in den Tod zu treiben. Es werden viele Hamasjünger geboren, die das Bombardement der Israelis rächen wollen. Selbst wenn man Gaza Hamas frei schaffte, würden anderswo viele Hamas erzogen.

Schämt euch, ihr Filmemacher und Kulturschaffenden, die ihr hinter der Kamera Israel beschimpft und beschämt, nachdem Israel angegriffen wurde. Nein, nicht Israel: Menschen sind ermordet, gefoltert, vergewaltigt, geschändet und entführt worden. Ja, auch in Gaza sterben durch das israelische Militär Menschen, zu viele Menschen und es ist nicht angemessen und vielleicht auch nicht völkerrechtlich erlaubt, ein ganzes Staatsgebiet zu bombardieren. Auch das ist Unrecht. Aber niemals kann ein Unrecht durch das andere begründet werden.

26.2.24

Ich höre manchmal, dass irgendwer irgendwen schlägt. Auch aus meiner Verwandtschaft hörte ich schon, dass Väter ihre Kinder schlagen. Das ist wahrscheinlich sehr lange her, da meine Verwandtschaft gerade keine kleinen oder großen Kinder hat. Ich bin weder von meinem Vater noch von meiner Mutter geschlagen worden. Ich kenne die Angst des Kindes vor einem Erwachsenen nur aus dem Fernsehen.

Das ukrainische Militär sucht Soldaten. Die, die bisher gekämpft haben und nicht verletzt wurden oder gar gestorben sind, sind müde. Jetzt sollen andere an die Front.

Ich möchte nicht, dass meine Söhne an die Front gingen. Auch meinen Mann würde ich nicht schicken. Ich selbst würde wahrscheinlich auch nicht wollen. Vielleicht würde ich, vielleicht nicht, ich weiß es nicht. Ich bin nicht bereit, jemand anderen in den Kampf zu schicken, wenn ich es nicht selbst täte. Zu diesem Schluss bin ich gekommen. Junge Menschen sollten gar nicht an die Front gehen.

Wenn ich also vor dem Kreiswehrsatzamt aussagen müsste, würde ich Folgendes sagen: Ja, ich bin bereit, für die Freiheit zu kämpfen. Ja, ich würde mich selbst verteidigen, wenn ich angegriffen würde. Ja, ich würde auch dazwischen gehen, wenn jemand anderes vor meinen Augen angegriffen würde. Nein, ich bin nicht bereit, meine Söhne oder andere junge Menschen in den Krieg zu schicken. Ich wäre für Freiwilligkeit, obwohl das wahrscheinlich eine nicht zielführende Verteidigungsstrategie ist. Ich wäre für einen verpflichtenden sozialen Dienst, den man sich in gewissen Grenzen aussuchen kann.

Zu diesen Fragen soll man sich verhalten, auch wenn man überhaupt keine Erfahrungen hat. Mir reichen die Erfahrungen der anderen.

21.2.24

Die Kurzform für Nachdenken ist Nachdenken.

20.2.24

Angst setzt sich auf den Nacken und die Stirn wie eine bleischwere Feder und drückt auf die Zuversicht, zerquetscht sie regelrecht. So ist es, wenn man Angst hat. Man kann kein Licht sehen. Auch Augen zu machen, hilft nicht.

Beobachtung hilft: die Bewegungen eines anderen Wesens beobachten hilft, so lange die Angst einflößende Quelle nicht neben oder in einem sprudelt. Über Angst nachdenken, hilft auch. Ich denke nur nach.

19.2.24

Ein Wochenende reicht fast, um in mir für Ruhe zu sorgen. Dann beginnt die Woche wieder und alle Stimmen setzen zur Kakophonie wieder an. Ich sollte einen Dirigentenkurs machen.

15.2.24

Die Amseln singen. Ganz laut. Ich hatte vergessen, wie schön das ist. Jetzt fällt es mir wieder ein. Sprunghaft, urplötzlich. Diese Schönheit ist da und zwar ganz früh am Morgen, ohne dass ich etwas tun muss.

Ich liege seit halb vier wach. Es drehen sich meine Gedanken um Gespräche mit Kolleginnen, um Kinder, die ich angemotzt hatte, weil sie nicht ordentlich im Kreis saßen. Ein Koch, der unfreundlich ist und ein Kind, das ihn beschuldigt, er sei ein Rassist. Geht es auch eine Nummer kleiner? Manchmal ist mir alles zu viel. Nur die Amsel nicht.

14.2.24

Abtragen

Es gibt Tage der Niedergeschlagenheit. Es gibt Tage der Gelassenheit.

Es gibt Tage der Freude. Es gibt Tage des Ärgers.

Es gibt Tage des Gemischs.

Es gibt Tage.

Es gibt.

Es.

.

13.2.24

Ich gehe heute als Brausetüte, weil Fasching ist. Als ich ein Kind war, liebte ich Brause. Es gab Quader – so sagt man wohl – die auf der Zunge brannten, wenn man sie leckte. Orange war mein Lieblingsgeschmack, Himbeere, Waldmeister und dann Zitrone. Die Kostüme haben sich bekanntermaßen verändert: Indianer sagt man nicht mehr und zieht man auch nicht mehr an, Cowboy oder Cowgirl scheint noch zu gehen. Ich verstehe, warum es nicht sehr nett und emanzipiert ist, „Indianer“ zu sagen und sich wie ein Sioux anzuziehen. Wir Europäer hätten uns die Mühe machen können, unsere Kostüme „Sioux-Kostüme“ zu nennen. „Indianer“ ist auch wirklich ein blöder Ausdruck für die vielfältigen Volksstämme in Amerika, die so verschieden sind wie andere Menschen auf der Welt auch. Außerdem ist es eine Bezeichnung, die bekanntermaßen ein Europäer für die Menschen, die bereits dort lebten, fand, und auch dieser Akt der Fremdbezeichnung kann schmerzen. Vernichtung und Vertreibung war ein Verbrechen, da gibt es nichts zu beschönigen. Die Fremdbezeichnung eine bornierte Dummheit. Mein Sioux-Kostüm bleibt im Schrank. Meiner Ansicht nach gibt es Formen kultureller Aneignung, die erstrebenswert, geradezu begrüßenswert sind (dass die deutsche Küche auch Zucchine und Spaghetti kennt) und Formen kultureller Aneignung, die man ablehnen sollte, weil sie verletzend und diskriminierend sind. Genau betrachten ist wichtig. Ganz und gar bin ich der Meinung, dass man sich und die Kultur immer mal verändern kann und nicht alles beim Alten bleiben muss. Kultur ist nicht sauber, differenziert, ausgewogen, gerecht und abgeschlossen sowieso nicht. Es gibt kulturelle Praktiken, die ich gerne bewahren würde und welche, die ich sofort verbieten würde. Die Beschneidungen von Mädchen gehören zu letzteren. Aber das ist auch keine kulturelle, sondern eine politische Praktik zur Unterdrückung der weiblichen Autonomie. Der Kampf um Bilder und Identitäten lenkt vom Kampf um Rechte ab und mitunter führt es in der Denkbewegung auch direkt dorthin: Es geht um Gerechtigkeit und Wahrheit und beides lässt sich oft erst in kleinen Schritten herstellen. Wie in der Brause: kleine süß-saure Kristalle, die schmecken.

9.2.24

Kinder und Jugendliche sagen manchmal lustige Sachen. Unlängst sagte ein Mädchen zu mir, als ich ihren selbstgeschriebenen Krimi lobte: „Und das von der Meisterin!“ Ich lachte. Und freute mich. Ich weiß, wie schwer es ist, einen Text zu schreiben. Aber ich liebe es auch.

Es hält mich davon ab verrückt zu werden über Krieg, Gewalt und Ungerechtigkeit.

2.2.24

Der Vater eines Freundes ist gestorben. Ich erinnere mich an ihn. Er hatte bereits weiße Haare, als ich ihn kennenlernte, das ist dreißig Jahre her, nein länger: vierzig. Er war noch nicht pensioniert. Wahrscheinlich hatte er noch gar keine weißen Haare, aber ich erinnere mich an ihn nur mit schönem dichten, weißen Haar. Er war Förster und trug Knickerbocker, die bis zu den Knien gehen. Darunter Strümpfe und festes Schuhwerk. Sein Hund „Willi“ war ein netter Kerl, der Katzen nachjagte. Wenn er sie kriegte, war er nicht nett zu ihnen. An einer Hand hatte der Vater einen kurzen oder steifen Finger. Das hatte er sich im Spiel mit einem liegengebliebenen Stück Bombe oder Granate nach dem Krieg oder in den letzten Kriegswirren zugezogen. Er gehörte zu der Hitlerjungengeneration, die Amerikaner waren für ihn zunächst keine Befreier. Wenn er den Mut gehabt hätte, hätte er gegen sie gekämpft. Die Amerikaner konnten glücklicherweise meist den Unterschied zwischen einem Jungen und einem Soldaten erkennen. Später war der Vater in der SPD, seine Söhne bei den Grünen. Mit seiner versehrten Hand strich er sich durch das Haar. Wenn er lachte, lachte ich mit. Sein Lachen steckte an. Nach dem Essen spülte er ab und legte sich eine Stunde hin.

Seine Frau kochte sehr gut und am Sonntag gab es Suppe, Braten und Nachtisch. Im Keller lagerte eingekochtes Obst und Apfelmus, das dann geöffnet wurde. Immer war Fleischwurst im Haus, bei deren Herstellung man einmal im Jahr dabei gewesen war. Einmal im Jahr wurde geschlachtet – vielleicht auch häufiger – und ich bekam frische Fleischwurst mit.

Den Streitigkeiten mit seiner Frau ging er wohl aus dem Weg, wie er allen Streitigkeiten lieber aus dem Weg ging, wenn es um Gefühle oder Veränderung ging. Er war kein Liebhaber großer Veränderungen. Am Haus hing ein Hirschgeweih. Für den Hirsch war es eine Veränderung, an dem Haus zu hängen.

Ich mochte diesen Vater, vielleicht erinnerte er mich ein bisschen an meinen Großvater, der Vater meines Vaters, der sehr dick war und immer Hosenträger trug und immer eine Zigarre zwischen den Lippen hielt. Einer seiner beiden Zeigefinger war bis zum mittleren Knöchel gekürzt. Als Kind fand ich das unheimlich und war froh, noch alle Finger zu haben. Er hatte den halben Finger in Russland gelassen. Ich weiß nicht, was meine Großväter noch alles in Russland gelassen haben, aber es war sicher nichts Gutes.

Der Vater und die Mutter meines Freundes nahmen später meine Katze auf, die ich weggeben musste. Willi war schon tot. Sie sorgten sich um sie und Dimitrij genoss das Landleben, das sie bei mir nicht gehabt hätte. Sie hieß Dimitrij Karamasow, war aber ein Weibchen. In der literarischen Vorlage für die echte Katze, die auf ihren großen Namen hörte, ist die Figur ein Soldat. Ein russischer Soldat in Gestalt einer Katze im Haus eines ehemaligen Hitlerjungen.

Das Datum von heute ist beachtenswert.

1.2.24

Ich bin Zahlenmystikerin. Erst die eins, das Doppelte ist zwei, das Doppelte ist vier. Die Wiederholung der Zwei ergibt sich aus ihrer Schönheit. Die Zwei ist eine tolle Zahl: ein Paar. Aus einem Paar ergeben sich neue Dinge: Farben, Leben, Faktoren und Ergebnisse. Zwei ist die Garantie für Neues. Mitunter Überraschendes.

Heute regnet es draußen. Außerdem streiken die Bahnen, diesmal die U-Bahnen. Das Hessische Kultusministerium hat sich in Hessisches Ministerium für Kultus, Bildung und Chancen umbenannt. Die Vorlagen müssen jetzt überarbeitet werden: Ich übe HMBC. Gendern wird nicht mehr gerne gesehen. Ich habe noch nie gegendert, aber jetzt würde ich gerne anfangen. Das ist vielleicht ein kleinkindliches Verhalten, aber wo fängt Zwang an und wo hört Freiheit auf? Ist es Zwang, wenn die anderen offiziell „gendern“ und ich es aushalten muss oder ist es Zwang, wenn ich offiziell nicht „gendern“ darf. Offiziell darf man auch „Inklusion“ und „Vielfalt“ nicht miteinander verwechseln, wir Landesbeamte sollen es offiziell auch nicht zusammen gebrauchen. Es gibt im HMBC zwei Abteilungen. Eine für Inklusion und eine für Integration. Das ist begrifflich nicht dasselbe. Das weiß ich selbstverständlich. Allerdings richtet sich erfolgreiche und effektive Schulorganisation eher danach, welche Maßnahmen greifen: Wirksamkeit heißt das Zauberwort. (nicht) Erstaunlicherweise profitieren ein hochbegabter Türkisch sprechender Autist und eine im Lernen stark eingeschränkte Deutsch sprechende Schülerin gleichermaßen von einer Lernorganisation, in der es verschiedene Experten gibt und individualisierte Lernmaterialien arrangiert sind. In den meisten Fällen also ist eine inklusive Schule auch eine Schule, die der Vielfalt dient und umgekehrt. Ich schweife ab. Ich soll eben offiziell keinen weiten Inklusionsbegriff nutzen.

Ich bin dankbar dafür, dass ich Ideologiekritik gelernt haben. Ich bin mit Adorno und Horkheimer eine Weile abends eingeschlafen und morgens aufgewacht. Ich bin sehr dankbar dafür, dass ich Hannah Arendt gelesen und verstanden habe. Unser Bildungssystem hat an mir Erfolg gehabt. Ich gebe gerne meine Erkenntnisse weiter. Das ist ein schöner Satz mit elf „e“.

30.1.24

Nun, das Wort „im Dunkeln“ hat es mir wieder angetan. „Dunkelen“ oder „Dunkeln“ oder „Dunklen“ – alles scheint zu gehen. Sehr schön. Oben rechts in meinem Fenster erscheint jetzt das erleuchtete Fenster des Gegenübers im vierten Stock. Meine feuchten Haare trocknen langsam. Der Morgen dehnt und streckt sich. An mir ziehen bärbeißige Verwaltungsangestellte, unwillige Verantwortliche, irre Eltern und Beraterinnen, wildgewordene Kinder, fiese Kollegen, zu teure Preise, echte Konflikte, das kalte Wetter, Putin, Hamas und Höcke vorbei. Ich sitze immer noch hier und schreibe, und das Fenster im Fenster ist dunkel geworden. Ich brauche die schönen Wörter, um den Alltag zu ertragen.

29.1.24

Die Walnuss, die Macky, unser Eichhörnchen, in den leeren Bierkasten gelegt hatte, ist weg. Die Schalen liegen im Garten. Ich habe in die kleine Kuhle auf dem Ahornbaum nachgelegt. Eines der Eichhörnchen ist etwas heller und kräftiger. Als sie einmal zu zweit in den Garten gesprungen kamen, jagten sie sich verspielt. Es sah aus wie ein Liebestanz. Das eine Tier ist etwas feiner und kräftig rotbraun. Ich schaue nach, ob sie Nachschub brauchen.

28.1.24

Im Dunkel

Da draußen im Dunkeln sterben Männer.

Sie wurden geliebt.

Sie werden fehlen.

Da draußen im Dunkeln weinen Frauen.

Sie wurden geliebt.

Sie werden vermissen.

Da draußen im Dunkeln gibt es Menschen.

Sie werden geliebt.

Sie werden sterben.

26.1.24

Ich kam erschöpft nach Hause. Der anwaltlich ausgetragene Kampf um ein Kind mit einer hyperkinetischen Störung bindet mich an den Computer, obschon ich gut und gerne andere Dinge täte, die vielen guttäten. Zum Beispiel könnte ich das Kind unterstützen beim Lernen. Ich setzte mich auf das Sofa, schaltete nicht das Licht ein und schaute in den Garten. Das Ahorngerippe zeichnete sich deutlich vor dem immer dunkler werdenden Himmel ab. Der wurde erst Hellblau, dann immer dunkler.  Irgendwann zogen Wolken vorbei und ich schaute und staunte.

23.1.24

Die Bougainvillea schlägt aus. In mir keimt die Hoffnung. Dafür ist das Bankkonto leer. Irgendwas ist immer. Vielleicht schafft es die Zitrone auch noch. Das würde mir den Januar retten. Der Schnee ist getaut und das schmutzige Gras ist wieder zu sehen. Ich habe mir einen sehr alten Text vorgenommen, den ich immer noch sehr schön finde und lese ihn mir selbst laut vor. Vielleicht hilft es auch der Zitrone?

19.1.24

Ich war zum Neujahrsempfang der Stadt Frankfurt eingeladen und ging auch hin. Ich mag den Aufgang im Römer. Er versprüht 50er Jahre Flair. Ansonsten: ein lautes, graues, inspirationsloses Zusammenkommen. Das fade Essen war lieblos in kleine Pappteller gezwängt, man durfte es mit Holzgabeln essen. Alle Besucherinnen und Besucher trugen dunkle Kleidung, auf den Gängen schrie man sich an. Es gab keine Möglichkeit zu erkennen, wer wer ist, man musste sich schon kennen. Gibt es in der Stadtregierung oder -verwaltung niemanden, der sich mal etwas Bunteres, etwas Spritzigeres, etwas Liebevolleres ausdenken könnte? Das ganze Geld macht noch keinen Stil.

18.1.24

Jetzt also auch hier Schnee. Die Flocken schweben durch die Luft, mitunter scheint jemand zu pusten, dann wieder ein gleichmäßiges, kaum regelmäßiges, eher abwechslungsreiches langsames Gleiten durch den Raum zwischen den Häusern. In mir Unruhe und Anspannung, weil die Nachrichten auf mich einhämmern und es immer irgendwen gibt, dessen Verhalten mich ärgert. Immerhin war ich abgelenkt an diesem Schneetag: ich war den ganzen Tag mit Kindern und Jugendlichen zusammen und machte das, was Lehrerinnen so machen, versuchte ihnen die Welt aufzuschließen. Es ging um Physik, Literatur und die Arbeitswelt von morgen, um Rechtschreibung und gutes Benehmen. Ich bin gerne mit Kindern und Jugendlichen zusammen. Ich hoffe, es geht ihnen nicht ganz anders.

Meine geliebten Topfpflanzen sind wahrscheinlich gestorben: Physalis, Zitrone, Bougainvillea: alle erfroren und vertrocknet. Vielleicht bin ich deswegen traurig. Ich wollte die Spinnmilbenkatastrophe vermeiden. Jetzt habe ich die Abschiedskatastrophe.

12.1.24

Wann ist der Punkt erreicht, an dem man auch öffentlich politisch werden muss, um Hass, Nationalismus, Fremdenfeindlichkeit, Rassismus auch öffentlich zu bekämpfen? Mit jedem Wort meines intellektuellen Lebens, mit jeder Entscheidung in meinem beruflichen Leben bin ich gegen diese Bestrebungen, diese Entwicklungen eingetreten. Kaum erträglich, gar nicht erträglich sind die bitterbösen Reden von Remigration, vom christlichen Abendland, von Verschwörungen, von irgendeiner Überlegenheit, von Militarismus und von Heimatliebe. Es muss wohl dauernd gesagt werden, für was man lebt: für die Vermehrung der Liebe, für Offenheit und Neugier, für Vielfalt und Courage gegen jede Art von Ausgrenzung und Diskriminierung, für die Würde eines jeden Menschen, die er trägt, wenn er geboren wird.

10.1.24

Hitzige Debatten am Frühstückstisch. Wann habe ich das zum letzten Mal gehabt. Eine Weile her. Handys für Kinder und Jugendliche? Würde ich verbieten bis zum zarten Alter von 16 Jahren. Die sozialisatorischen Vorteile überwiegen die Nachteile. Tempolimit? Sofort einführen. Weniger CO2-Ausstoß und weniger Unfälle, weniger Lärm. Inlandsflüge? Abschaffen. Nutzt die Bahn. Gymnasien? Zu Gesamtschulen umbauen. Alle Kinder müssen mit allen Kindern klarkommen lernen. Förderschulen? Abschaffen. Alle Schulen radikal entwickeln lassen. Krankenhäuser genossenschaftlich oder staatlich organisieren. Verkehr auch. Boni abschaffen. Sehr große Einkommensunterschiede? Auf ein erträgliches Maß reduzieren. Reicht nicht 10x mehr zwischen dem Geringverdiener und dem Höchstverdiener? Ich würde auch das bedingungslose Grundeinkommen einführen. Dann würde ich weniger arbeiten können, jemand anderes würde sich mit mir die Leitungsstelle teilen können und ich könnte noch mehr hitzige Debatten am Frühstückstisch führen. Es gibt so viel andere Weisen, die Welt einzurichten, warum probieren wir es nicht? Fehlt die Phantasie, der Mut?  Die Hohepriesterin der Differenzierung ist mitunter für das Einfache.

8.1.24

Ich bewundere die Schweizer, wie sie mit der Kälte und dem vielen Schnee klarkommen. Ich muss sehr genau überlegen, was ich alle mitnehme nach draußen und alles muss an einem guten Platz sein: das Handy in der Jackeninnentasche, die Sonnenbrille muss ich aufsetzen, vorher muss ich mich eingecremt haben, Mütze in der einen und Portemonnaie in der anderen Außentasche. Wenn etwas nicht an seinem Platz ist, muss ich die Handschuhe anziehen und habe sofort kalte Finger. Schweizer kriegen nie kalte Finger. Bewundernswert.

5.1.24

Heute Morgen hatte ich etwas Zeit. Ich blicke aus dem Fenster, es wird langsam hell draußen, die Spatzen machen einen ziemlichen Krach. Es hört sich nicht einmal schön an, wenn sie schimpfen und sie schimpfen immer. Aber das macht nichts, ich höre das Zipp zipp, zapp zapp trotzdem gerne.

Unsere letztjährige und diesjährige Amsel setzt zum Landeanflug über dem Fenster an. Da sehe ich ihre weißen Flügelspitzen. Sie hat weiße Flügel, so als habe sie sie in weiße Farbe getunkt. Ich habe sie mehrfach im Garten nach Futter suchen sehen, immer auf dem Gras oder im Ahorn. Man erkennt an jeder Seite einen weißen Streifen. Seit Jahren taucht immer mal wieder eine solche Amsel bei uns im Garten auf. Es ist offenbar eine ganze Generationenfolge mit weißen Federn. Immer an einer anderen Stelle.

4.1.24

Ich sitze am Schreibtisch und schreibe meinen Regenwaldroman. In Kapitel elf gerät alles durcheinander. Ich sehe einmal hoch in den Himmel und er ist blau. Dann wieder eine Böe, die durch den kleinen Garten jagt. In der Realität gerät nichts durcheinander. Es ist wie es im Januar ist, nur der Schnee fehlt, wird aber sicher noch kommen. Die Vögel verziehen sich ins Efeu. Dort werden sie nicht durcheinandergewirbelt. Kaum ist der Wirbel vorbei, kommen Spatzen und Meisen, Amseln sowieso wieder heraus und schaben ihre Schnäbel an den Ästen des Ahorns. Das Amselmännchen wirft die aufgeschichteten Blätter unter dem Schmetterlingsstrauch empor. Es scheint ihn nicht zu stören, dass ich vor einer Stunden Pfefferminzöl vertröpfelt habe. Es soll die Mäuse im Garten vergraulen. Eine Zeitlang habe ich mich damit beruhigt, dass es vielleicht seltene Zwerg- oder Spitzmäuse sind, die unter Naturschutz stehen und keinen Schaden anrichten. Aber diese Interpretation ließ sich nicht halten. Es sind einfach, niedliche Feldmäuse oder gar die Brandmaus, die sich in unserem Garten nicht allzu wohl fühlen dürfen. Also stinke ich sie weg.

3.1.2024

Huch, schon der 3. Januar.  Ich muss mich wieder Mal beeilen, komme kaum nach. Was ich den ganzen Tag tue? Mich beeilen.

31.12.23

Was von diesem Jahr übrigbleibt?

Eichhörnchen im Liebestaumel

Gestorbene Physalis

Rotkehlchen auf Blumentöpfen

Morde in Israel

Entsetzen

Morde in Gaza

Entsetzen

Morde in Ukraine, Russland, Syrien…

Roter Himmel am Morgen

Roter Himmel am Abend

Intelligente Witze meines Liebsten

Kluge Beiträge zur Geschichte meiner Söhne

Treffende Worte

Schöne Worte

Essen mit Freunden

Freude darüber

Konzerte alternder Stars

Musik auf allen Wegen

Lautloses Brausen durch die Sommernacht

Eine verlorene Schwester

Ein geschaffter Berg

Zwei geschaffte Berge

Eiskaltes Bad

Tunnelblick

Worte von Freunden, die den Tunnel zerhacken

Italienische Vokabeln

Albanische Plätze

Igel im Garten

Kein Igel im Garten

„Guten Morgen, Frau Gölitzer“ immer noch

Jemand schreibt mir, mein Text sei „befreiend“

Literarische Besprechungen

Ein zerknirschter Habeck

Ich kann nicht mehr aufhören

28.12.23

Plätzchen, lange Schlafen, abends einen Dessertwein, die Siedler von Catan, Plätzchen, zwischendurch einen Apfel. Ich komme nicht zum Schreiben, es gibt zu viel zu essen.

17.12.23

„Herr Schimmelpfennig, ich würde Ihnen gerne die Beweise überreichen. Ich habe sie hier!“, sagte ich am Telefon, ich hatte mich endlich überwunden und den spanischen Kommissar angerufen, hoffte, dass er Deutsch oder Englisch sprach und nicht mit der Mafia unter einer Decke steckte. Ich hatte lange gezögert. Ich war verfolgt worden, wochenlang war ich davongelaufen, im Zug gefahren, im Auto über die Stadtautobahn und im Schiff geflohen, immer misstrauisch, weil ich fürchtete, die Polizei und die Mafia arbeiteten zusammen. Jetzt also hatte ich mich getraut, wollte endlich in Sicherheit sein. „Frau Gölitzer, ich kenne Sie nicht!“, antwortete er. Ich wachte auf. Jetzt erführe ich niemals, ob der Kommissar mich nicht erkannt hatte, weil der echte Kommissar mich nicht kannte oder der, den ich bisher gekannt hatte, ein Mafioso war oder ob der, den ich angerufen hatte, mafiös wäre. Wer genau arbeitete mit wem zusammen und wer war hinter mir her? Ich blinzelte in den Garten und sah die frühen Amseln und Meisen und wusste nicht, wem ich trauen konnte und warum ausgerechnet ich die Beweise besaß, die die Mafia überführen könnte. Der Sonntag war gelaufen. Heute Abend war ich mit zwei Freundinnen in einem Theaterstück, das leider nicht einlöste, was es versprach. Darüber waren wir uns einig.

16.12.23

„Bilder deiner großen Liebe“ im Kammerspiel war wundervoll: leicht und schwer zugleich, liebevoll und zugewandt, bedeutungsvoll und flüchtig. Danach waren die Männer und ich noch ein Wein und ein Bier im Centro trinken. Der Abend war köstlich wie eine Tortilla.

16.12.23

Die Eichhörnchen kommen bald jeden Tag und holen sich die Walnüsse. Ein etwas größeres in rot-grau und ein kleineres ganz rotbraun. Sehr hektisch, aber auch sehr entzückend wie es in die Erdbeeren springt, immer mit der Walnuss im Maul. Die Sonne liegt im Garten.

11.12.23

Was ich gestern an mir alles entdeckt habe: Meine Beine laufen langsam und schnell. Sie hören auf meine Wünsche. Meine Hände klatschen in die Hände bei einem gelungenen Spielzug auf dem Fußballfeld, davon gibt diesen Sonntag eine Menge, und mein Mund ruft: „Bravo! Sachsenhausen vorn!“ Mein Po macht es sich auf dem Sofa bequem. Meine Zunge und meine Nase probieren die selbstgemachten Chokocrossies in der Küche und schmecken dunkle Schokolade. Mein Körper sucht und findet eine Kalendergabe, weil mein zweiter Sohn es sich so ausgedacht hat. Meine Augen lesen ein Buch zuende und beginnen ein neues, das ich zum Geburtstag geschenkt bekommen habe. Mein Kopf weiß auch noch von wem. Meine Finger tippen diese Zeilen. Ich bin überaus glücklich.

8.12.23

Die Woche war dunkel, voller Husten, mit kalten und heißen Füßen, immer gerade so, wie es nicht passte. Meine Brust und mein Hals war Hackfleisch, das aus Schmerz bestand. Die Zunge war weiß und schwer, mit einem Samtteppich belegt. Die Augen aufhalten war anstrengend, den Kopf hochhalten auch. Die Vorstellung, auf dem Fahrrad durch Frankfurt zu fahren, am Morgen und Abend die Eschersheimer hoch: undenkbar. Eine solche Anstrengung kann mein Körper nicht aufwenden! Allein der Gang zur Toilette war ein Gang über eine wackelige, morsche Holzbrücke. Einmal fiel ich herab und holte mir einen Riss über dem linken Auge. Mein Liebster rettete mich. In den ersten vier Tagen fielen die Augen von allein zu und hinter den Augenlidern fuhren Menschen aus meiner Vergangenheit Karussell. Sie lachten und sangen, machten sich lustig und aßen Kuchen. Ich war froh, wenn ich den Salbeitee mit Honig herunterbekam. Ich träumte, dass wir nach Thailand flogen, um dort in der Sonne am türkisblauen Meer zu sitzen. Ein andermal träumte ich den Traum, den ich immer wieder träume, dass ich mich am schwarzen Strand von Costa Rica in die Wellen stürze. Langsam tauche ich wieder auf, das Hackfleisch wird zur Luftröhre, der Husten hat sich weitgehend verabschiedet und die Zunge springt leicht und wortstark durch den Mund. Es scheint möglich, mit dem Fahrrad durch Frankfurt zu radeln und dem kalten Wind entgegen zu spucken, ohne selbst getroffen zu werden.

29.11.23

Es gibt Kollegen, die möchten, dass ich dienstliche Treffen anordne oder genehmige, dass sie auf eine Demonstration gehen. Wenn es dann Ärger gäbe, könnten sie sagen, dass ich es angewiesen oder verboten habe. Auch politisch Aufgeweckte sind darunter und sehr kritische Geister. Sie kennen Hannah Arendt nicht. Sie kennen mich nicht.

28.11.23

Gestern schneite es. Es begann schon zu Mittag. Aus meinem großen Fenster im Büro sah ich den Schnee verwirbeln. Als ich das Haus verließ, es war bereits dunkel, war alles weiß. Ich hatte nur Turnschuhe an, keine Winterstiefel, die waren gleich nass. Aber das störte mich nicht. Das zarte Geräusch des Auftretens auf Schnee erinnerte mich daran, wie schön Berührungen sind.

27.11.2023

Der Mann, mit dem meine Mutter die meiste Zeit ihres Lebens verbrachte, ist vor vielen Jahren kurz nach Weihnachten gestorben. Mein Vater, der auch schon sehr lange tot ist, hat am 24.12. Geburtstag. Weihnachten wird mir also schwer ums Herz. Es ist dunkel draußen, es regnet und kalt ist es auch. Meine Bronchien mögen das Wetter auch nicht, sie lassen mich hüsteln oft und anhaltend.

Dieser Mann, dem ich viel zu verdanken habe, weil er sich nicht nur um mich, sondern um uns, meine Schwester, meine Mutter und mich sorgte, öffnete in den letzten Jahren seines Lebens keine unangenehmen Briefe mehr. Wir fanden nach seinem Tod diese Briefe in einem Schrank, er hatte sie einfach dort hineingelegt oder geworfen. Er wollte nicht wissen, wie man ihn bei der Versicherung abfertigte, er wollte keine unangenehmen Informationen mehr aufnehmen.

Ich verstehe das gut. Es gibt Briefe und Mails, die verstörend und beleidigend, kränkend und gemein sind, die in Amtssprache oder auch ganz privat, hässlich und verletzend sind. Es spielt dabei auch keine Rolle, ob die Worte von deiner Schwester, der Versicherung, von Kollegen oder fremden Personen stammen. Zugleich müssen unangenehme Dinge auch gesagt werden, sonst kann es ja keine Veränderung geben.

Wer sagt das jetzt zu wem? Ich bin aufgeteilt in mehrere Stimmen.

25.11.2023

Ich habe einen großen Gedanken wiedergefunden. Ein kleines dunkles Buch von Omri Boehm hat mich daran erinnert. Es gibt wohl Werte, die man nicht relativieren kann. Da gibt es kein Getue. Sie gelten für alle, auch für die, die sie nicht gelten lassen wollen.

Man muss lernen stillzuhalten. Man muss lernen, etwas zu sagen. Und man muss unterscheiden.

19.11.23

Nach Indien kam Nepal. In Nepal liefen wir auf steinigen Pfaden entlang. Auf den ersten Kilometern führte es uns durch dichte Wälder und wunderbare Täler, in denen bis hoch auf steinigen Terrassen Reis gepflanzt wurde. In kleinen Kiosken am Wegesrand gab es Chai und Kekse. Kartoffeln, Tee und Kekse. Einmal am Tag ein gut abgehangenes Stück Jackfleisch zum Knabbern. Ich habe immer dieselbe Strategie beim Wandern, ich habe sie damals gelernt. Ich schaue nur auf meine Füße und den nächsten Stein. Ich achte auf meinen Atem und versuche einen regelmäßigen Rhythmus zu finden. Das gelingt auch meist. Es ist anstrengend, aber möglich. Ab und an bleibe ich stehen und schaue mich um. In Nepal sieht man Berge, die bis zum Himmel reichen und Täler, die den Himmel langziehen. Ich war ein Teil davon. Je höher ich mit A. kam, desto kleiner wurde ich. Die Geröllfelder zogen sich bis an die Wolkengrenze und ich verlor den Sinn für Größenverhältnisse. Überall knackte es, zwischen den Steinen am Boden floss ein Bach. Der Atem ging schwer und als ich wieder aufsah, stand ich vor dem Pumori, der unverheirateten Tochter des Mount Everest. Je näher man dem Berg kommt, umso weniger sieht man. Der Weg zurück dauerte Tage. In meiner Erinnerung gehe ich diesen Weg manchmal.

18.11.23

In Indien habe ich die Prosa entdeckt. Zuvor schrieb ich nur Gedichte.

Mein damals noch kurzes Leben war so prosaisch abgelaufen: Dauernd passierte etwas, das man nicht vermutet hatte, nichts blieb so, wie es gewesen war, am Abend wusste ich nicht, was der Morgen brachte, außer dem GL-Lehrer, der blieb gleich und beruhigte meine unruhige Kinderseele. Selbst das, was blieb, hatte Dialoge und Beschreibungen verdient, deshalb schrieb ich Gedichte, weil das die Form war, die am wenigsten Dreck zuließ.

In Indien kam ich dann auf Figuren, Schauplätze, Beschreibungen, Dialoge und Kipppunkte. Allein schon der Bahnhof in damals noch Bombay knallte in meinen Kopf mit Wörtern: Menschen vor, in und auf den Zügen. Ich hatte geglaubt, abgebrüht zu sein, aber für das, was mich da erwartete, war ich nicht abgebrüht genug. Kinder, die an meinem T-Shirt zogen und Bakschisch wollten, Menschen, die auf der Straße lagen und sich nicht rührten, Männer die uns in die eine oder andere Richtung zerrten, ein Englisch, das ich nicht verstand. Aber das allerschlimmste waren die Männer, die mit Augen und mit Fingern meinen Körper vermaßen.

In irgendeiner Stadt lernten wir auf der Straße einen jungen Studenten kennen, der uns am Abend zum Essen einlud. Er wollte uns zeigen, wie man in Indien richtig Reis kochte. Er nahm wohl an, dass wir in Deutschland nur Parboiled Reis kannten. Er lebte in einer Einzimmerwohnung mit einem anderen Studenten in einem einstöckigen Haus an einer befahrenen Straße. Damals drehten dort nur indische Autos und Rikschas ihre Runden. Die mageren Kühe standen überall im Weg. Wir wurden empfangen und bekamen Tee. Gekocht hatte er bis dahin nichts. A. und ich setzten uns auf eines der Betten, die an den Wänden gegenüberstanden. Es gab keine Sitzgelegenheiten. Sein Mitbewohner verabschiedete sich kurz darauf. Kaum hatte ich mich gesetzt, setzte er sich neben mich und legte den Arm um mich. Er muss mehrere Arme gehabt haben, denn sobald ich einen Arm abgestreift hatte, legte er einen anderen um mich und suchte meinen Busen. Inder verehren Götter mit vielen Armen, warum sollte es bei den Menschen anders sein? A. wartete auf den Reis, der nicht einmal aufgestellt war. Er fragte, wie uns Indien gefiele, immer fragten sie das, immer fragten sie, wie einem Indien gefiele und antworteten dann, Indiens sei groß, Indien sei schön und alles sei möglich in Indien. Wir antworteten diplomatisch, weniger euphorisch als unser Gastgeber hoffte. Noch aufdringlicher als seine Arme waren seine Worte, die er mir so laut ins Ohr flüsterte, dass selbst A. sie verstand: „Free Sex“. Ich verstand das indische Englisch selten, das schon, stand nicht gleich auf, wartete das dritte „free sex“ ab, stand dann auf. A. war verdutzt, er fragte, wo der Reis sei oder etwas Ähnliches, wir gingen. Kein Reis. In der Zeit unseres Besuchs hätte man sicher Reis kochen können, wir waren zu lange geblieben, wir hatten Erwartungen geweckt schon mit unserem Besuch, aber weder A. noch ich hatten diese Erwartungen vorausgesehen.

Meine Vorstellung und das, was ich erlebte, musste in Indien in Zusammenhang gebracht werden. Die Worte, die ich für das Erlebte fand, galten nicht mehr nur für mich, sondern auch für andere. Der Dreck der Welt, war nicht nur mein eigener. Die Worte, die man dafür findet, gehören nicht mir allein. Das habe ich in Indien gelernt.

17.11.23

An Geburtstagen bin ich meist gut gelaunt. Schon immer. Beschwingt stehe ich auf, lächle in den Tag. Die Tatsache, dass ich älter werde und immer weniger Zeit haben werde, etwas Schönes zu machen, macht mir an diesem Tag keine Angst. Zwischen den Geburtstagen schon. Ich rechne dann aus, wie oft ich aller Voraussicht nach noch einen Frühling erleben werde. Zwanzig Mal ist nicht so viel. Seit ein paar Jahren habe ich begonnen, solche Berechnungen zu beenden mit einer Achtsamkeitsübung: Der Frühling jetzt gerade ist sehr schön, wild, edel, berührend usw. Außerdem sammle ich ausgefallene Adjektive. Das hilft von sinnlosen Berechnungen wegzukommen und wieder darauf zu achten, dass man auf der Eschersheimer Landstraße nicht von der U-Bahn überfahren wird. Was hülfe einem da die Berechnung? An meinen Geburtstagen ist mir das alles egal. Ich freue mich einfach, dass meine Eltern mich liebten und lieben, dass sie mich ausgetragen und ausgehalten haben und dass ich schon so alt werden durfte. Ich freue mich auf den Regen, der mir beim Fahrradfahren ins Gesicht weht, ich freue mich über alle die kleinen und großen Aufmerksamkeiten, die mir heute zuteil werden, ich freue mich, dass ich da bin und mich habe. Auf Johnny, das Eichhörnchen, freue ich mich, auf den heranbrechenden Tag mit rosa Himmel, auf Cous Cous von meiner Kollegin Leyla, auf die Umarmung meines Liebsten, auf die etwas schüchternen Blicke meiner zwei Söhne, auf das Liedchen meiner Freunde, auf das „Guten Morgen, Frau Gölitzer, wie geht es ihnen“ (ohne Fragezeichen) von Yousef aus der neunten Klasse, auf die Sonnenflecken im Garten, auf Leserinnen und Leser meiner literarischen Texte, auf die Leute auf der Berger Straße, auf meine abendliche Lektüre. Ein einziges Mal war ich an meinem Geburtstag nicht guter Dinge. Das war in Indien. Ich war mit meinem damaligen Liebsten auf Reisen. Wir hatten uns gestritten. Es ging ums Küssen. Ein saublöder Streit. Vielleicht verwechsle ich das aber auch mit Silvester 1986-1987. Ein saublödes Silvester in Indien, bei dem ich noch vor 12 Uhr aus Verzweiflung und Einsamkeit eingeschlafen bin. Indien ist ein anderes Kapitel. Ich lese gerade von Omri Boehm: Radikaler Universalismus. Das ist die Form der Radikalität, die ich bevorzuge. Es beschwingt mich geradezu. Darauf freue ich mich heute auch. So kann ich doch ein neues Lebensjahr gut beginnen.

11.11.23

Im Gras liegt das Orange.

Das Rot klebt am Himmel,

nachdem das Schwarz „Guten Morgen“ gesagt hat.

Im Grün finden sich Wallnüsse,

das Braun der Erde variierend.

Die Farben in meinem Kopf malen den Tag und die Nacht bunt, bevor ich die Augen schließe.

Die Farben bleiben.

9.11.23

Theoretisch und literarisch habe ich die Aufgabe, die Dinge, die sind, so zu beschreiben, dass sie ansichtig werden. Dinge, die sind, sind oft nicht sichtbar. Mitunter verschwinden die Dinge, wenn man sie beschreibt. Je länger man darüber nachdenkt, desto unklarer. Das sind die besonders kniffligen Fälle, die sich am besten unscharf beschreiben. Poesie hilft hier. Traurigkeit und Melancholie ist poetisch ein sehr geeignetes Ding. Ich habe ein besonders gutes Verhältnis zur Natur und seiner Beschreibung. Wenn ich am Morgen in den Schuhen meines Liebsten nach draußen gehe, einen französischen Stuhl, der auch in einem Park in Paris steht, in der Farbe „Glaceblau“ von der Terrasse nehme, unter den gelb-orange-farbenen Ahornbaum ins feuchte Gras stelle, auf den Stuhl steige, in der Astgabel die kleine Kuhle ertaste und dort eine Walnuss lege, dann weiß ich, dass in diesem Vorgang und seiner Beschreibung mein Glück liegt. Ein Glück, das ich mit in den Regen nehme.

8.11.23

Regen in Landau. Regen in Frankfurt. Regen in mir.

3.11.23

Der Rasen ist bedeckt mit gelb-roten Blättern. Also wirklich: er kommt, der Herbst und der Winter.

30.10.23

Der Traum reicht bis lange in den Tag hinein. Das Gefühl der Verlassenheit und Einsamkeit ummantelt mich so eng, dass ich mich kaum bewegen kann. Wie soll ich das Fahrrad auf den Berg bringen? Ich gehe allein den Taunushügel des Ortes, in dem ich aufgewachsen bin, erst hinauf, dann hinab. Mein Mann fährt in einem VW Käfer mit gepackten Koffern an mir vorbei. Mein Mann fährt in einem VW Käfer an mir vorbei mit gepackten Koffern. Der Satzbau in reihender Form, hintereinander: Zack, Zack, Zack trifft es genau, die Form des Nachsatzes: und jetzt kommt noch was, es war noch schlimmer als schlimm, das passt besser. Ich neige zu Reihungen. Es gefällt mir. Ich mag auch parataktische Texte. Man darf es nur nicht übertreiben, wie mit fast allem. Mein Mann verspricht mir, dass er mich nicht auf einem Hügel im Taunus allein stehenlassen wird, wenn er mich irgendwann mit dem VW Käfer verlassen sollte. Das beruhigt mich. Ein wunderbarer Traum ist, wenn die Realität schöner ist als der Traum.

25.10.23

Ich gebe zu, ich hatte Unrecht. Marmelade und Marmelade kochen schützt nicht davor, der Demagogie, Propaganda und Hassrede zu verfallen. Putin, Le Pen, Höcke, aber auch Wagenknecht oder Söder haben sicher nie Marmelade gekocht. Und wenn doch, was hat es gebracht? Wären Sie sonst noch unerbittlicher, noch einfacher im Weltbild? Sie Anhängerinnen und Anhänger haben sicher gekocht. Wahrscheinlich haben sie sogar während des Köchelns den verleumderischen Reden der Einpeitscherinnen und Einpeitscher gelauscht. Was sagt mir das? Es gibt kein einfaches Mittel gegen Propagandisten.

24.10.23

Wer Marmelade kocht, muss die Dinge auseinanderhalten und warten können. Erst wäscht man das Obst und sortiert Stängelchen aus. Mitunter hat man auch ein Blättchen abgezupft oder entdeckt eine Made. Anschließend kommt die Beere, die Traube, die Reneklode in den Topf. Dann wird erhitzt, nicht zu stark, nicht zu wenig, gerade so, dass man daneben steht und umrührt und der wunderbare Duft warmer Früchte in die Nase steigt. Jetzt muss man entscheiden, ob man mit Kernen oder ohne möchte. In einem verregneten Jahr gibt es viele Maden. Es empfiehlt sich die Pampe, die im Topf köchelt, durch ein engeres Sieb zu drücken. Linksrum, rechtsrum und so lange, bis der Sud, der unten herauskommt, schön sämig ist. Danach wieder in den Topf mit dem dicken Saft und jetzt macht man nach Gefühl oder nach Abmessung Gelierzucker hinein. Ich mache es immer nach Gefühl. Die Tellerprobe ist recht sicher: Wenn man nach kurzem Aufkochen einen Klecks auf den Teller macht und der Klecks schnell gerinnt, ist die Marmelade fertig. Ich mag keinen Gelee, den man schneiden muss, deshalb ist meine Marmelade oder mein Gelee immer löffelflüssig. Andere Leute mögen das nicht mögen, aber die können ja andere Marmelade essen. Kurzum: Wer Marmelade kocht, braucht die intellektuelle Fähigkeit des Trennens und Zusammenfügens und Wartens. Lasst uns mehr Marmelade kochen!

23.10.23

Ein schönes Datum.

Es gibt Dinge, die ich sprachlich nicht, noch nicht verarbeiten kann. Diese Dinge geschehen. Und ich warte und fühle mit, bis irgendwann ein Wort dazu reift. Es wird nicht süß sein wie die dunklen Trauben aus dem Garten einer Freundin, die ich in diesem Jahr zu Marmelade verarbeitet habe.

21.10.23

Ich habe einen Klumpen Erde bearbeitet, der so trocken und hart war, dass ich auf ihn einschlagen musste, bevor er zerbrach. Ich brauchte die Erde für den Zitronenbaum, den ich umgetopfte. Wie hart die Erde wird. Die Sonne fällt auch in Brocken in den Garten. Jetzt gerade eher in zarten Leinentüchern. Ich hoffe, die Pflanzen saugen auf, was möglich ist. Ich auch. Das ist notwendig.

18.10.23

Kälte

Beißt

Löcher

Werden

Mehr

11.10.23

Mir kommt mitunter die Lust abhanden. Die Lust, etwas zu erklären, die Lust, jemanden zu begeistern, die Lust jemanden davon zu überzeugen, dass es gut ist, kein Auto zu fahren, dass man nicht mit allem prahlen muss und dennoch stolz sein kann, dass es Werte gibt, die für alle gleichermaßen gelten, dass Religionen alle gleich unfrei machen und in der Regel Unrecht zementieren, dass es keine einzige akzeptable Begründung dafür gibt, jemandem zu überfallen und zu verletzen oder zu ermorden, dass es keinerlei Abstufungen im Menschsein gibt. Dass ich das Haus verlassen muss.

Wenn ich das so schreibe, wird ein Jammergedicht daraus, das ist gut. Das ist sehr gut.

4.10.23

Kurze Wörter. Gehen vorbei und sind verschwunden. Wie Menschen, die in den Garten schauen. Dann sind sie weg. In meinem Kopf bleiben sie stehen. Ich mache mich unbeweglich, vielleicht geht dann das Bild nicht mehr fort.

3.10.23

Die Luft am Morgen ist sehr kühl. So kühl, dass ich mich kurz frage, ob ich wirklich mit nackten Füßen den Rasen betreten soll, auf dem jetzt bereits einige Blätter des Ahorns und der Akazie liegen. Noch sind es eher die getrockneten Blätter des Sommers, noch nicht die fallenden Blätter des Herbstes. Es gibt einen sehr schönen Film von Ari Kaurismäki: „Fallende Blätter“. Es geht um die Menschen, die wie fallende Blätter im Wind herumgewirbelt werden und irgendwo landen.

2.10.23

Es knackt zwischen den Bäumen. Es knackt unter den Füßen. Wenn die Kinder nicht weiterlaufen mochten, erzählte ich ihnen, dass die Waldgeister das Gejammer nicht gerne hören. Sie würden dann böse. Gejammer mögen sie nicht, auch nicht, wenn man wütend die Steine wegtritt. Wir suchten kleine Höhlen und Löcher in den Bäumen, um zu schauen, ob man von den Zwergen, Gnomen und Waldgeistern etwas entdecken könne. Aber mehr als kleine Steinhaufen haben wir nie entdeckt. Die Kinder glaubten es und jammerten weniger. Sie schichteten die Steine auf und legten Blumen und Moos darauf. Immerhin, die Waldgeister trieben es nie toll mit uns und wir fanden immer wieder aus dem Wald hinaus. Mittlerweile sind die Kinder groß. Im Wald wohnt es noch. Unzählige Male.

1.10.23

Die Füße kalt, die Brust warm. Herbst im Körper.

27.9.23

Die Sache mit den Belüftungsgeräten in Schulen: Unter Pandemiebedingungen gab es eine Diskussion darüber, ob man die Luft in einem Raum, der klein ist und in dem viele Menschen sitzen, mit einer Belüftungsanlage, die aussieht wie ein amerikanischer Kühlschrank und brummt, reinigen kann von Viren und anderen Allergenen. Eigentlich eine ganz gute Sache. Weil der Mensch ein eingebautes Panikprogramm hat (das Säbelzahntigerprogramm), hat die Dezernentin für Bildung und Schule oder wer auch immer entschieden, alle Schulen erhalten Lüftungsgeräte. Vielleicht habe ich auch zu den Befürworterinnen gehört, gut möglich, auch ich klammere mich an jeden Strohhalm, sowieso wenn er ein solches Volumen wie ein amerikanischer Kühlschrank hat. Jetzt kriegen die Schulen diese Dinger. Sie sind sehr groß, brummen und werden mit Hilfe eines Kabels an den normalen Strom angeschlossen. In jeder Klasse steht also jetzt idealerweise so ein Ding, mit dem Kabel quer durch den Raum und die Türen der Räume sollen zu sein, weil nur dann das optimale Umwälzverhältnis erzielt wird. Wenn dauernd jemand raus und rein geht, stimmen die Messwerte ja nicht mehr. In einigen Räumen sollen zwei oder vier dieser Geräte stehen. In einer neugebauten Schule mit einer neuen Lüftungsanlage im Haus, in Räumen, deren Türen meist offen sind, in denen die Menschen sich bewegen und raus und rein gehen und die ohnehin eher zu eng sind als zu weit, man kaum an die Materialien kommt, die im Regal stehen, hielte ich ein zusätzliches Gerät, das rumsteht und Strom verbraucht, für unsinnig. Die Schulkonferenz hat sich auch dagegen ausgesprochen. Die Firma sieht das selbstverständlich anders. Sie bat um eine Begehung und verschrieb uns 27 Stück plus noch mehr, die wir dringend brauchten. Wir haben aber wieder abgelehnt. Die Firma erinnerte uns an die bevorstehende Winterzeit.

Ja, mag sein, ich werde falsch entschieden haben, mag sein, wir werden viele Infektionen haben. Mag sein, wir werden darüber nachdenken, ob es nicht sicherer gewesen wäre, so ein Monstrum im Raum stehen zu haben.

Es wäre auch möglich, darüber nachzudenken, ob man die Gebäude nicht noch etwas anders bauen kann, noch großzügiger, mehr Möglichkeiten zum Rückzug, viele große Fenster, statt dünne Belüftungsschlitze. Es wäre möglich, darüber nachzudenken, dass ein Raum mit 25 jungen Menschen und einer Lehrkraft nicht das ist, was Menschen anregt zum Lernen. Wir könnten also darüber nachdenken, ob Lernen in der Schule nicht auch ganz anders funktionieren könnte – wir denken ja darüber nach, sagt meine innere Stimme. Wir und wir sind offenbar unterschiedliche Leute. Das andere „Wir“ denkt lieber über die technischen Lösungen in Gestalt eines stromverbrauchenden Kühlschranks nach. Ich verheddere mich in den Personalpronomen.

25.9.23

So ein Wort wie Kompatibilität mag ich. Es ist schwer auszusprechen, aber mir kommt es ohne Stolpern über die Lippen. Es ist so schön, weil es so viele Vokale hat, denke ich. In unserer Küche am Morgen gibt es einiges zu sehen: die liegengelassenen Pullover meines Sohnes, eine Brille auf dem Küchentisch, das gespülte Geschirr auf der Spüle, die Traubenmarmelade in umgedrehten Gläsern. Die Dinge erzählen von dem gestrigen Abend, an dem eine Freundin und ich Marmelade einkochten, gegessen wurde und sich Menschen zur Nacht fertig gemacht haben. Alles noch da. In mir eine Unruhe, die ich nicht genau bestimmen kann. Vielleicht geht sie durch mich hindurch.

22.9.23

Gestern kam ich mir nicht wie der kleine Prinz vor, sondern wie eine ausgelutschte Banane. Das Bild drängt sich mir nicht wegen des Bildes, sondern wegen des Klanges auf. So wie es klingt, fühlte ich mich. Ich falle auf das schöne blaue Sofa und schaue in den trüben Garten, in dem es gleich regnen, ja gewittern wird und nichts ist in mir außer unschönen, verderbten, kalten und verrauchten Worten. Ich habe Hunger und keine Lust zu essen, bin müde, will aber nicht schlafen und verschwitzt und mag nicht duschen. Regelrecht zerquetscht die Banane. Mein Liebster geht mit mir Spinatlasagne essen. Das hilft. Danach bin ich eine Physalis, die gerade eine Spinnmilbenbehandlung erhalten hat: noch gelb, aber bereits ganz stabil und von unschönen, verderbten, kalten und verrauschten Worten befreit. Spinatlasagne mit dem Liebsten, das ist es!

19.9.23

Es gibt ein rotes Eichhörnchen bei uns im Garten, das versuche ich zu zähmen. Ich komme mir dabei vor, wie der kleine Prinz. Ich habe ihm gestern und vorgestern in den Ahornbaum eine Walnuss gesteckt und am Sonntag habe ich beobachtet, wie es sie holt. Dann ist das kleine Kerlchen den Baum hinuntergeklettert, hat die Walnuss angeknabbert und hat sie vergraben. Eine halbe Stunde später ist das Tier zurückgekommen und hat sie wieder ausgegraben und gefuttert. So wird das nichts mit den Wintervorräten. Gestern habe ich wieder eine Walnuss in den Baum gelegt, heute war es weg. Ich versuche es jetzt noch einmal. Es wird gelernt haben, wo es etwas zu fressen gibt. Ich darf es auch nicht zu sehr verwöhnen, es legt sich gerne in das verlassene Nest der Tauben und ärgert die Meisen. Wenn wir unter dem Ahorn durchgehen und es dort im Nest bequem liegt, macht es lustige Töne: etwas herausgepresste Drucklaute. Ich fürchte, es hat auch das Meisennest geräubert. Das wäre nicht sehr putzig.

18.9.23

In Deutschland gibt es heilige Kühe. Die laufen auf Straßen herum, blöken laut und beanspruchen Vorfahrt an jedem Feldweg. Den Müll fressen sie nicht weg und auch sonst hat man nicht viel von Ihnen außer die Illusion, man würde ein gutes Leben geschenkt bekommen. Die Wahrheit ist: ein gutes Leben bekommt man nicht geschenkt. Man lebt es aufrecht jeden Tag. Wachstum, Autos, Gymnasium, Fleisch – ohne geht in Deutschland nichts. Man darf es sich nicht einmal vorstellen. Allein die Phantasie, es ohne zu versuchen, bringt Menschen in Wallung, negative Wallung. Der sächsische Ministerpräsident soll über die Grünen gesagt haben: „Ich mag diese Leute nicht, ich mag ihre Lebensart nicht.“ Ich kenne diese Leute nicht, die der Ministerpräsident meint, aber ich glaube, er bezeichnet einen Teil des Souveräns. Den Souverän muss er nicht mögen, er muss nur Politik für ihn machen. Ich mag keine Leute ohne Phantasie. Ich mag keine Spießer. Ich bin nicht religiös. Echte Kühe sind wundervoll. Ich schaue ihnen gerne ins Gesicht.

13.9.23

Kafkas Kurzgeschichte oder Novelle, was ist es eigentlich? Eine Parabel? Eher eine Novelle, Kafka wollte sicher nicht allzu lehrreich sein. Der Käfer in seiner Unbeholfenheit und Eingesperrtheit geht mir oft durch den Kopf. Da bin ich gerade einen langen steinigen Weg, mit Nadeln und Stöckchen belegten Weg auf sechs Beinen gelaufen, da kommt ein lebensgefährlicher Harztropfen von links oder ein Blatt, das quer liegt. Das wäre jetzt eine Fortführung der Novelle, Kafka dachte sicher nicht an den tschechischen Nadelwald. Ich bin nicht Kafka. Ich muss immer an den Wald denken. Ich phantasiere mich oft in den Wald. In den Taunus und in den Regenwald. Wie es gerade kommt. Es ist immer nur einen Moment wirklich schön, dann geht es wieder los.

11.9.23

Nicht sattsehen kann ich mich. Ich kann mich nicht sattsehen. Als ich aufstehe, fällt Licht in unseren Garten. Kein Lichtkegel, der alles für den Menschen in die Sichtbarkeit zieht. Eher ein Schatten eines Lichtes, ein Mondlicht. Ich öffne die Terrassentür und gehe in den Garten auf die Wiese in die Nähe des Ahornbaumes. Dort steht man ungefähr in der Mitte, nicht ganz, kann aber rundherum die Häuser sehen und auf die andere Seite des Hauses, auf der ich den Mond erwarte. Es ist nicht der Mond, sondern der Schein des Lichtes auf der Toilette, wie ich vermute, eines Nachbarn, der seit Wochen und Monaten an etwas baut. Er hat sein Toilettenlicht vergessen oder baut etwas, das nachts das Licht benötigt. Was könnte das sein? Die Autos der Stadt sind schon wach. Ich höre es rauschen. Aber der Himmel! Ich sehe den großen Wagen, den kleinen Löwen und großen Löwen, den Abendstern, der jetzt der Morgenstern heißt und ganz eigentlich die Venus ist, ein anderes Sternenbild, das ich vergessen habe und noch viele, viele andere. Einen Moment bleibe ich stehen und danke dem Nachbarn. Das Toilettenlicht, die Sterne und die Dunkelheit, welch ein anbrechender Tag. Der kann nur gut werden.

10.9.23

Die jungen Amseln streiten sich im Garten. Es geht darum, wer bleiben darf. Sie fangen sich an der Mauer, jagen um den Kirschlorbeer, in dem möglicherweise ihre Kinderstube war. Derweil hüpft die Kohlmeise die Nektarine Ast für Ast empor und singt. Meine Decke ist faltig geworfen. Man könnte darin eine Landschaft sehen. Kleine Figürchen würden Höhlen finden. Ich wünschte, ich würde beim Ausschütteln der Bettdecke mal wieder ein Playmobil- oder Legofigürchen finden. Ich wüsste dann: Die Phantasie ist unterwegs. Die Phantasie, die keine Toten will, sondern leben möchte. Präsens und Konjunktiv können sich abwechseln.

5.9.23

Meine tägliche Morgenkontemplation durch das Tippen im Dreifingersystem hat wieder begonnen. Halb sechs in der Früh ist es wieder dunkel, nicht einmal mehr dunkelig. Mir derwirscht Martin Grubinger durch den Kopf. Hier geklopft und da getrommelt. Er spielt in einer Geschwindigkeit mit anderen gemeinsam einen Rhythmus, dass sich das Raum-Zeitkontinuum nicht beliebiger, aber aufeinanderfolgender und zunächst unverständlich zusammenhängender Punkte zu einem Ganzen zusammenfügt. Das physikalische Bild stimmt nicht ganz, da es wohl kaum beliebige Ereignisse oder Punkte sind, die sich in dem Fluss der Musik ergeben, sondern sehr wohl komponierte und gespielte. Das Bild gefällt mir trotzdem: ein Universum von Schlägen und einzelnen Tönen, die sich zu einem Volumen entwickeln, in dem man schwebt. Das Universum muss sich wohl gefallen lassen, dass es in meiner Vorstellung ein Volumen hat. Ich habe einen wiederkehrenden Traum: Ich reise an den Pazifik in Costa Rica und tauche in das Meer. Anderes Bild, etwas weniger pompös. Das Klischee trägt im Schlepptau ein feines Gefühl. Meer und Universum sind zwei schöne Worte. Die helfen bei Streit im Alltag.

3.9.23

Fähre, Adria, Nachtzug, Mailand, ein nicht gesehenes letztes Abendmahl, tagsüber 36 Grad, Kneipenabend, Ankunft Frankfurt. Es ist kalt. Die Mauersegler auf und davon. Heute ist Sonntag. Die Verbene blüht und verbreitet einen süßen Zitronenduft. Auf der Holzbank liegt ein totes Mäuschen. Irgendwo schreit ein Kind. Meinen Liebsten hat es mit Corona erwischt. Ich kenne mich noch aus mit den Schnelltests und bleibe negativ. In meinem Universum kreisen Albanien, John Irving, Philosophen, die Geistesblitze haben und der Regenwald durcheinander. „Guten Tag, kommen Sie aus Wien?“ „Nein, ich bin gerade der Blutrache entronnen und habe von dem bitteren Sud des Ayahuasca getrunken, um mein Leid zu vergessen!“ „Sie sind auch Hauptschullehrer, Karl Popper?“ „Sie auch, Madame?“ „Nun ja, ich habe ein Herz für die Entrechteten und Unterprivilegierten!“ „Die Kleinen gehen immer vor!“ Ich habe eigentlich gar keine Zeit zum Arbeiten, ich muss erstmal in meinem Kopf aufräumen.

22.8.23

Der Muezzin singt mehrfach am Tag. Einmal um 12:46 Uhr als wir in einer Bar einen Kaffee trinken. Die laute Rockmusik vermischt sich mit dem angenehmen Sing-Sang, der von der Moschee rüberklingt, während ich in ein süßes Teigbällchen – Petulla – mit Puderzucker beiße. Die Hauptstraße von Durres, die wunderschöne Palmenallee führt geradewegs auf die Moschee zu. Man sieht sie vom Meer aus kommend von unten. Der Platz ist gut gewählt. Der Sing-Sang verklingt im Kaffeehausgedudel und Geplapper. So muss es sein: die Stimmen mischen sich und in den Pausen kann man die Stille genießen. Albanien: Schwurjungfrauen, Kanun, Europa, Balkan, ausrasierte Nacken, langhaarige Frauen, Plastikmüll, Bettlerinnen auf den Landstraßen, eine Millionen Pfannen und saftige Nektarinen, Schotter, eiskalte Bergflüsse, gefüllte Paprika, gemeinsames Tanzen, Musik, aufgerissene Fußgängerwege, lose Elektroleitungen, Bars, Raki, Lachen, Fahnen…Ishte e mire (Ischte e mira).

21.8.23

Tagsüber leere Straßen. Der helle Stein reflektiert die Sonne so, dass ich mit zugekniffenen Augen darüber schleiche. Hetzen ist nicht möglich in dieser Hitze. Ein Amphitheater in Durres: es öffnet sich überraschend hinter Wohnhäusern, zu denen schlechtgelaunte Albaner Zutritt verlangen. Wir stehen im Weg. Das Theater liegt tausende Jahre alt und sehr abgetragen hier und versperrt der Modernisierung den Weg. Man erkennt noch die Eingänge, ein paar Ränge und selbstverständlich die Bühne. Am Nachmittag fahren wir durch Nebenstraßen, die keine Befestigung kennen, gesäumt von Bars, in denen und davor ausschließlich Männer sitzen und an hohen Mauern vorbei, hinter denen zu Wohlstand gekommene Bürger ihr Haus gebaut haben. Mitunter fehlt das oberste Stockwerk. Aber man sieht, dass es schön werden wird. Wir kommen an auf einer Farm, in der Gemüse ökologisch angebaut wird. Tiere gibt es auch. Das Essen ist sehr gut. Ich wusste nicht, dass in Sauerrahm eingelegtes Maisbrot und Oliven so köstlich sein können, dazu einen Salat mit Tomaten und Gojibeeren. Wir bekommen Obst und Schnaps zum Nachtisch, alles frisch, und den Nussschnaps zapft man uns anschließend in die Literflasche. In Albanien gilt das Gesetz im Straßenverkehr: 0 Promille. Die Bedienung meint, damit man den Verkehr schaffe, müsse man erstmal zum Frühstück einen Schnaps trinken. Einer von uns ist enthaltsam.

19.8.23

Überall Tiere und Menschen: Schildkröten, Pferde, Kühe, Katzen, Hunde, einige auch tot und platt auf der Landstraße. Das ist der Preis der Freiheit. Diesen zahlt man überall auf der Welt, wenn man gegen die schnellen Autos läuft. Nein, ich wollte nicht zynisch werden. Es brach sich Bahn. Die Telefonleitungsmasten am Straßenrand stehen schief und Melonen so saftig süß und rot an jeder Straßenecke.

Mittlerweile ist es 36 Grad in Albanien und ich kann nicht mehr so gut denken. In der Nacht feiert man ausgiebig mit Liveband im Hotel. Ich kann nicht schlafen, will nicht mittanzen. „Saze“ heißt der Gesang, eine Art mehrstimmiger Klagegesang, durchaus tanzbar.

17.8.23

Ich habe vor dem Hotel in Divjaka einen Hund angesprochen und mir folgten dann fünf. Mathias wechselte die Straßenseite. Mir taten die Tiere leid. Das Meer liegt hinter dem Hotel, in dem nur junge Männer bedienen, die abwechselnd auf ihr Handy schauen und die Marmelade in großen Schüsseln wieder auffüllen. Wenn man ein paar Tage an einem Ort bleibt, lernt man bald die Familien und Pärchen kennen, die auch hier verweilen. Eine englischsprachige Familie mit fünf Kindern. Ein älteres Ehepaar, das beim Frühstück immer schweigt.

16.8.23

Skhoder ist eine Kleinstadt an einem großen See: Skadarzo Jezero an der Grenze zu Montenegro. Am gegenüberliegenden Ufer ist Podgorica, die Hauptstadt Montenegros. Eine Prachtallee ohne Pracht, aber viele kleine Läden, in denen man alles bekommt, was man braucht. Es gibt mittlerweile eine Fußgängerzone, in der sich eine Bar an die andere reiht und überall gibt es Bier und Chardonnay, auch Rotwein. Die Hunde liegen dazwischen.

15.8.23

Die letzte Nacht in Theth war eine albanisch internationale Nacht. So wie wir gekommen sind, sind wir verabschiedet worden. Männer tanzten mit Rakigläsern auf den Köpfen, die Frauen mit einem Taschentuch in der Hand hoch über ihrem Kopf. Das sieht sehr edel aus. Und man kann schnell den feuchten Kopf des anderes damit trocken. Getanzt wird im Kreis. Die Schritte werden nur von den Einheimischen beherrscht, aber anders kann man es nicht erwarten, also muss mir mein Getrampel auch nicht peinlich sein. Wir tanzten also im Kreis und bei den ganz schnellen Liedern, den ganz ganz schnellen Liedern sausen immer ein zwei Leute in die Mitte und tanzen durch das Zentrum und wieder hinaus. Unsere Bekanntschaften aus Bad Segeberg, Berlin und Hamburg nahmen beherzt das Zentrum ein, so dass mein Liebster und ich uns auch trauten. Es kribbelt einen Moment, bevor man eintritt ins Zentrum, aber dann wird man angefeuert, es wird gepfiffen und gejohlt und man freut sich. Ganz besonders schön und lustig ist es, wenn sich noch jemand anderes findet, der zeitgleich in den Innenkreis einsteigt und sich eingehakt mit dir im Kreis dreht. Der Außenkreis tanzt und klatscht einfach die ganze Zeit weiter. Der junge Herr des Hauses holte irgendwann die albanische Flagge, die die Tänzer im Kreis in ihre Bewegungen miteinbauten, verstehe wer will, ein unernster gemeinsamer Akt kann glücklicherweise schwerlich Pathos gewinnen. Gleichwohl war der wilde gemeinsame Tanz getragen von der gemeinsamen Lust, die Nacht und die Musik und die Begegnung zu preisen. Atemlos und verschwitzt schliefen wir ein. Die Nächte da oben sind kühl.

14.8.23

Wir sind in internationaler Begleitung über den Maja Valbones Pass gewandert. Von Guesthouse zu Guesthouse waren es am Ende 17 km. 800 Höhenmeter. Das ist eine Menge – wer es nicht weiß. Wir sind es gelaufen und bestaunten die rauen Berggipfel rundrum und das Hundevolk auf dem Passpfad. Dort oben aßen wir das dicke und weiche Weißbrot mit Ziegenkäse. Den Hunden gaben wir etwas ab. Hinter uns Spanier, vor uns Australier, neben uns Deutsche. Albaner gab es auch. Lastenpferde und Maultiere kamen uns entgegen oder überholten uns. Der Wechsel der Natur ist erstaunlich. Erst Schotter und Felsen, so groß, dass man wie über Treppen geht, dann kam ein zarter Lärchenwald und ein Wiesenstück, das bezauberte. Danach die Wucht: ein steiler Berghang durch den Buchenwald. Ich krabbelte auf allen Vieren. Die Apfelsine und ein Ei gaben mir die nötigen Reserven zurück. Nachdem wir das hatten, eine ganz lange Linie mit kurzen Kiefern, Enzian und Wiesen. Außerdem der Endspurt zum Pass: in Schlangenlinien nach oben bis zum kargen Fels und dort auf einem so engen Pfad, dass man sich ein bisschen windschief an die Wand fallen lassen musste. Die internationale Besetzung verlief sich, wir liefen in unserem Tempo und kamen erschöpft und stolz in Theth an. Ein Tal wie im Paradies mit Mirabellen, Pflaumen, Kirschen, Birnen, Brombeeren, eiskalten Gebirgsflüssen und freien Ziegen, Pferden, Kühen und vielen Bienen.

8.8.23

Das albanische Geld hat zwei Nullen mehr als der Euro. Ein Börek kostet also 50 bis 100 Leki, ein Teller Weißbrot mit Tomaten und Olivenpaste 320 Leki. Der Eintritt ins Museum kostet 700 Leki. Offenbar gibt es viele Touristen. Wenn man nicht achtsam ist, hat man auch schnell eine Sonnenbrille auf der Nase, die über hundert Euro kostet und weil ich Schwierigkeiten mit den Nullen habe und mich mit Marken nicht auskenne, hätte ich sie fast gekauft. In unzähligen kleinen Geschäften in niedrigen Häusern an der Straße, an Ständen auf dem Bürgersteig kann man alles kaufen, was nützlich ist: Sitzsäcke alle Größen und Formen, Pfannen in unterschiedlichen Ausführungen. Für ein paar Groschen kann man sich auf die Waage stellen oder die Schuhe putzen lassen. Es gibt auch die üblichen großen Geschäfte für Luxusartikel aller Art – zum Beispiel Sonnenbrillen. Zu fast jeder Stunde läutet die Kirche, zweimal am Tag singt der Muezzin. Die Elektroleitungen schwingen im Wind, ich bleibe an jeder Ecke stehen und betrachte die Knäule aus Kabeln und Verteilerkästen. Auf dem Rasen liegen die freien Hunde schlafend. In den Cafés sitzen die albanischen Homo Sapiens. Die Männer mit rasierten Köpfen, manchmal bleibt oben ein zarter Teppich. Die Frauen lange, glatte Haare. Dieser männliche und weibliche Phänotyp nimmt auch in Frankfurt und sogar in Italien zu. Aber in Albanien scheint er zuhause. Ich betrachte lieber die Hunde und gönne mir eine imperialistische Cola. Albanien hat harte Zeiten hinter sich und die achtziger Jahre mit alternativen Geschlechtertypen sind übersprungen worden. Meine Theorie wird verworfen. Die Menschen leben nicht in abgeschlossenen Biotopen. Hier trennen kein Graben und kein Meer die Populationen. Hier bildet sich keine neue Art heraus. Der Schönheitstypus „bullig rasiert“ und „frisiert glatt- und langhaarig mit Mittelscheitel“ ist im europäischen Trend, ganz einfach.

7.8.23

Bari gibt es in Form einer sehr verwinkelten, sehr weißen Altstadt, in der man sich verirren kann und nicht mehr weiß, wo Osten und Westen ist, weil man den Himmel nur als dünnen hellblauen Streifen sieht, wenn man den Kopf nach oben richtet. Der Stein heißt „Trani“. Er ist so hell, dass er blendet. Unten schaut man in private Küchen ohne Fenster, mit einem weißen Vorhang von der engen Gasse getrennt und es brutzelt etwas auf dem Herd. Wenn die Küche nicht privat ist, kann man sich vor die Tür setzen und bekommt etwas aus dem Meer auf den Teller. Aperol Spritz auf jeder Karte. Wann genau ist das erfunden worden? Vor 15 Jahren? Vorher gab es das nicht. Mir war es nie aufgefallen. Jetzt schon. Paare, die meine Kinder sein könnten, trinken es literweise. Ich frage mich, seit wann ich so alt bin? Auch das war mir nie aufgefallen bis jetzt. Ich trinke aus Protest keinen Aperol Spritz. Der moderne Teil von Bari ist – so nehme ich an – aus dem zwanzigsten Jahrhundert, Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts. Das erkennt man an den teilweise gigantischen Jugendstilpalästen. Sogar die Holztüren und Fensterrahmen sind noch geschwungen und im Original zu sehen. Wir trinken Café in einer Bar, die dunkel und geschwungen ist. Zu allervorderst aber der Benettonpalast, den man auch begehen kann. Innen ein hoher Raum mit zwei Galerien, die man über eine wunderschöne Treppe erreicht. Es gibt T-Shirts und Röcke, Pullis und Hosen für kleine und zierliche Menschen, die Herbstkollektion ist nicht nach meinem Geschmack: sehr bunt und formig. Am Abend sitzen alle Italiener auf der Straße und am Strand. Da gibt es kein Alter. Bunt und formig wie die Benettonpullis. Wäre Benetton doch lieber in der Kleiderbranche geblieben, dann hätten wir ein Unglück weniger in der Welt (die Autobahnbrücke bei Genua brach auseinander, Benetton hatte das Stück zuvor gekauft, wer da welche Säumnisse hat, darum wird gestritten).

6.8.23

Eine lange Fahrt von Frankfurt am Main nach Bari in Apulien liegt hinter uns. Der erste Teil der Zugfahrt war sehr belebt. Wir hatten reservierte Plätze. Neben mir saß ab Basel der Sohn von Sean Penn. Er war etwas nervös, aß Chips und leckte sich die Finger ab. Unentwegt spielte er an seinem Handy rum. Wichtige Nachrichten von seinem Vater vermutlich. Mir gegenüber mein Liebster und ein stiller Mensch aus Karlsruhe. Im Nachbarviererabschnitt saßen Mannheimer, die sich über die Frage austauschten, ob die Presse und die Medien generell rot-grün beeinflusst sind und ihre Aufgabe als kritische Presse noch erfüllen können. Es gab sehr unterschiedliche Positionen dazu, die auch begründet wurden, also eine interessante und kluge Debatte, die ich leider mitanhören musste, obwohl ich eigentlich zu schreiben hatte. Lesen ging nicht bei dem Durcheinander, ich hatte den neuen John Irving zuhause gelassen, weil ich bereits Dreiviertel gelesen habe. Ich ärgerte mich. Das weitere Schicksal Adams hätte mich ablenken können. So hörte ich also den Mannheimern zu. In der Schweiz stiegen an einem mir unbekannten Ort, den ich bereits wieder vergessen habe, noch vor Chiasso, eine Menge Menschen aus. Wanderurlaub. Ich hoffe, sie erholen sich von Deutschland und den rot-grün beeinflussten Medien. Dazu stieg ein kleiner, drahtiger Kambodschaner ein, der sich an den leergewordenen Vierersitz setzte und grimmig dreinschaute. Mathias stand auf, weil er sich die Füße vertreten wollte und wurde prompt beschimpft von ihm: „Verpiss dich!“ Andere Reisende drumherum wurden mit dem international bekannten Mittelfinger bedacht und auf Deutsch vertrieben. Es wollte sich keiner zu ihm setzen. Ich traute mich nicht mehr, in seiner Richtung zu schauen, obwohl ich ihm schräggegenüber saß. Er beruhigte sich bis Chiasso und wurde erst wieder sauer, als andere hinzugestiegende Gäste an ihm vorbeigingen. Offenbar ein Deutsch sprechender Schweizer, asiatischen Aussehens mit Tourette-Syndrom, der in Como ausstieg und sich da auch wieder zurechtfinden muss. Mathias veranlasste das Erlebnis zu der Erkenntnis, dass er über keine Gegenwehr besitzt und für diese Welt nicht gemacht ist. Ich erinnerte mich an einen frühen Kurs in Jiu Jitso. Ich würde dazwischengehen.

Der Nachtzug ab Milano war brechend voll. Wir hatten zwei Liegeplätze in einem Viererabteil ergattert. Wir bezogen es mit zwei jungen Italienern, die kein Wort sprachen, nicht stanken, nicht schnarchten. Ich traute mich einmal, kurz vor Bari schon auf Italienisch zu fragen, ob ich das Fenster etwas öffnen könne. Sie bejahten, sie sprachen also. Ich schlief gut, wenn auch mit Zwischenstopps, in denen ich kontrollierte, ob mein Rucksack unberührt sei und ich nicht halb nackt auf der Pritsche läge, weil ich nur ein sommerliches Nachthemd anhatte, dessen Spaghettiträger sich gerne einmal über die Schulter ziehen. Beide Ängste wurden nicht wahr und ich bin froh drum. Selbstverständlich ist die Gefahr auch immer ein bisschen der Reiz, aber ich kann darauf verzichten, nachts im italienischen Zug die Geldbörse entwendet zu bekommen. Die harmlosen Italiener oder italienischen Harmlosen waren die richtigen Schlafgefährten und ich war ausgeschlafen und guter Laune heute Morgen in Bari. Mathias leidet an der fehlenden Fußfreiheit. Aber das ist angesichts des Meeres und der immer wieder wunderschönen untergehenden Sonne am Meer längst vergessen. Offensichtlich sind wir – zumindest gemeinsam – doch für diese Welt gemacht.

2.8.23

Dauerhaft wechselhaft. Gestern war ich im Wald. Es war wundervoll: Entweder regnete und tropfte es oder die Sonne flutete den Raum zwischen den Bäumen, dem Farn und dem aufgeschwemmten Moos. Mit einem Mal nahm das Dunkelgrün das Licht auf und wurde hell, die wenigen Himbeeren leuchteten und die Brombeeren dunkel dazu. Das Walddach öffnete sich. Kaum hatte ich zwei Beeren gepflückt, regnete es wieder und ich wurde von oben und von unten nass. Die Luft war mild und die Sonne heilte Minuten später alle Mühe. Es war wunderlich und wunderbar. Mathias machte Pläne für eine Veranstaltung im Wald.

30.7.23

Auf der Rückfahrt mit dem Zug sitzen wir gegenüber einer Mutter und ihrer Tochter. Die Tochter ist noch in den Teens. Sie hat spitze lange Fingernägel und obenrum nur eine Art BH an. Ein Bustier sagt man wohl. Eigentlich kann sie mit diesen Fingern kaum etwas machen, aber Tippen auf dem Handy geht. Junge Mädchen haben heute oft glatte Haare und lange Fingernägel. Auch die Nationalspielerinnen der Fußballmannschaft haben fast alle lange Haare. Interessant.

29.7.23

Mir gegenüber im Zug sitzt ein schwerer Mann in einem Hoody mit der Aufschrift „paranoid society“. Ein Mangabild darüber. Er hält sein Handy in beiden Händen, von Zeit zu Zeit wischt er weiter. Er hat kurzgeschnittene gepflegte Fingernägel. Sein Kopf liegt auf der Brust, er atmet schwer. Ich sehe unter seiner schwarzen Kappe nur den schwarz-grauen Bart. Ich kann nicht erkennen, ob seine Augen geschlossen oder offen sind. Nur einmal richtet er seinen Kopf etwas auf, gerade so, um sich umschauen zu können, aber mich sieht er nicht an. Ich sitze ihm eng gegenüber. Mir ist es selbst etwas zu eng. Aber was soll ich tun, der Regionalzug hat es eingerichtet. Vor Marburg regt er sich mehr. Er wischt mit den beiden Daumen über das Glas seines Handys. In Marburg steigt er aus, ohne sich umzusehen. Warum trägt er ein Sweatshirt mit dieser Aufschrift? Was hat er ohne Kopfhörer auf seinem Handy alles betrachtet? Eineinhalbstunden. Vielleicht schlief er wirklich. Ich bin nicht sicher.

23.7.23

Gestern Nacht war ich mit meinem Liebsten am Main. Wir strichen zwischen dem Montez und der Weseler Werft umher nach einem Bier oder Wein und nach dem Gefühl, dass Sommerabende unendlich sind. An der Weseler Werft gab es ein Festival, das es bereits einige Jahre gibt. Wir schauten einem stillen Spektakel von brennenden Fensterrahmen zu, nur eine kleine Weile, die vier Fensterrahmen wurden getragen, bewegten sich auf uns zu – der laue Sommerabend war lau genug, wir wollten nicht in die Nähe des Feuers geraten. Also trödelten wir zum Montez zurück. Ich erzählte meinem Liebsten, wer Lola Montez war und wir lauschten der DJ-Musik mit einem Plastik-Pfandbecher in der Hand. Ein Teil der Leute saß auf der Treppe zur Brücke, andere standen auf dem Vorplatz oder tanzten. Der Sommerabend war unendlich. Als wir von Unendlichkeit genug hatten, schlenderten wir von der Musik weg nach Hause. Wir trafen einen Freund und ehemaligen Mitbewohner von Mathias, der sich gerade mit einem Musiker unterhielt. Wir unterhielten mit. Man fragte sich, wann die wilde Silvesterparty im Messeturm gewesen sei, als der Messeturm noch im Rohbau war (vor 1995), wann das Cookies musikalisch ins Aus geriet, wann man im Höhenkoller über dem McDonalds an der Konstabler Wache tanzen war und wie der Nachtclub der Amerikaner hieß: Funkadelic. Hinterm Sinkkasten. Ion Javelin spielte noch in Moskwa TV, ich machte gerade Abi, Jean Claude und mein Liebster lebten in einer WG in der Moselstraße, in der die Mäuse unter den Matratzen vertrockneten und Helmut Kohl war Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland ohne den Osten. Es gab noch die Mauer, drei Fernsehprogramme und kein Internet und Handy. Andere Zeit also. Der Abend verlängerte seine Unendlichkeit überraschend und ungeplant, so muss es sein mit der Unendlichkeit. Als ich etwas später im Bett lag, las ich John Irving und es war egal, ob es 1988 oder 2023 ist.

15.7.23

Das Gewitter naht. Wieder liegt ein dünner Wasserflaum auf dem Grün. Die jungen Amseln haben sich ins Gebüsch verzogen. Das Wochenende schenkt mir Zeit, die wertvollste aller Gaben. Unter der Woche kämpfe ich gegen Unwissenheit, Dummheit, Arroganz und Ungerechtigkeit, Zerstörung und schlechtes Benehmen. Ein Wochenende reicht manchmal nicht, um mich zu erholen. Ein Vater, der in der IT-Branche arbeitet, meinte, nachdem ich ihm auf seine Bitte nach einem Gespräch hin schrieb, ich hätte gerade keine Termine frei, wir könnten uns aber in den ersten zwei Sommerferienwochen zum Gespräch treffen, er habe keine Zeit in den Ferien und ich könne doch wohl mal meine Frühstückspause verkürzen. Jemand anderes meinte, es sei doch wohl nicht zu viel verlangt, wenn ich regelmäßig eine PDF auf die Homepage stellen würde, das würde doch nur zwei Minuten dauern. Mehrere abgehende Schüler, die mit der Haupt- und Realschulempfehlung im fünften Schuljahr gekommen sind und mit einer Oberstufenempfehlung nach dem zehnten Schuljahr gehen, meinten, die Schule sei „ ein Griff ins Klo“ gewesen, Eltern sagen mir, wir hätten zu wenig Nawi, zu wenig Mathe, zu wenig Deutsch, zu wenig Musik, zu wenig Reli gegeben (bei uns fällt selten etwas aus), Kollegen argumentieren, die Nachmittagssitzungen seien „on top“ oder „zusätzlich“, sie vergessen, dass sie 41 Stunden in der Woche arbeiten müssen. Die Idiotie kennt keine Grenzen: weder alt noch jung, studiert oder nicht – Es wird oft nicht bis zwei gedacht, schon gar nicht hin und her, auch nicht differenziert, und Spannungsfelder, Ambivalenzen, Ambiguitäten gibt es sowieso nicht.

Die Zeit dehnt sich, und ich schöpfe Kraft am Regen.

12.7.23

Ich habe heute Nacht auf Französisch geträumt. Ich träumte, ich unterhielt mich mit einem Franzosen in der Bahn. Er sprach tatsächlich Französisch mit mir und ich verstand ein wenig. Wie klar diese Erinnerung ist, dass ich sie im Schlaf erinnern kann. Mich trieb des Nachts noch eine andere Erfahrung um. Die Erfahrung der Einsamkeit. Ich stehe allein auf einem Gleis, es kommen ein paar Kolleginnen, sehen mich und steigen in einen anderen Waggon ein. Ein Platz neben mir im Raum bleibt leer. In Rom, ich möchte essen gehen, bin allein unterwegs, aber im Restaurant komme ich mir verloren vor und weiß gar nicht, wohin mit meinem Blick. Es ist ganz gut, eine solche Erfahrung zu haben, weil es mich daran erinnert, was ich brauche und liebe. Mitunter frage ich mich auch, was mich in solche Situationen bringt. Gut ist die Erfahrung auch, weil ich sie aushalten kann. Es macht mich traurig, aber nicht mehr als das.

Einsamkeit ist ein schreckliches Gefühl. Vielleicht das schrecklichste, das ich mir denken kann. Leider aber auch ein Gefühl, das die Sinne schärft und die Sprache anregt. Unumgänglich als Erfahrung.

11.7.23

37 Grad sind angesagt. Mir macht die Hitze nicht viel. Sogar mein Blutdruck spielt mit. Allerdings schlafe ich mehr. Am Sonntag ein halbes Stündchen und gestern war ich bereits um halb neun im Bett. Die Physalis hat eine Frucht. Sie ist nur kniehoch, aber immerhin. Die Spinnmilben sind nicht zu sehen. Ich schaue bald jedes Blatt jeden Tag nach. Außerdem habe ich die Frucht aus dem letzten Jahr eingepflanzt und die kleinen Pflänzchen schauen jetzt über den Blumentopfrand. Aber auch sie sind befallen. Immerhin hat sich die Süßkartoffel erholt. Ich war kurz davor, die schöne Pflanze wegzuwerfen. Ich stelle mir vor, ich wäre Gärtnerin oder Ärztin geworden. Irgendwas Pflegerisches. Das hätte mir auch gestanden. Aber noch viel schöner ist es, sich das vorzustellen. Wer sich etwas vorstellen kann, kann die Welt verändern.

9.7.23

Es ist heiß. Richtig heiß. Die Bienen müssen belüftet werden. Außer Eis und einen Espresso muss man tagsüber nichts zu sich nehmen. Ich gehe von einem Schattenplatz zum nächsten, zum Abkühlen in die Wohnung. Am schönsten ist der Moment kurz bevor es gewittert. Es verdunkelt sich der Himmel. Es beginnt zu krummeln. Aber heute gehe ich leer aus. Keinen Tropfen regnet es, kein Lüftchen regt sich.

5.7.23

Es hat geregnet. Der grüne Teppich draußen ist feucht, die Tomaten knallrot. Erdbeeren, Himbeeren und schwarze Johannisbeeren sind verdaut. In den USA wird das Wasser knapp, in Italien ebenso. Andernorts ist es zuviel. Bei uns im Garten ist es gerade richtig für den Moment. Grundsätzlich ist es rar. Darüber lohnt doch die Aufregung. Vorgestern saß eine sehr junge Blaumeise vor unserem Fenster. Ein kleines, rundes piepsendes Ding. Schon Federn, aber doch sehr zart. Es suchte sich auch bereits auf der Terrasse selbst etwas und schien ganz keck. Möge der leichte Regen für ordentlich Vogel- und Igelfutter sorgen. Und alle Patriarchen möge auf der Stelle der Schlag treffen! Wer weiß, welche Lebenskraft das in der Welt entfesseln würde?

4.7.23

Ein Brot zu backen bedeutet, dass man Zeit lässt. Es muss gehen. Es muss geknetet werden und wieder ruhen. Im Ofen wird es groß und duftet. Der Mensch ist ein Tier, das seine Nahrung zubereitet. Aus Nahrungsmitteln werden Speisen.

Ähnlich wie unter Corona und dem Maskengebot debattieren einige Eltern an der Schule gerade, ob ihr Kind ein Tablet im Unterricht benutzen soll. Es scheint mir so, dass Menschen sehr erregbar sind. Kaum findet sich etwas, das die Gemüter erregt, geht es los. Ich gehe auch lieber in den Wald als an das Tablet. Aber ich sehe keine gesellschaftliche Mehrheit für den Wald.

29.6.23

Seit Tagen ist es wieder etwas kühler früh am Morgen. Das Gras ist klamm. Wenn ich mit der Hand durch die Blätter streife, löse ich eine leichte Tröpfchenbrise aus. Die Tauben sind aus dem Ahorn verschwunden. Ein anderes Taubenpärchen hat ihnen vielleicht den Platz streitig gemacht. Das Gurren unmittelbar vor der Terassentür hat also aufgehört. Die Tauben machen beim Anfliegen Geräusch. Es macht tatsächlich „flatter flatter flatter“. In einem sehr dunklen, satten Ton, der unterhalb der Aufmerksamkeitsschwelle liegt. In den frühen Morgenstunden achte ich darauf. Diese Zeit ist meine Zeit. Mir kommen die besten Ideen. Manchmal auch am späten Nachmittag auf der Terrasse. Oder bei Fahrradfahren. In der U-Bahn, wenn ich Yiruma höre. Wenn ich auf einer Holzbank hocke (einfach, weil es sich schön anhört).

28.6.23

Der Geist ist unruhig. Die Tomaten reifen. Drall und rund hängen die Ärmchen der kleinen Pflanze durch. Die Beeren lassen sich suchen, es sind die letzten. Jetzt kommen Kirschen und dann noch etwas später Brombeeeren zum Zug. In meinem Rucksack habe ich in einer entlegenen Seitentasche eine Maske gefunden. Ach, da war mal was? Die Millionen Coronatests in der Schule müssen jetzt entsorgt werden. Es braucht sie niemand mehr. Es sind keine Millionen, vielleicht 400. Ablaufdatum überschritten. Die Tauben gurren im Baum. Es ist ein Pärchen.

21.6.23

Im Juni sammle ich jeden Morgen Beeren: Walderdbeeren, Himbeeren und jetzt auch bereits die ersten Johannisbeeren. Die letzteren sind mir die liebsten. Ich liebe diesen sauren und herben dunklen Geschmack der lila-schwarzen Früchte. Sie schmecken nach Baumrinde und Erde und Regen und Sonne zugleich. Ein kleines Schälchen bekomme ich jeden Morgen gefüllt. Einen Teil nehme ich mit zur Arbeit, einen Teil friere ich ein, einen Teil spende ich meinen Männern. Sie kommen in den Kühlschrank: die Beeren. So könnte es ewig weitergehen. Irgendwann kommen die Kirschen und die Nektarinen. Aber dann ist der Sommer bereits reif. Jetzt ist er noch frisch, johannisbeeren eben. Fünfmal e, auch schön. Während ich das schreibe, habe ich ein Lied von Peter Gabriel im Kopf und die Amseln rennen um den Rosmarin. Sie hüpfen nicht, sie rennen. Ein Weibchen hat eine weiße Feder links. Diese Amselfamilie, in der es weiße Federn gibt, lebt schon sehr lange in unserem Garten. Und jetzt sieht es wieder nach Regen aus. Ich ziehe trotzdem ein Kleid an. Es ist ein wundervolles Gefühl, um die Bein Luft zu haben, wenn es heiß ist. Und es ist sehr heiß. So heiß, dass die Igel sich unter die Palettensitze legen und niesen.

20.6.23

Es hat endlich stark geregnet. Die Erde war steinhart und ein Igel flüchtete sich in unseren Garten. Am Sonntag lag er eingerollt unter unserem Palettensitz, schnäufelte und grunzte. In der Nacht zu Montag vertilgte er eine Portion getrocknete und eingelegte Maden und Würmer. Aber gestern sah ich ihn nicht mehr. Ich hoffe, er hat ein gutes Plätzchen gefunden, ich hätte ihm gerne ein Heim gegeben.

Jetzt der Regen. Das Grün sagt „Aaah“. Es riecht nach Erde und Moder. Ich würde mich gerne auf den Rasen legen und den Regen empfangen. Die Vorstellung, die Götter schicken den Regen, ist kein bisschen abwegig. Die Amseln frühstücken.

12.6.23

Eine Hilfsorganisation hat 1000 Männer und Frauen im Alter von 18 bis 35 Jahren online anonym befragt, wie sie zur Gleichberechtigung stehen, ob sie schon einmal handgreiflich geworden seien und wie ihr Rollenbild sei. Es ist nichts Gutes dabei herausgekommen. Ein Drittel der Männer finden es Okay, wenn sie der Frau einmal eins draufgeben. Über 40 Prozent meinen, die Frauen seien selbst schuld, wenn sie angemacht werden, wenn sie aufreizend angezogen sind. Mich wundert das nicht besonders. Die Decke der Zivilisation ist wahnsinnig dünn und muss jeden Tag neu stabilisiert werden. Unversehens sieht man sich in einer anderen Gesellschaft wieder, in der das kreative Design als ernstzunehmende Geschichte der Menschheit vermittelt wird. Da hilft kein gendern mehr. Aber ich frage mich auch: Wer sind diese 1000 Frauen und Männer? Wie kamen die zu der Umfrage?

Die dreißig Prozent werden nicht glücklich mit der ausgerutschten Hand. Die, die die Hand spüren allerdings auch nicht.

10.6.23

Wir haben einen Schattenplatz im Garten, auf dem man tagsüber lümmeln oder am Abend den Himmel violett werden sehen kann. Wenn man sich auf dem Polster nach hinten lehnt an die große starke Mauer, über die der Wein zieht, sieht man in eine Akazie, einen Hibiskus, einen Schmetterlingsstrauch und zwei Meter weiter in eine Zierkirsche und einen Ahorn. Die Blätter haben alle unterschiedliche Grünfärbungen. Die Kirsche bringt etwas Rot an den Spitzen auf, der Ahorn ist tiefgrün, während die Akazie schon allein durch die Durchlässigkeit der gefiederten Blätter helles Grün verströmt. In den Abendstunden picken die Amseln ordentlich den Rasen ab. Ein Pärchen, das im Ahorn nistet, schaut noch nach zwei Halbwüchsigen, die im Kirschlorbeer und im Bambus einen geschützten Platz suchen. Die Jungen bewegen sich noch etwas anders als die Alten, sie hüpfen hektisch und schauen, was passiert. Ihr Gefieder ist noch braungepunktet und etwas flaumig. Die Eltern sind schon mit der nächsten Generation beschäftigt, hören wir, als die Amselmutter wieder in den dichten Ahorn fliegt. Hohe Stimmen fordern Protein. Dann gibt es Streit im Baum. Ein anderer Vogel scheint sich dem Nest genähert zu haben, es wird geschimpft: „Taktak.“ Wenn die Vögel im Baum landen, raschelt es kräftig, dann ein paar Begrüßungs- oder Abwehrstimmen, dann Ruhe. Es wird dunkelblau, die Sonne kommt jetzt nur noch vom Fußweg von der Straße her in den Garten und die grünen Blätter werden schwarz. Die Mauersegler ziehen sich zurück, kein Iiiihh“ mehr. Auch die Tauben scheinen zu schlafen. Es ist jetzt ruhig, fast still in unserem Eck. Unser Nachbar hört englische Hörbücher, jemand kommt ins Haus, ein Auto, ein Flugzeug. Wir sind unsichtbar. Ruhe.

7.6.23

Ich war in „Äppelwoi unser“ und fühlte mich in die Weimarer Republik geschossen: eine Spelunke, in der ein schwuler Sänger, der im bürgerlichen Leben kleinkarierter Lehrer ist, meint singen und Trinksprüche machen zu müssen. Nicht genug damit, dass er über die Offenbacher herzieht, er benennt Geschlechtsteile grob und macht aggressive und herabsetzende Witze über Frauen und deren Geschlecht. Es ist abgeschmackt und sexistisch, diskriminierend und in billigsterweise anbiedernd an einen Schenkelklopfer Geist: bloß nicht „gendern“, bloß nicht differenziert sein, bloß nicht zu intellektuell. Mich ekelt so eine Herabsetzungskultur an. Heute jubeln und klatschen ihm nach schlechten Witzen die Bürger und Bürgerinnen noch zu. Morgen würde er schon zum Tor hinaus gejagt werden von denselben Leuten. Ich nehme es mit Humor, werde da aber sicher nie mehr hingehen.

2.6.23

Ein Abend mit einer Freundin beim Spanier hilft, die Gedanken zu sortieren: Es gibt einen deutlichen Unterschied zwischen „Selbstoptimierung“ und „Sorge für sich selbst“. Woran erkennt man das?

Die Selbstoptimierung orientiert sich an dem Bild von außen. Es entspricht den Bildern einer Gesellschaft, die sauber, erfolgreich und glatt sein möchte. Keine Zellulitis.

Die Sorge für sich selbst ist ein sicheres Gefühl für das Gute, nicht das Beste. Es gibt keinen Vergleich und keinen Komparativ. Man kann es lernen und üben, aber auch verfehlen. Mit Drill geht das nicht. Die Sorge ist leise und ohne Publikum.

Ich habe eine verschwommene Erinnerung daran, dass ich es als kleines Kind mochte, meine Schritte zu hören, wenn ich „Klack-Klack-Schuhe“ anhatte. Ich mag es noch heute. Das reichte mir, um glücklich zu sein. Ich sorge immer mal dafür, dass ich meine Schritte höre. Es hilft.

31.5.23

Ich wundere mich darüber, dass der Mai 31 Tage hat. Ein so kurzes Wort, so viele Tage. Außerdem fällt mir auch, dass im Passantetext ein Komma fehlte. Ich setze es. Mit solchen Kleinigkeiten verbringe ich meine erste Morgenstunde. Wenn ich sie küssen könnte, würde ich sie küssen, die Morgenstunde.

Am heiligen Pfingsten waren wir mit Freunden in Bonn in einer Josephine Baker Ausstellung. Das ist einmal ein Vorbild: eine kämpferische, lebensvolle und umtriebige Frau.

25.5.23

Die Rosen leuchten im Sattdunkelgrün vor der Efeuwand. Der Mai ist die Hochphase für diese zwei Wesen im Garten.

In der Schule gibt es Mädchen, die immer noch die Maske tragen. Die ganze Zeit, draußen wie drinnen. Sie wollen sich nicht zeigen oder haben notorische Angst.

22.5.23

Die Mauersegler fliegen in Scharen über mir durch die engen Hinterhöfe. Ich bewundere sie. Mehr als andere Vögel. Weil sie nicht laufen können und alles in der Luft machen.

Im Garten ist jetzt alles dunkel. Nicht so dunkel, dass ich nichts mehr sehe. Nur nicht mehr erhellt. Und es ist jetzt ganz ruhig. Keine Hummeln mehr, keine Spatzen. Alles geht schlafen.

Es gibt einen Zustand, der ist schön traurig und es gibt einen, der ist traurig traurig. Schön traurig ist es, wenn der Garten ruhig und dunkel wird. Traurig traurig ist, wenn man sprechen möchte und nicht kann, wenn man Berührung sucht und die kalte Schulter spürt, wenn man den Blick auf dem eigenen Gesicht sehnt und Fernsehen bekommt. Wenn man im eigenen Kopf bleibt und da draußen nicht das Paradies ist. Darauf bin ich nicht immer vorbereitet. Es trifft mich hart.

21.5.23

Der einzigartige Zustand, den jeder Mensch erlebt, aber nicht mehr erinnern kann, das in einem anderen Menschen Drinsein und durch diesen Menschen hindurch Erleben und zugleich selbst und getrennt sein, spielt beim Schreiben und in der Kunst keine große Rolle. Und obschon nur Frauen die Erfahrung bewusst machen, wenn sie ein Kind in ihrem Leib austragen, scheint diese besondere Erfahrung der Schwangerschaft und Geburt kein besonders gesprächstreibendes Thema zu sein. Das Blutvolumen steigt erheblich, die Herzfrequenz verändert sich, das gesamte Hormon- und Gefühlsleben kommt bleibend durcheinander. Zuneigungen und Abneigungen können sich in dem Zustand der Zweisamkeit verändern, der eigene Körper wird zu einem Fremden Gewächs, das dem Kopf beschreibt, was es erlebt. So dicht am Herzen zu sein, schlafend wie wachend muss bedrohlich wie beruhigend sein. Ein Säugling wird noch keine Wahrnehmung des Ausgeliefertseins im Mutterleib haben. Aber eine Frau hat diesen Begriff, wenn sie schwanger ist: denn sie ist auch dem Säugling ausgeliefert. Er verändert die Richtung der Empfindung, da kann sie machen, was sie will. Vielleicht spielt es doch eine Rolle. Begriffe wie „Mutter“ und „Nabelschnur“ können Bedeutungen tragen, die an diese sehr besondere Seinsweise zu Beginn eines jeden menschlichen Lebens geknüpft sind. Und wahrscheinlich ist das Patriachat kulturell gesprochen auch ein Versuch, diese sehr besondere Erfahrung, die vom Zustand des Gemeinsamen in die Freiheit führt, möglichst mundtot zu machen.

20.5.23

Musik umfließt, erfasst und wirft mich durch einen Raum, den ich vorher noch nicht kannte. Mein Liebster und ich und eine Freundin waren in einem Konzert. Die Flötenmusik in Begleitung von Cello, Geige und Flügel öffnet alle Poren, der Sturm des Schicksals weht durch meinen armseligen Körper hindurch, ich werde auf links gedreht, dann wieder in Form gezogen und sauge alle Gefühle wieder auf, die umherfliegen. Die Musik von Spark macht mich vollkommen wehrlos. Für zwei Stunden muss ich mich nicht wehren. Nichts und niemanden.

10.5.23

Ich habe mich mit dem Begriff „queer“ beschäftigt. Normalerweise reagiere ich schneckenartig, wenn jemand denglischt. Ich mag es nicht besonders, mitunter passiert es mir selbst, aber ich finde es nicht schön, nicht erstrebenswert, etwas faul und angeberisch – keine Ahnung. Ich mag es einfach nicht, wenn man bloß ein englisches Wort nimmt, wenn es so viele deutsche gibt. Es gibt ja auch Dinge, die man deutsch nicht gut sagen kann, dann muss man sich selbstverständlich behelfen. Zum Beispiel wenn man den Durst gestillt hat, wie ist man dann? Oder wenn man in einem Bienenschwarm steht, um einen herum brummt und summt es und man ist aufgeregt, aber auch ehrfürchtig vor so viel Körper: Wie ist man dann? Wie riecht frisches Gras? Man war aufgeregt und ist dann beruhigt? Man liebt jemanden so stark, dass man platzen könnte? Es gibt viele Dinge, bei denen ich wirklich überlegen muss, wie man sie ausdrückt und da kann man auch schonmal in Sprachen ausweichen, die das besser können.

Als das Wort „queer“ auftauchte, bekam ich das erstmal gar nicht mit. Aber jetzt ist es da und ich finde es eigentlich ganz gut. „Schwul“ und „lesbisch“ sind abgedroschen und werden von Menschen, die unbedacht oder unwillig oder gemein sind als Schimpfwörter benutzt. Außerdem sind letztere Begriffe sehr definitiv. Viele Menschen sind aber in ihrer sexuellen Orientierung nicht definitiv. Und wenn doch, ist es den meisten Menschen auch nicht so wichtig, definitiv zu sein, auch wenn sie es sind. Sie beharren nicht darauf, irgendwie genannt oder bezeichnet zu werden. Das vermute ich jedenfalls. Ich werde eine Umfrage machen. Mir ist es jedenfalls ziemlich wurscht, wie man zu mir sagt, ich habe nicht das Bedürfnis, mich sexuell einzuordnen. Die sexuelle Orientierung ergibt sich eher. Das ist selbstverständlich nicht meine Leistung.

Bei den Wörtern „schwul“ und „lesbisch“ ist man aber sehr eingeteilt. Bei „queer“ nicht. Dadurch ergibt sich schon etwas Neues für jemanden, der sich bezeichnen will, aber nicht so genau festlegen mag. Die Nähe zu dem deutschen „quer“ ist auch schön. Quer zu sein ist zwar unbequem, aber auch mitunter notwendig. Mit dem Begriff „queer“ kann ich mich also sehr anfreunden.

9.5.23

Der Rasen wurde gemäht. Der süße und herbe Duft zugleich liegt unter dem Ahorn. An den Ecken noch Vergißmeinicht und Männertreu und Gundermann. Ihr kommt heute Abend in den Salat.

1.5.23

Heute haben wir eine kleine Fahrradtour durch die Hinterhöfe von Frankfurts Osten gemacht: Bornheim, nördliches Fechenheim, Fechenheim Ost und West, Riederwald und Bornheim. Ja, Fechenheim ist sehr weitläufig und es gibt überall etwas zu sehen: Riesige Industrieanlagen und Kleingärtenvereine, den Main, Wiesenauen, Storche, brütende Schwäne auf riesigen gelben Eiern, Alleen und Autohöfe, auf denen Kinder spielen. Es gibt Hinterhöfe in Fechenheim, die sehen aus wie im Gallus oder in Niederrad der 80er Jahre, als es noch Kohleöfen gab. Ich hatte auch einen in Niederrad. Altes rotes Backsteingebäude, sehr schön, mit Garten, den ich nicht nutzte, niemand nutzte ihn und einer kleinen Wohnung, zwei Zimmer, mit genau einem Kohleofen. Jeden Tag musste ich Kohle aus dem Keller holen. Hat mich nicht besonders gestört. War einfach so. Meine Siamkatze mochte die Wohnung. In Fechenheim gibt es diese roten Backsteingebäude mit schmutzigen Markisen und zugestellten Hinterhöfen noch. Es muss nicht unbedingt so bleiben, es hat aber etwas von antikapitalistischer Beharrungskraft.

Es führt auch eine neue Brücke über die Eisenbahnlinie, über die wir dann fuhren und in eine Kolonie von Taubenzüchern schauen durften. Deutschlandfahne und Hühner. Zwei Mädchen spielen Ritter und laufen mit Schwertern durch die Büsche. Vielleicht gibt es doch noch Frieden in der Welt der Disparitäten?

24.4.23

Es gibt zwischen Menschen mitunter eine heimliche Formel. Nach dieser heimlichen Formel bewegen sie sich, wie ein Tanz. Von außen kaum zu verstehen. Dazwischen passt keine Wahrheit.

Wenn es draußen hell wird, dann beginnen die Fenster langsam ihren Spiegel zu verlieren. Zu Beginn meiner Aufzeichnung sehe ich das Bücherregal im Fenster, draußen nur schwarz, nicht einmal das hell erleuchtete Nachbarfenster.  Dann aber erscheint der Ahorn in groben Zügen, die Mauer, der Efeu, der Rosmarin, das Nachbarhaus schon früh. Es ist hell. Jemand hat auf dem Balkon einen lustigen rot-weiß gestreiften Vorhang gezogen, damit man auch in der gleißenden Sonne auf dem Balkon sitzen kann. Mit dem Amselgesang wird der Ahornbaum deutlicher und das Bücherregal verschwindet.

Heute bin ich sehr müde.

21.4.23

Ein vorletzter Tag im Grünen. Die Feigenbäume haben ihr grünes Kleid angezogen, der Raps blüht weiter wild. Der Sonnenstich ist passé. Am Abend ist etwas kühl, wir haben das eine oder andere Holz verfeuert, nicht zuviel. In Ligurien ist die Abfallentsorgung streng geregelt, ebenso das Heizen. Bestimmte Abfallsorten muss man an bestimmten Tagen fortbringen, sonst öffnet sich die Tonne nicht. Bis zu diesem Tag muss der Abfall im Haus bewahrt werden. Heute können wir Plastik und Aluminium entsorgen. Mit einer Gas- und Ölheizung darf man nur von November bis Ende März heizen und dann auch nur stundenweise. Es sind schon so viele Stunden, dass es ausreicht, die Wohnung oder das Haus zu wärmen. Ich habe nicht herausfinden können, ob das Gebot zu den Heizzeiten auch für einen Holzofen gilt. Solche Reglementierungen begrenzen die individuelle Freiheit und schaffen Verbindlichkeiten für Ziele, die man nur kollektiv und gesellschaftlich erreicht. Die Freiheit ist dadurch nicht abgeschafft und vielleicht hilft es, weniger Ressourcen unwiederbringlich zu verbrauchen. Ich frage mich nur, wie man es schafft, solche Regelungen gesellschaftlich umzusetzen, ohne immer gleich eine riesige Gegenwehr auf die Straße zu bringen. Nur das gute Essen und die schöne Musik kann es nicht sein. Ich würde gerne diese drei Dinge von Italien lernen.

20.4.23

Die Möglichkeiten des Missverstehens sind groß. Meine Schwester und ich zum Beispiel verstehen uns immer anders als die andere meint. Da wir nicht dazu kommen, uns auszusprechen, haben wir vermutlich vollkommen verzerrte Vorstellungen voneinander.

Der Nominalkern des letzten Satzes ist großartig, zusammengenommen mit dem Prädikat ergibt sich ein erstklassiger Stabreim: „vermutlich vollkommen verzerrte Vorstellungen voneinander“.

Ich habe trotzdem und vielleicht auch gerade wegen des gelungenen Stabreims nie bereut, eine Schwester zu haben. Ich mag sie, obwohl ich sie eigentlich nicht kenne. Ich kenne nur ihr Zerrbild und sie kennt mich vermutlich auch nicht und auch nur das Zerrbild einer großen Schwester. Vielleicht gibt es ein paar Kindheitserinnerungen, die meine Liebe immer noch nähren und ich behalte sie in meinem Herzen, obschon wir heute kaum Kontakt haben. Etwas miteinander verhandeln geht sowieso nicht, weil wir immer von anderen Prämissen ausgehen. Also sehen wir uns einfach nicht, wissen, dass wir Schwestern sind, und ich freue mich, dass ich eine habe. Ich werde manchmal gefragt, warum ich nicht mehr mit ihr zu tun habe: Wir verstehen uns einfach nicht. Der Liebe tut das keinen Abbruch. Weit komplizierter als beim Schopf Träubel.

19.4.23

Der unbekannte Schopf Träubel ist einfach eine Art Traubenhyazinthe, wie ich nachgelesen habe.

Es ist eine seltsame Einrichtung in der Natur: soweit ich verstanden habe, sind die blauen Blüten am Schopf nur Scheinblüten und die eigentlichen Blüten, die zur Bestäubung dienen und wahrscheinlich auch von Insekten angeflogen werden, sind braun und hässlich unter dem bläulichen Schopf. Wozu diese Verkleidung? Wozu diese Umständlichkeit? Tatsächlich werden die Hummeln und Bienen von dem blau-violetten Schopf angelockt, um dann für die darunter liegenden Blüten die Bestäubung zu erfüllen. Allerdings scheint es auch zu Selbstbestäubungen zu kommen. Wunderliche Natur. Die Lehre ist wohl klar.

18.4.23

Ich habe mir einen leichten Sonnenstich zugezogen. Eine lange Wanderung über den Bergkamm und die außerordentliche Freude über die Höhe, den Blick und die vielen blühenden Kräuter, die ich mit Hilfe einer App bestimmte: Ackergladiolen, ein mir unbekannter Schopf Träubel, Lederblümchen haben mich nachlässig gemacht und am Abend hatte ich Kopfweh und Schnupfen.

Jetzt sitze ich im Schatten und lausche der Palme, die bei aufkommendem Wind heftig wedelt und raschelt, so als würde jemand mit einem Hochzeitkleid um die Ecke kommen. Es kommt aber niemand. Der Wind ebbt wieder ab und die Olivenbäume und die Palme bleiben still bis zur nächsten langsam aufkommenden Böhe. Ich sehe auf den Bergkamm, den wir bewandert sind und verfolge die Schatten der Wolken, die heute über die niedrigen Bäume getrieben werden. Mein Liebster meckerte heute Morgen, auf der anderen Seite des Flusses, an dem Hügel gegenüber gäbe es weniger Schatten. Aber das stimmt nicht. Die Schatten der Wolken sind heute gleichverteilt und rasen über die zerknitterte Landschaft Liguriens wie die Möwen, die sich manchmal in das Landesinnere verirren. Mit jedem Tag werden das frische Eichenlaub kräftiger und auch von Ferne grüner und die Weinrebe am Haus dichter. Die Sonne ist also im Frühjahr nicht zu unterschätzen. Ich trolle mich brav in den Schatten.

17.4.23

Ich habe mich eine Woche lange noch einmal mit Dada auseinandergesetzt. Ich las eine schlecht geschriebene, aber materialinteressante Dada-Abhandlung. Meine letzte Beschäftigung damit war ein Salon, den mein Liebster und ich zum Thema „Dada“ machten. Das ist sehr lange her, aber spaßig war es allemal und nicht oberflächlich. Nun habe ich noch einmal nachgelesen und doch Neues erfahren. Besonders schön ist die Stelle, an der berichtet wird, dass Hugo Ball und Emmy Hennings sich über Grazie und Zärtlichkeit in der Kunst und der Liebe unterhalten und einig sind. Das Wort „bosseln“ kommt vor und ich freute mich, dass man es vor 100 Jahren schon kannte, das vor sich hin Schreiben und Basteln, Bauen und Erfinden, bis einem etwas glückt und ein anderer froh damit ist.

13.4.23

Wenn ich in meiner Regenwaldwelt abtausche, habe ich keine Zeit, mich in Frankfurt umzusehen. Jetzt stelle ich fest: Zwischen Regen und Sonnenschein sind alle Coronaregelungen offiziell und verbreitet ausgesetzt. Man darf die Maske tragen, muss aber nicht. Und ganz anders als vor drei Jahren, als ich mich sträubte und widersetzte, kann ich jetzt kaum ohne Maske in eine U-Bahn steigen. Beides mag wohl Energien freisetzen. Ich stelle auch immer wieder erstaunt fest, dass ich meine Meinung ändere. Ob die Risse zwischen Coronaleugnern und Impfanhängern jemals heilen werden? Das, was ich hörte und sah, gefiel mir nicht und kann ich kaum vergessen. Dieser Hass, diese Dumpfheiten, diese Feindlichkeiten. Der Undifferenziertheit ist kaum beizukommen. Da hilft nur eines: weiter denken und abwägen.

4.4.23

Weilburg ist ein bezauberndes Städtchen an der Lahn. Es hat mehrere schöne und ruhige Plätze und rundherum eine erholsame Natur. Außerdem gibt es das Schloss und auf der einen Seite zur Lahn hin einen Park, von dem man aus über das jetzt gerade stürmische Wasser blicken kann. An einem Tag im April wirkt es trotzdem wie ein Geisterdorf an der Abbruchkante. Leerstehende Häuser, kein Mensch auf der Straße. Der Himmel ist tiefblau und die Sonne scheint bis zum allerletzten Minütchen. Es ist kalt. Trotzdem: der Ort ruft: Die Abwesenheit von Glück…

31.3.23

Langsam gewöhnen sich die Vögel an die Zeitumstellung und begleiten meine morgendliche literarische Stunde. Sechs Uhr zwei und schon mindestens zwei, nein drei Amseln.

Ich kämpfe seit Wochen um das Überlegen der Physalis. Auch meine Süßkartoffel haben die Spinnmilben aufgefressen. Ich bekämpfe sie mit Spüli und Gift. Das wirkt. Ich habe einen langen Artikel über Erinnerungen gelesen und wie sie funktionieren. Die Erklärungen von Loftus sind mir plausibler als die von Freud. Erinnerungen und geschaffene Erinnerungen sind im Erleben dasselbe, würde ich sagen. Im Erleben gibt es da keinen Unterschied. Das merkt man ja selbst an intensiven Träumen, die am Morgen so wirklich sind, das man eine Zeit braucht, um sich davon zu befreien, wenn man das möchte. Aber rechtlich macht es selbstverständlich einen großen Unterschied, ob ein Unrecht geschehen ist oder nicht. Ich würde trotzdem die Erinnerung eines Menschen erstmal nicht in Frage stellen. Aber Gerichte müssen das wohl machen. Ganz schwierige Debatte. Ich bilde mir ein, dass ich unterscheiden kann zwischen meinen Erinnerungen und Erinnerungen, deren Herkunft ich nicht so sicher bin. Davon gibt es auch einige.

29.3.23

Nach der Zeitumstellung höre zunächst ich keinen Ton draußen, wenn ich auf dem weißen Sofa sitze. Auch das Licht oben rechts im Fensterausschnitt ist nicht an. Es ist einfach zu früh. Gestern begannen die Vögel pünktlich, kurz bevor ich mich mit dem Fahrrad auf den Weg machte.

Nur den Kaffee, den gibt es auch zur Sommerzeit.

Heute scheinen zumindest die Amseln begriffen zu haben, dass die Menschen, die Zeit umgestellt haben. Sie trällern ab 5:48 Uhr.

Nochmal einen Schluck Kaffee. Eines der Wörter, die ich immer wieder gerne schreibe, weil es sich so ungewöhnlich schreibt.

28.3.23

Nichts denken ist ein Privileg. Den Kopf leer kriegen, einfach hören, Kaffee trinken. Ich wollte, mir würde das besser gelingen. Immer sind Worte da, die sich im Sprach- und Sprechzentrum tummeln und in eine Reihe bringen. Ungeordnet oder geordnet, das ist ihnen egal. Sie hängen sich aneinander und werden zu Sätzen, die mich über den Tag begleiten. Wenn es doch wohlwollende und nette Worte wären. Aber nein, es peitscht, drängelt, schiebt, drückt und schlägt auf mich ein, wie auf einen toten Hund, der bereits überfahren und erschlagen wurde. Er scheint nichts mehr zu spüren. Ich preise den Reichtum der Sprache und verfluche die kaskadenförmige Pracht der Worte. Vielleicht ist es auch ganz einfach: Mein Geist ist unruhig.

20.3.23

Vorgestern an einem Sonntagabend konnte ich schlecht einschlafen. Ich wälzte mich umher und keine Position brachte die notwendige Entspannung. Normalerweise schlafe ich sofort ein, wenn ich meinen Kopf auf ein weiches Kissen gebettet habe und genieße das Zwischenstadium zwischen Wachen und Schlafen. Sonntagabend war es anders. Ich hatte den Kopf voll, das Herz war schwer, ich konnte erst nach längerer Zeit im Dunkeln mit Hilfe therapeutischer Worte, die mich auf den Atem hören ließen, einschlafen. Dann ging es aber erst so richtig los: Ich träumte, ich könne nicht einschlafen. Ich wälzte mich also wieder hin und her. Irgendwann war wachte ich erleichtert auf, schlief wieder ein und träumte wieder, ich könne nicht einschlafen. Als der Wecker klingelte, war ich gerädert. Ich konnte mich gestern nur schwer auf irgendetwas konzentrieren und ging um 21 Uhr ins Bett. Diese Nacht war gnädiger. Ich schlief und träumte von Engeln und Meeren.

Wer sagt, dass die Realität wirklicher ist als die Wirklichkeit?

19.3.23

Seit Tagen schreibe ich abwechselnd an einem offenen Brief an die Kandidaten der Oberbürgermeisterwahl und die Landespolitiker, weil ich so eine Wut habe darüber, wie unser Bildungssystem angefangen bei der Krippe bis zur Universität an die Wand gefahren wird. Und jedes Mal, wenn ich eine Seite geschrieben habe, geht es mir viel schlechter als vorher und ich frage mich, ob ich das nicht lieber ganz sein lassen und mich schönen Dingen zuwenden sollte. Das ist ein Konflikt. Aber die Wut ist dann immer noch da.

Wir haben in Frankfurt die Wahl zwischen einem Oberbürgermeister, der die freie Schulwahl zum Gymnasium möchte und einem anderen, der die freie Schulwahl zum Gymnasium möchte. An die Gymnasien wollen alle. An die Förderschulen will niemand. Die dazwischen je nachdem. Wir an unserer Schule erhalten jeden Tag Anrufe und Mails von Familien, deren Kinder vom Gymnasium abgeschult werden. Kurz vor den Sommerferien erhalten wir Listen mit Namen, die nicht weiter aufs Gymnasium gehen können. Wie viele Kinder und Jugendliche im Jahr abgeschult werden, das bedeutet, das Gymnasium wegen mangelnder Leistung verlassen müssen, wird nicht statistisch erhoben. Es sind sehr viele. Beide Kandidaten kennen die UN-Behindertenrechtskonvention anscheinend nicht, die Deutschland unterzeichnet hat und die uns verpflichtet, ein sozial gerechtes Bildungssystem zu schaffen, durch das die politische, soziale, kulturelle und wirtschaftliche Teilhabe aller Menschen ermöglicht wird. Sie beziehen sich jedenfalls nicht darauf.

Beide Kandidaten wissen wahrscheinlich nicht, wie schwer es ist für eine Schule, eine Homepage oder Kaffee und Gebäck zu bezahlen für Besuch. Mein Mann zahlt seit sechs Jahren unsere schulische Homepage. Der Hausverwalter darf keine schweren Kisten tragen, die Sekretärinnen dürfen keine Landesmittel verwalten, die Kinder und Jugendlichen dürfen am Nachmittag nicht auf den Hof. Tablets zu kaufen, gleicht einem kafkaesken Tanz vor dem Schloss. Warum muss ein Tablet mindestens 410 Euro kosten, damit wir es anschaffen dürfen? Ich soll begründen, warum es hilfreich wäre, wenn Schüler Tablets nutzen können. Andererseits: wir kriegen jetzt Luftreiniger, die sind kühlschrankgroß, helfen besonders in geschlossenen Räumen und kosten die Stadt Millionen. Unsere Räume sind nie geschlossen und wo sollen wir die hinstellen? In den Keller.

Ich fange schon wieder an.

14.3.23

Die Nerven müssen massiert werden. Sie sind angespannt. So angespannt, dass sie an mir rütteln und eine Aktivität verlangen, die etwas lösen soll, aber nichts löst, sondern noch mehr Kladderatsch produziert. Offenbar sind die meisten Dinge nicht mehr dazu angetan, gelöst zu werden. Nichts tun ist manchmal auch die Lösung. Einfach dasitzen und hören. Genau dasselbe Lied wie gestern und die gleiche Pause. Wundervoll.

13.3.23

Ich brauchte eine Pause vom Alltäglichen. Ich schrieb an meinem Roman. Verdaue noch eine Pfeffersprayattacke am hellichten Tag in der Schule, eine SPD, die mehr Gymnasien fordert und offenbar keinen Sinn mehr für eine soziale gerechte Gesellschaft hat, drei Filme, die mich beeindruckten und genieße jetzt in diesem Moment den Gesang des Amselmännchens, das in unserem Garten so wundervoll trällert. Ich mache den Punkt und es macht eine Pause.

Mich beeindruckten folgende Filme in den letzten Wochen: „Close“, „Tar“ und „Sonne und Beton“. Ich mag das Kino: An der Kinokasse gibt es diese wunderbar ungesunden Dinge in kleiner Portion zu kaufen, im Kino hat man in der Regel seine Ruhe und mit Spannung erwarte ich das, was sich ein anderer für die Leinwand ausgedacht hat. Den gleichen Moment empfinde ich als magisch, wenn ich ein neues Buch beginne. Im Kino gibt es keine Störungen. Es ist dunkel und der Kopf ist frei für eine ausgedachte Welt. Leider ist es oft die Welt, die man kennt.

Jetzt singt es wieder. Na also.

6.3.23

Andere Daten des Monats sind auch sehr melodisch: Sechs Drei Zwo Drei. Jetzt ist die Zeit der Amseln gekommen. Sie singen und kämpfen und wahrscheinlich geht auch das eine oder andere Mal die Sache schlimm aus für einen der Amselmännchen. Ich habe den portugiesischen Sommer nicht über den Winter retten können. An Spinnmilben und Kälte verreckt. Die traurigen Überreste meiner Pflanzen stehen mahnend in der Ecke. Aber wen und was mahnen sie (an)? Ich habe mein Bestes gegeben und es war nicht Überleben genug.

23.2.23

Ein kleiner Rundgang durch den Garten: Er beginnt bei den Osterglocken. Die trauen sich was, sind schon ganz da: eher Narzissen als Ostern. Nah dran die Veilchen, deren Tieflila ich bewundere. Jetzt muss ich zwei Schritte um den Steinhaufen gehen. Die Hyazinthe, die den jungen schönen Mann ehrt, der durch die Götter gestorben ist und sein Blut verschenkte. Sie steckt noch etwas fest, aber man sieht schon das kräftige Rosa leuchten. Zwei Füße weiter die bescheidenen Traubenhyazinthen in einem kleinen Wuschel-Busch. Ein Büschchen, aber farbenstark und da. Die Schlüsselblumen-Damen lassen noch auf sich warten. Ehre, wem Ehre gebührt.

1.3.23

Ein wunderschönes Datum. Ein wunderschönstes Datum. Man muss es so sagen: Eins Drei Zwei Drei. Erster Dritter Dreiundzwanzig wirkt auch, aber nicht so schön. Eins Drei Dreiundzwanzig geht auch. Der Klang der Worte berauscht. Mich.

Ich habe noch eine Maske am Arm. Sie wird durch Frankfurt getragen. Da hängt sie nun.

22.2.23

Ein weiteres Beschäftigungsverbot bei einer schwangeren Kollegin, mit der ich vor zwei Wochen den Einsatz geplant habe. Eltern, die enttäuscht sein werden, Kollegen, die jetzt wieder keine Mitstreiterin haben, Unterricht, der jetzt wieder ausfällt, ein Amt, das für jede Kleinigkeit einen Beleg, eine Dokumentation, eine Begründung haben mag, Dezernenten, die behaupten, wir hätten WLAN (haben wir nicht). Ich habe keine Lust mehr.

Früh ins Bett gehen hilft, aber am Morgen sind die Sorgen noch da. Die Amsel singt. Ich fokussiere mich auf den Gesang. Das hilft auch: Tirilie Tirilä Dideliedä Tirili. Es ist ein kleines Gespräch mit der Hoffnung.

21.2.23

Ich werde heute als Schlafmütze gehen. Was soll ich so früh sonst tun? Und ein schönes Wort ist es allemal: Schlaf Mütze.

20.2.23

Fasenacht, Fasching ist wieder da – Hellau. Ein strahlendes Prinzenpaar, dass die Vielfalt lobt und ein einigermaßen freundliches, wenn auch nicht schönes Wetter. Ich kann dem Verkleiden durchaus etwas abgewinnen. Werde heute noch auf Kostümsuche gehen. Es gibt ein Foto von mir und Feldmann, ich im roten Bademantel und ein Handtuch um den Kopf, er mit der Narrenkappe und der Kette. Wir beiden trafen uns auf dem Faschingsumzug in Heddernheim. Da war er noch unbescholten.

Ich bin es noch. Ich habe selten Gelegenheit, jemandem einen wirtschaftlich vorteilhaften Gefallen zu tun. Auch ich mache Dinge, die mich nachher ärgern oder die ich bereue. Auch ich kenne Verfehlungen. Aber ich versuche im Rahmen des Rechts zu agieren und so zu handeln, dass ich mich am Ende meines Lebens nicht schämen muss. Aber wahrscheinlich wird das Feldmann auch für sich beanspruchen. Es ist eine gewaltige Aufgabe, den narzisstischen Strömungen zu widerstehen. Man muss sich immer wieder fragen, was ist es wirklich wert? Welchen Beitrag zum Weltgeschehen möchte ich wirklich leisten. Sich wirklich und ernsthaft ehrlich anzusehen, kann einem Angst und Schrecken einjagen. Aber danach wird es besser.

Sich zu verkleiden oder mit Worten zu fliegen und jedes Wort langsam fallen zu lassen, ist es erträglich. Mitunter wohltuend.

13.2.23

In dem Fahrradladen, in dem mein Fahrrad jährlich inspiziert wird, arbeiten Menschen, die nett und fachkundig sind. Ich war wegen eines kleinen Unfalls dort, den ich letzte Woche an einem frühen Morgen hatte. Mir war ein anderer Fahrradfahrer in die Seite gefahren, als ich vom Alleenring rechts abbiegen wollte. Er kam nicht von rechts, um mich zu überholen, wie man erwarten würde in dieser Situation, sondern von geradeaus, fuhr auf der falschen Seite, und fuhr mir in das Hinterrad. Ich träumte gerade, achtete nicht auf das, was von vorne kam, weil ich ja rechts ab wollte. Er offenbar auch, anders als ich gab er es aber nicht zu. Ich fiel um, mein Rad auch. Er gerechterweise auch. Ich jammerte, aber außer einer kleinen Schramme am Knie und einem Achter im Vorderrad war nichts und so fuhren wir wieder unserer Wege. Der Achter im Vorderrad fuhr aber schlecht. Die Handbremse schien angezogen, den Berg hinauf ist das unpraktisch, also brachte ich das gute Rad am Samstag zum Fahrradladen in der Erwartung, man müsste das Vorderrad austauschen. Der nette Fahrradmechaniker wuchtete das Rad kurzerhand aus und jetzt dreht es sich wieder wie ein lustiges Mühlrad im Frühlingsbach. Das macht mir sehr gute Laune. Ich bedankte mich freundlich und werde die nächste Inspektion nicht so lange warten lassen, damit die Fahrradspezialisten etwas zu tun haben.

8.2.23

Gedanken und Gefühle sind starke Treiber. Sie beflügeln oder lähmen, beschwingen oder lassen verstummen. Enttäuschungen sind lähmend. Nicht gefragt, nicht informiert, nicht bedacht zu werden enttäuscht. Enttäuschung ist ein langsames Gefühl, das sich im Körper ausbreitet, in jede Zehe zieht. Es macht mich schwerer. Die Waage zeigt es. Jeder sieht es mir an. Ich verstehe nicht, wo genau die Enttäuschung im Gesicht sitzt, aber sie hat sich auf das Gesicht gelegt. Wut dagegen ist ein schnelles Gefühl und sitzt nur auf dem Kopf. Schnell ist sie weg. Freude ist langlebiger. Sie wohnt im Brustraum und macht ihn weit. Ich werde größer und wieder leichter. Sie hüpft wie ein Ball oder deckt wie eine Decke, wärmt und kühlt zugleich und ist nicht so flüchtig wie Wut. Es gibt Gefühle, die mag ich lieber als andere.

6.2.23

Nach einem arbeitsreichen Wochenende, wie dieses, sitze ich im Bademantel im Lichtkokon des anbrechenden Tages und denke. Mein Kopf hat nicht abgeschaltet. Der Schlaf schafft, was ich tags nicht schaffe: meine Gedanken abzuschalten oder in eine andere Richtung zu lenken. Auf meinem Schreibtisch liegt ein Buch über den Regenwald, weil ich einen Text über einen Mann schreibe, der den Wald beforscht. Den Regenwald. Es ist eine Erinnerung an die Figuren, die meinen Kopf bevölkern, wenn ich nicht zielgerichtet denken muss. So viele Millionen Köpfe und alle denken etwas anderes. Eigentlich eine sehr beruhigende Vorstellung. Ich habe es ja schon einmal gesagt: Wer träumt oder sich was ausdenkt, kämpft nicht. Eigentlich?

2.2.23

Die Schönheit der Dinge ist unübersehbar und bleibt dennoch oft unentdeckt: das heutige Datum ist wunderschön. Ich mag Zahlenfolgen. Oft erzählen sie etwas. Auch der 31.1.23 ist sprechend: die zwei ungeraden Freunde zu Beginn, erst die magische Drei, dann die starke, einsame Eins. Nochmal. Jetzt mischt sich ein Friedensstifter und ein kecker Beobachter ein: die Zwei. Aber den Abschluss macht die magische Drei. Basta. Heute dagegen die ordentliche Portion Nougatcreme aus Zwei mit einer Prise Magie: die Drei. Spricht sich auch schön: Zwei Zwei Zwei Drei. In der Luftfahrersprache: Zwo Zwo Zwo Drei. Über den Wolken, muss die Freiheit wohl grenzenlos zwein.

31.1.23

Ich wohne zwischen Texten, zwischen sehr kurzen und langen. Die langen quälen mich mitunter, weil ich nicht weiß, in welche Richtung es geht. Die kurzen kommen und gehen und bewegen sich in mir herum, um dann wieder zu verschwinden.

Ich wünschte, ich wäre eine Physalis und jemand würde nach meinen weißen Punkten sehen und mich abtupfen und gießen, nicht zuviel und nicht zu wenig. Es gibt einen Wunsch und die unleugbar entgegengesetzte Realität, dass die Physalis den Gegebenheiten einigermaßen hilflos ausgesetzt ist. Dieser Wunsch ist nur als Text schön ist.

27.1.23

Kleine Spinnmilben haben die Physalis ergriffen. Sie setzen sich an die Spitze der einzelnen Streben und weben die Knospen ein. Die Blätter werden papyren und hell. Kleine weiße Punkte lassen erkennen, dass hier Saft fehlt. Heute habe ich gespritzt. Die Pflanze muss in den Schatten gestellt werden  und braucht Luftfeuchtigkeit. Das ist nicht ganz einfach in unserer Wohnung. Am besten das Schlingelwesen kommt in die Küche.

21.1.23

Ich habe die langgewachsene Pflanze im Arbeitszimmer gekürzt. Die dürren Stängel und vertrockneten Blätter schrien nach Schnitt. Von unten kommt Neues hoch. Es wachsen neue herzförmige Blätter. Eine Frucht trug sie. Aber groß und gelb wurde sie nicht, die Frucht. Meine Passionssetzlinge waren nicht zu retten.

Ich muss bei nächster Gelegenheit aus Portugal welche importieren. Das Maskengebot in öffentlichen Verkehrsmitteln fällt am 2.2.23. Wann hat es begonnen? Ich kann es bei mir selbst nachlesen. Am 16.3.2020 habe ich den Frühling beschrieben. Nach vier Impfungen und zweimal Corona ist eine pandemische Normalität in meinem Leben eingekehrt. Immernoch sterben Menschen daran. Einige Kinder tragen noch Maske. Sie legen sie gar nicht mehr ab. Mein Geist ist unruhig. Auf der Autobahn der Gedanken rast er hin und her. Ich weiß noch nicht, was ich mit folgender Erkenntnis tun soll:

Wahrscheinlich bin ich auch radikale Universalistin. Vielleicht auch das Gegenteil? Vielleicht auch einfach Schreiberin.

20.1.23

Die Physalis sieht nicht mehr prachtvoll aus: die sommerliche Pracht ist dahin. Sie hat alle Blätter abgeworfen, nur noch wenige trägt sie noch. Ein paar junge Triebe sind gekommen. Immerhin. Meine Passionsfrüchte haben den Kälte-Wärmeschock nicht überlebt. Ich bin immer noch traurig.

19.1.23

Gewaltpotenzial. Ich hänge an dem Gedanken. Wir Menschen sind voller Mitgefühl und voller Gewalt. In jeder Mikroszene spielt sich ab, wie sehr wir das sind: Mitgefühl und Gewalt.

18.1.23

Eine Kuh zu schlachten, kann ich mir nicht vorstellen. Ein Schwein auch nicht. Das Schwein eher als die Kuh, aber nur, weil es kleiner ist als ich. Ich dürfte ihm nur nicht in die Augen sehen. Schweine träumen. Das hat die Wissenschaft herausgefunden. Jeder, der vom Land kommt oder Tiere hat, weiß das längst, weil auch Hunde träumen und Katzen sowieso. Warum eigentlich nicht Schweine.

Einen Fisch zu schlachten macht mir dagegen nicht soviel. Ich habe noch nie eine Kuh und ein Schwein geschlachtet und ich möchte es auch nicht tun. Deshalb habe ich entschieden, ich esse kein Schwein und keine Kuh mehr. Was ich nicht selbst schlachten kann, kann ich nicht mehr essen. Ich mache eine Ausnahme, wenn ich krank bin. So krank, dass ich selbst eine Kuh schlachten könnte. Der Weltwirtschaft wird meine Entscheidung nicht weh tun, aber das spielt auch keine Rolle.

Eine Rolle spielt, wie die Kreatur leben soll in Zukunft. Da wird man wohl von zwei Seiten ran müssen: politisch und privat. Welches Gewaltpotenzial man in sich trägt, muss jeder selbst aufklären.

17.1.23

Die Luft ist die richtige zum Fahrradfahren.

Es ist kalt, aber nicht zu kalt. Es ist feucht, so dass die Lunge gut arbeiten kann. Der Unterschied zwischen draußen und drinnen muss spürbar sein. Dann ist es richtig gut. Wenn es draußen annähernd Körpertemperatur hat, macht das Fahrradfahren keine Freude. Aber heller könnte es sein. Heute leuchtet kein Fenster.

16.1.23

Ein fulminantes Stück: Lärm. Blindes Sehen. Blinde sehen! In einem zunächst klaustrophobischen Ring müssen Schweine einen schnellen und assoziativen Text aufsagen, der einem um die Ohren haut bis es schön ist. Die Kraft der einzelnen Worte hob mich aus dem Sitz und passte mich neu ein. Für was hat man im Deutschen das Wort „Worte“, wenn man es so selten wörtlich nimmt und Worte spricht, die schwer und schön sind?

Ich freue mich heute auf die kalte Luft, die mir um die Nase weht, wenn ich auf das Fahrrad steige.

10.1.23

Rechts oben im Fensterausschnitt sehe ich Licht im tiefschwarzen Ausschnitt. Das Schwarz glänzt. Deshalb ziehe ich, wenn ich morgens meinen Platz auf dem weißen Sofa einnehme, sofort den Rollladen hoch. Ich möchte diese glänzende tiefschwarze Fläche sehen, bevor ich auf meine Texte blicke. Alles ist noch da, verborgen zwar, aber da.

Das Licht eines anderen Fensters, das in dem großen portugiesischen Gebäude auf der anderen Seite des Gartens in den Hof fällt. Wir nennen das Gebäude, das unser Haus weiträumig umarmt, portugiesisch, weil es aussieht wie ein Wohnblock oder Ferienwohnungsblock aus den siebziger oder achtziger Jahren an der Algarve. Nicht nur hässlich, groß und schwer, auch sehr lang, einigermaßen hoch, aber nicht zu hoch, mit sehr großen Balkonen und blauen Markisen, die im Sommer oft ausgezogen sind. Ein Betonriegel, der zweimal um die Ecke geht, an drei Straßen entlang und einen großen Hof umschließt, den wir von uns aus nicht einsehen können, weil noch ein Grundstück dazwischen liegt, aber hören können wir das meiste, wenn es nicht geflüstert wird. Sicher wird meistens geflüstert, denn wir hören nicht sehr viel außer den rothaarigen Kindern, die dort Fußball spielen. Man hört die Leute aber auf den ausladenden Balkonen grillen und trinken, quatschen und albern. Oft auch streiten. Ich mag es nicht, wenn sie sich streiten. In den 18 Jahren, in denen wir hier wohnen, ist immer wieder ein Kind darunter gewesen, es müssen verschiedene Kinder gewesen sein. Ich mag nicht, wenn sie so gemein zu ihren Eltern sind und ich mag nicht, wenn die Eltern gemein zu diesem immer anderen Kind sind. Wahrscheinlich immer andere Eltern.

Ich mag aber das portugiesische Gebäude. Es erinnert mich an das Meer. Ich stelle mir tagsüber oft vor, dass dahinter der Atlantik liegt. Es rauscht zu mir herüber und ich rieche das Salz. Wenn dann die Mauersegler fliegen, ist die Unendlichkeit für einen sehr kurzen Moment im Garten. Dann gibt es kein Hier und Dort, kein Jetzt und Gleich. Nur ein So.

Das Licht ist jetzt ausgeknipst. Die Fläche ist wieder glatt schwarzglänzend. Ich erschrecke.

8.1.23

Was macht die Stille aus?

Der Moment, in dem der Zeiger kurz verstummt.

Der Moment, der gleich beginnt und den man noch nicht kennt.

7.1.23

„Das stört mein ästhetisches Empfinden!“, sagt mein Liebster und bezeichnet damit dem Umstand, dass in der Küche eine Alditasche liegt, die einem Freund unseres Sohnes gehört. Ein Streitgespräch schließt an.

„Die steht schon fünf Tage hier!“

„Dann kann sie doch auch noch fünf Tage hier stehen.“

„Lass sie doch in deinem Zimmer fünf Tage stehen.“

Der Fußball wird durch die Küche gekickt.

„Das stört mein (besonders betont) ästhetisches Empfinden, wenn sie in meinem Zimmer steht.“

„Außerdem stellen die klimaneutralen Aufstriche im Kühlschrank, die wahrscheinlich auch von deinen Freunden sind, den Kühlschrank voll.“

Kurz wird der Lederfußball im Wohnzimmer herumgekickt.

„Das ist doch dein Metier, klimaneutrale Ernährung!“

Lachen aus einem anderen Eck der Wohnung: „Metier, schönes Wort.“

Lachen noch an anderer Stelle.

„Ja, ich bin der einzige, der sich hier um Klimaneutralität sorgt.“

„Du kaufst doch immer diese Sachen, die dann niemand isst.“

Abgang des Sohnes durch den Flur kickenderweise.

„Naja, es muss schon weh tun, damit sich etwas ändert.“

Alle gehen wieder ihrer Beschäftigung nach: Spülmaschine ausräumen, im Zimmer etwas tun (leider nicht beobachtbar), Tippen auf dem Wohnzimmersofa.

Samstagmittag.

1.1.23

Ein neues Jahr. Über mir fliegen die Papageien. Hier unten ist der Park, in dem wir vor ein paar Tagen eine Olympiade veranstalteten. Mein Liebster, mein Sohn und ich mussten durch verschiedene Disziplinen. Ich lag bei den meisten Herausforderungen hinten. Zwischendurch verlor ich die Lust. Ich verliere nicht gerne ununterbrochen. Nachdem ich ein paar Mal geflucht hatte, kriegte ich mich wieder ein. Also verlor ich halt wieder im Passspiel gegen die beiden. Beim Wasserflasche-abwerfen war ich die Beste. Auch beim Minigolf mit Fußball hatte ich eine reale Chance. Beim Hammerwerfen mit dem Ballsack errang ich einen Achtungserfolg. Zwischendurch kam ein junger, kräftiger Mann auf uns zu. Er führte ein Kind an der Hand. Ich dachte, wir werden jetzt von der Wiese unter den Kiefern und Pinien verjagt. Ein italienischer Parkwächter, der auf die Ordnung achtet. Die Italiener können sehr streng sein. Immerhin warfen wir Säcke durch die Luft. Aber er lächelte freundlich und sprach uns auf Deutsch an. Er käme aus Schwaben, er habe unsere Zählweise identifiziert. Keine Zurechtweisung, nur Interesse. Heute ist der Schwabe nicht im Park. Der Ort ist noch ganz aufgeladen von unserem sportlichen Beisammensein. Es hängt noch in der Luft. Hier haben wir den Sack geworfen, hier bin ich beim Trippeln ausgerutscht, hier saß Tom auf der Holzabsperrung, hier gewann Mathias beim Minigolf. Ich stehe in dem Park und bin von Stimmen und vom Lachen vom Beisammensein erfüllt. Über mir schreien die Papageien. Es war im letzten Jahr, noch keine drei Tage her. In einem Film, den ich gestern gesehen habe, geht es auch um die Frage, wie Vater und Sohn zusammenkommen, wie man findet, wenn man nicht weiß, was man sucht, wie das Zusammensein zu einem gemeinsamen wird und nicht einfach etwas bleibt, das sich nur ergibt. In dem Film trennt sich der Sohn vom Vater und begibt sich erst nach dessen Tod wieder auf die Spuren seines Vaters und dessen Liebe zu den Bergen. Dabei findet er die Liebe zu seinem Vater wieder. Er findet sie auf den Pfaden, die die beiden gegangen sind, in den Notizen der Wanderbücher, die an Bergspitzen unter Steinen vergraben sind und in die man sich nach Besteigen des Berges eintragen kann. Das hat der Vater getan und der Sohn kann nachlesen, wie sein Vater das Wandern über die Berge empfunden hat. Der Sohn wandert dann auch die Touren nach, die sein Vater allein und mit einem Freund des Sohnes gemacht hat. Er gesellt sich quasi nach dem Tod des Vaters mit zu den beiden, die er über zehn Jahre nicht gesehen und gesprochen hat.

In diesem Park in Rom sind drei Menschen beisammen gewesen, die etwas an diesem Ort lassen werden. Ihre Liebe, ihre Freude an dem Ort und aneinander, die Sonne und die Lust, etwas miteinander zu teilen. Wenn man will, kann jeder von uns dreien diesen Ort und auch dieses Beisammensein wieder finden. Es ist im Park in mir. Das ist es, was bleibt, selbst wenn einer geht.

28.12.22

Tagsüber waren wir zu dritt auf Caravaggio-Suche: in den drei Kirchen, die erst um 16 Uhr öffneten. Sicher hatten sie auch am Morgen schon auf, aber vor 12 Uhr sind wir eigentlich nie irgendwo, wenn wir nicht müssen. Also vertrieben wir uns die Zeit mit einem Kaffee dopio in einem Café und Mathias kaufte sich ein modisches Cordsacko in einem freundlichen Herrenausstattergeschäft, wie es das eigentlich nur in Italien gibt. Man lobte mich endlich brav für mein Italienisch und die Welt war gut. Auch das Parlament schien wieder zu arbeiten, überall Polizia und Menschen in Anzügen und Kostümen.

Dann Caravaggio: Die Leuchtkraft der Farben und die schwarzen Füße der armen Menschen auf den Gemälden beeindrucken mich immer wieder. Auch der Hintern desjenigen, der das Kreuz aufrichtet und dem Betrachter entgegengestreckt wird, ist toll. Die Gesichter, die sich gegenseitig anschauen, nicht in den Himmel blicken, weil von oben nichts anderes zu erwarten ist als Regen und Sonne. Und die Kasse, in die man zwei Euro stecken muss, damit das Caravaggiogemälde angeleuchtet wird, beeindruckt. Die katholische Kirche bittet um Geld. Nein, sie muss sich von den Touristen aus aller Welt die Eurostücke zustecken lassen, sonst kann man das Gemälde nicht anschauen. Was kommt man auch nur zum Betrachten des Gemäldes in die Kirche? Die Kirche kann den Rachen nicht genug voll kriegen. Ich hoffe, sie gibt das Geld an der richtigen Stelle aus, dann zahle ich die zwei Euro gerne und betrachte Hintern und dreckige Füße.

27.12.22

In Rom sind alle Mülleimer voll. Die Reste der Weihnachtsgaben liegen auf den Bürgersteigen. Herren in Anzug und Menschen in lockerer Kleidung legen ihre Tüten gleichermaßen neben die riesigen Tonnen, die schon seit Wochen nicht mehr fassen können, was sie fassen müssten.

Wenn man nach oben schaut, sieht man gelb und orange vor einem so strahlend blauen Himmel, dass man nie mehr hier weg möchte. Es ist so warm, dass ich den Wintermantel öffne. Unten Hundescheiße und Müll.

Ich kann gleichwohl nicht genug kriegen von Italien. Es ist dieses Essen, diese Art zu sprechen, sich schön anzuziehen und immer überall einen kurzen Kaffee zu trinken. Es ist die Oper, sind die Steinreste, es ist Caravaggio, es ist das Meer, das die Italiener abmessen und verteilen, kämmen und verbauen. Im Winter ist alles frei und die Buden geschlossen. So kann ich sogar am zweiten Weihnachtsfeiertag noch in das kalte Meer ohne einen Liegestuhl zahlen zu müssen. Ich mag Italien einfach mit allem. Mit seiner haarigen Geschichte, mit seinem Dreck, seiner Mafia (weniger), den Zitronen und der Sonne, die hier zuhause ist.

19.12.22

Die diesjährigen Versuche, Pflanzen heranzuziehen, waren nicht von Erfolg gekrönt. Ich trauere noch immer. Die Lupinen sind erst nicht kräftig gewachsen, dann sind die letzten vertrocknet. Die geschenkten Peperoni sind verdurstet. Die angezogenen Passionsfrüchte aus Portugal fühlten sich pudelwohl, aber bei dauerhaften Minusgraden sagten sie jetzt Ade, obwohl ich sie eingepackt hatte. Allerdings offenbar nicht genug. Ich bin also keine erfolgreiche Pflanzenmutter. Gut schon, aber nicht besonders zuverlässig, würde ich sagen. Es vergeht kein Jahr, in dem ich nicht Jungvögel oder Pflanzen anziehe, pflege und am Ende verliere. Ich habe immer getrocknete Würmer im Haus. Vor vielen Jahren habe ich einmal mit Finn im Westend ein Nest für die Jungvögel gebastelt. Wir sind mit einer Leiter zu der Stelle hin, an der er die junge Amsel gefunden hatte und brachten ein selbstgebasteltes Nestchen im Baum an. Den kleinen Piepmatz legten wir hinein. Der Wind schüttelte den dünnen Baum. Wir nagelten und banden. Es müsste manchmal eine größere Sorgekraft als Mutter und Vater geben.

Im Garten liegt der erste Schnee. Heute soll es Blitzeis geben, für Dezember doch eher ungewöhnlich.

16.12.22

Still sein. Etwas nicht sagen.

Warten.

Aushalten.

11.12.22

Es liegt Schnee. Es ist kalt. Das Fahrrad hinterlässt Streifen auf dem weißen Grund. An Sonntagen durch die Stadt zu fahren, wenn alle beim Frühstück sitzen, ist ein besonderes Erlebnis. Die Kreuzungen sind frei, die Straßen breit. Im Kino halten sich bereits einige auf, die auch einen Film über Elfriede Jelinek sehen möchten. Wir sind eine kleine Gemeinde, aber Gemeinde wohl. Es tragen noch viele Menschen den Mundschutz. Zwischen Grippe, Corona und RS, Schnupfen, Lungenentzündung und Keuchhusten eine kluge Entscheidung. Gegen Dummheit und Ignoranz scheint es aber keinen Mundschutz zu geben.

8.12.22

Zwischendurch Lustiges: Ich möchte am Morgen während des Zähneputzens ein Schamhaar von der Armatur in der Badewanne entfernen. Als ich daran greife, fängt es wie wild an zu tanzen. Es ist eine Spinne, die sich dort niederlassen möchte. Das wird sie sich jetzt überlegen. Wer wird schon gerne mit einem Schamhaar verwechselt?

6.12.22

Der Vater meines ehemaligen Rechtsanwalts hat mich als säumige Klientin entdeckt. Jetzt will er ordentlich Geld von mir. Die Rechnung ist 2019 von der Gegenseite bereits gezahlt worden, aber ich bekomme lange gemeine und sehr unfreundliche Briefe. Mein erster Impuls war, wir könnten das doch im Gespräch lösen. Aber da ist nichts zu machen. Vater und Sohn haben sich auseinanderdividiert und ich soll jetzt Rechnungen zahlen, die drei Jahre nach Beendigung des Rechtsstreits gestellt werden.

Mir kommt das verrückt vor. Genauso verrückt wie der Vorgang, der 2017 mit mir geschah, als der Leiter des Staatlichen Schulamtes, Herr Kreher, mich einbestellte und mir unter Zeugen sagte, dass ich ab sofort keine hessische Beamtin mehr sei. Eine Verfügung fehlte in meiner Akte, also war mein Titel nicht geklärt. Der Streit zog sich hin. Am Ende stellte das Gericht den Titel wieder her.

Es kann offenbar ganz schnell gehen, dass man keine Beamtin mehr ist. Offenbar kann man auch schnell in Ärger geraten, den man selbst nicht verursacht hat. Söhne können Väter sehr verletzten. Aber auch Väter können Söhne sehr quälen. Was stehe ich da auch so blöd dazwischen. Heute ist Nikolaus.

5.12.22

Gestern Abend fuhr ich mit dem Fahrrad durch den Krisselschnee. Er fiel hart in mein Gesicht und tat ein bisschen weh. Es war eine Art harter Schnee in Miniformat. Im Licht der Lampe sieht man die dünnen Streifchen auch. Wer im Himmel hat sie geraspelt? Wenn es nicht zu viele werden, ist die Fahrt angenehm.

Im Halbschlaf höre ich die Nachrichten, die wieder andere Dinge kennen als Pandemie. Zum Beispiel hat ein gewisser Trump geweint, dass er wieder als Präsident der Vereinigten Staaten eingesetzt werden muss, weil er der eigentliche Präsident ist.

3.12.22

Ich mag Samstage. Ich schlafe sehr lange. Dann trinke ich Kaffee und lese Zeitung. Der Blick in den Garten macht mir Freude, egal welches Wetter ist. Danach gibt es frische Brötchen oder Croissants. Das ist auch toll. Danach kommt der Gang durch den Kiez: Markt, Rewe, Pohl-mann, Schneiderin, mit der ich zwei Brocken italienisch spreche und die Reinigung. Der immer gut gekleidete Mann aus der Reinigung. Ich treffe Vincente, Regina, Anette, Heike, Eva und mitunter auch Felix. Den Frankfurter Kranz treffe ich auch und nehme für Sonntag zwei Stück mit.

2.12.22

Bei weniger Regen oder nur leicht feuchter Straße ist das Geräusch des über den Asphalt gleitenden Reifens höher. Nicht satt. Eher wie ein Summton. Auch schön.

1.12.22

Am Morgen fahre ich durch den Sprühregen. Es ist dunkel. Es ist frisch. Es ist herrlich. Der Kaffee schaukelt in meinem Magen. Vergessen, dass ein stadtbekannter Anwalt von mir Geld fordert, dass bereits gezahlt wurde, vergessen, dass so viele Menschen krank sind und ein geregelter Schulbetrieb schier unmöglich ist, vergessen, was ich gerade in der Zeitung las. Ich höre den Amseln zu, die in der breiten Straße mit den stattlichen Bäumen von den Dächern tirilieren. Zugegebenermaßen schimpfen sie: Kick Kick Kick. Ich höre es trotzdem gerne. Das Rad ist gut aufgepumpt und die feuchte Straße macht ein sattes Fahrgeräusch. Das Leben ist prall gefüllt und fliegt mir in den Mund. Ich schließe die Augen und fahre ein Stück blind. Das kitzelt im Bauch. Die Bäume ziehen an mir vorbei, die Amseln liegen hinter mir, ich biege ab. Die Augen bleiben offen. Aus meinem Mund kommt ein Tirilie.  

29.11.22

Ein Vater möchte, dass sein Sohn bereits um 11:55 Uhr nach Hause kommt und nicht erst um 12:45 Uhr, wenn der letzte Block in der Schule ausfällt. Das kommt nicht oft vor, zweimal im Jahr bei Zielgesprächen, die an einem Nachmittag stattfinden. Lehrer sprechen dann mit den Kindern und Jugendlichen und ihren Eltern, deshalb kann kein Unterricht nebenher gemacht werden. Die Termine stehen im Timer, man kann sich also drei Monate darauf vorbereiten. Da die Mittagspause um 11:55 Uhr beginnt und als eine Lerngelegenheit verstanden wird, bleiben alle Schülerinnen und Schüler bis 12:45 Uhr, also bis nach der Mittagspause in der Schule. In der Pause gibt es ein warmes Mittagessen und Spielangebote. Der Mann beschwert sich trotzdem beim Schulamt. Er möchte, dass sein Sohn die Mittagspause zuhause verbringt. Zweimal im Jahr, wenn alle anderen in der Schule sind und spielen.

Interessant.

28.11.22

Als ich heute Morgen mit dem Fahrrad auf der Eschersheimer Landstraße fuhr, entschied ich spontan, an einer Fußgängerampel stehen zu bleiben, bei Grün die Seite zu wechseln und ein Stück mit der U-Bahn weiterzufahren. Die Haltestelle war gerade da. Die Rampe zur Haltestelle hoch radelte ich. Es war sieben Uhr und niemand außer mir war unterwegs. Nur ein Autofahrer, der an der Ampel anhalten musste. Er hielt nach der Ampel noch einmal für mich an und rief mir rüber, dass ich gefälligst absteigen müsste und wozu ich ein Fahrrad hätte.

Interessant.

25.11.22

Es gibt heilige Kühe in Deutschland. Sie laufen frei herum und stehen immer im Weg. Müll fressen sie nicht. Sie werden mit Gold und Platin gefüttert und haben immer Vorfahrt.

Die erste heilige Kuh heißt „freie Fahrt“.

Die zweite heilige Kuh heißt „Das wird man ja nochmal sagen dürfen“.

Die dritte heilige Kuh heißt „Gymnasium“.

Die erste heilige Kuh erkennt man daran, dass Geschwindigkeitsbegrenzungen grundsätzlich als skandalöse Einschränkung der individuellen und zustehenden Freiheit erlebt werden. Ein Vorfahrts-achten-Schild übersehen? „Ich fahre doch immer hier!“ 120 km/h beachten? „Ich bin dann schneller von der Straße weg.“ Muh.

Die zweite heilige Kuh tut so, als wäre sie die Meinungsfreiheit. Aber es gibt eben einen sehr deutlich erkennbaren Unterschied zwischen laut vorgetragenen, möglichst simplen Aussagesätzen, die keine Ursache und Wirkung, keine Erörterung und keine Widersprüche kennen und gesprochene oder geschriebene Texte, in denen unterschiedliche Aspekte in einer Betrachtung berücksichtigt werden. Zuhören und voneinander lernen? „Halts Maul, wenn ich rede!“ Muh

Die dritte erkennt man daran, dass nahezu jedes Familienglück davon abhängt: ein Kind sollte das Gymnasium besuchen. Wenn nicht mit dem fünften Schuljahr, dann doch bitte mit dem elften. Wenn das Kind mit einer 3 in Deutsch ins fünfte Schuljahr kommt, dann sind die Eltern noch erwartungsvoll gespannt, wie es sich im nächsten Schuljahr entwickeln wird. Aber im achten Schuljahr sollte wirklich alles so weit geschafft sein, dass das Kind gymnasialreif ist. Persönlichkeitsentwicklung, Umgang mit Ängsten, Nachdenken, Verantwortung, Glück? „Es soll lieber aufs Gymnasium.“ Muh

Heilige Kühe nerven nicht nur, sie werden auch richtig böse, wenn man ihnen nicht den nötigen Respekt schenkt. Sie beißen und blöken laut. Sie stehen auf der Straße herum und lassen ihren Mist überall fallen.

Es gibt noch mehr heilige Kühe (Marktwirtschaft, Erbschaften, Parkplätze) aber ich höre jetzt lieber auf, sonst kriege ich schlechte Laune.

23.11.22

Viren und Bakterien toben sich aus. Noch nicht an mir, aber an meinem Sohn, meiner Mutter, meinen Kolleginnen und Kollegen. So lange ich gesund bin, kann ich mir nicht vorstellen, krank zu sein. Ich weiß, dass ich krank war und krank werde, aber es ist so, als würde man sagen, dass draußen im Garten ein Trojanisches Pferd steht. Ich kann es mir vorstellen, es ist aber nicht spürbar. Ich bestäube die Physalisblüten im Arbeitszimmer. Wahrscheinlich werde ich keinen Erfolg haben, da ich keine Hummel bin. Ich weiß nicht genau, wie ich es anfangen soll, dass jede Blüte wirklich ein bisschen Staub abbekommt. Vielleicht sollte ich meine Passionsfruchtsetzlinge auch reinholen. Sie vertragen keinen Frost. Aber bei vier Grad stehen sie tapfer im Blumentopf nebeneinander und recken die Köpfe in die Höhe. Ich habe sie warm eingepackt. Draußen ist es dunkel. Noch so ein Zustand, der sich ändert, den ich aber nicht spüre. Erst wenn er da ist und die Dämmerung beginnt, stellt sich mein Sensorium darauf ein, den Tag zu erleben, den heraufziehenden Tag. In der Dämmerung kann ich den anderen und den jetztzeitigen Zustand spüren. Beides zugleich. Wenn man sich immer auf das konzentriert, was gerade ist, dann entlastet man das Gefühlsleben, aber es schränkt auch ein. Nur in der Dämmerung ist beides da.

21.11.22

Jetzt ist es kalt. Und regnerisch. Ich wünsche mir lieber nichts mehr, wenn es so schnell in Erfüllung geht. Das magische Denken ist doch mächtig. Allerdings halte ich mich nicht für sehr anfällig. Ich knacke nicht mit den Knochen und werfe keine Knöchelchen. Ich lese nicht im Kaffeesatz und lese keine Horoskope. Ich berausche mich an der Kunst und der Sprache. Das reicht eigentlich. Auf meinem Geburtstag erzählte die eine, dass ich immer ganz ordentlich in mein lila Notizbüchlein schriebe und die andere und auch ein gewisser anderer, dass ich ein sehr unordentliches Notizbuch führe, in dem ich meine Termine einkringele. Die Theatergruppe „Treibgut“ spielte dann diese widersprüchlichen Informationen vor.

Beides stimmt. Ich habe ein Notizbuch, in das ich nicht besonders ordentlich, aber der Reihe nach hineinschreibe, was ich denke und erlebe und ein Notizbuch, in dem ich versuche, den Überblick über Termine zu behalten. Das Einkringeln ist ein Versuch, Ordnung zu schaffen. Mittlerweile ist es eher ein ästhetisches Stilmittel. Ordnung schaffe ich nicht. Da ist es wieder das magische Denken.

17.11.22

Ein verregneter 17.11. Was ist mit dem November los? Es muss doch kalt sein, so dass die Nase zittert und schmerzt, man muss den Atem vor dem Gesicht sehen und die Wiesen und Wege müssen leicht weiß belegt sein. Autoscheiben werden gekratzt. Meinetwegen kann die Sonne tagsüber scheinen, so dass die Nase wieder warm wird. Aber man trüge Handschuhe und einen dicken Mantel und es wäre fast schon Winter. Gut, dass wir den Konjunktiv haben.

14.11.22

Die Physalis blüht seit 14 Tagen. Kaum ins Zimmer geschoben worden, blüht sie. Die Blüten stehen immer an einer Astbeuge. Sie sind klein und gelb mit einem dunkelgrünen bis schwarzen Kranz um die Staubgefäße oder den Stempel herum. Einige der sommerhellen Blüten sind Daumennagel groß, andere etwas größer. Jeden Morgen schaue ich, wie es ihnen geht.

13.11.22

Die meisten Blätter sind abgefallen. Die Nektarine wehrt sich noch. Verbene blüht noch. Die Kirsche strahlt orangerot in der frühen Mittagssonne. Drei Amselmännchen werfen das Laub durch den Garten. Das Moss auf dem alten Gartenhüttchen leuchtet dicht neongrün.

Ich würde am liebsten regungslos sitzen und das Licht beobachten, wie es durch den Garten wandert. Ich würde dem Licht folgen und den Worten, die in meinem Kopf vorbeiziehen und die schön sind. Manchmal grausam, manchmal beruhigend oder besonders. Ich wäre gerne unsichtbar und zugleich da.

10.11.22

Morgens und abends leuchtet der Himmel. Wahrscheinlich tut er das auf der ganzen Welt, nur dann nicht, wenn schlechtes Wetter ist. Wie schnell ich gute Laune oder schlechte Laune bekommen kann, mit einem einfachen Aussagesatz. Ein Wunder.

2.11.22

Das gefällt mir an Josephine Baker besonders gut: Sie hat sich entschieden, in Frankreich zu bleiben, in Paris, weil sie dort in den 20er und 30er Jahren ein einigermaßen freies Leben leben konnte. Es wird hart genug gewesen sein. Sie hat es auch mit Berlin versucht, aber da blieb sie nicht dauerhaft. Wäre auch nicht dauerhaft gegangen, da die Deutschen ab 1933 niemanden mehr sehen wollten, der zugezogen ist, wenn er nicht arisch war. Schade, sonst wäre sie vielleicht Deutsche geworden. Darauf wäre ich stolz. So bin ich eben stolz auf eine Französin: Sie hat gegen die Nazis gekämpft und gegen Diskriminierung. Sie hat an der Stelle gekämpft, an der sie eben gelebt hat: in Paris. Sie hat Französisch gesprochen und frei geliebt. Für mich ist es genau diese Art, die die europäischen Städte, nein, die europäische Lebensart ausmachen sollte. Die Sprache lernen, mit den Menschen tanzen und singen und gegen das Böse, Unmenschliche, Garstige kämpfen. Das Garstige kann System haben.

Mir hat es die Nusscreme aus dem Piemont angetan. So etwas Nussiges und Zartes hat man noch nicht auf der Zunge gehabt.

In Facebook gibt es eine Gruppe von Menschen, die regt sich darüber auf, dass das Licht in dem Gebäude einer öffentlichen Schule nachts angeht und der Schulhof nachts beleuchtet ist. Ich habe mich darüber auch schon kurz geärgert, es hat mit dem Einbruchschutz zu tun und mit der Empfindlichkeitseinstellung der Bewegungsmelder. Kaum geht man an einem Zimmer vorbei, springt das Licht an und geht ein paar Minuten später wieder aus. Ich habe durchaus Verständnis für die nachbarschaftliche Klage. Sicher kann man die Einstellungen auch ändern, aber es dauert eine Weile, bis man herausgefunden hat, wer verantwortlich ist, wie die Einstellungen zu verändern ist und bis dann im Gebäude insgesamt alles so eingestellt ist, wie man es haben will. In der Zwischenzeit schimpfen sich die Nachbarn auf dem Hügel oberhalb Frankfurts auf Facebook so richtig ein. Auf die Stadt, die Schule, den Hausmeister (der dafür nun gar nichts kann), die Lehrerinnen, mit denen man gesprochen habe und die sich ratlos zeigten, die Schulleiterin, die unverständlicherweise um Verständnis bat, nach einem solchen Umzug etwas Geduld mitzubringen. Man schlägt vor, den Hausmeister anzurufen, veröffentlicht seine Dienstnummer, die man genauso gut auf der Homepage der Schule nachlesen könnte. Wenn sich diese Gruppe mit der Gruppe, die sich über die zusätzliche Müllbelastung rund um die Schule aufregt, zusammentäte, könnte man eine größere Gruppe bei der Tätigkeit des Einheizens beobachten.

Mich ärgert Müll auf dem Bürgersteig auch. Deshalb versuche ich Kinder und Jugendliche entsprechend zu sozialisieren. Aber vielleicht sind es gar keine Kinder, sondern Erwachsene, die den Müll wegwerfen, so wie auf der Autobahn in den Kurven zu einer Abfahrt immer viel Müll liegt oder im Meer riesige Müllteppiche schwimmen? Waren das Kinder und Jugendliche? Was tun diese besorgten Bürger außer sich auf Facebook und per eMail aufregen? Wenn alle diese Menschen Fahrrad fahren, in der sozialen Arbeit tätig sind, sich für das Gemeinwohl engagieren und reichlich für gute Zwecke spenden, dann bin ich beruhigt. Vielleicht noch nicht ganz, denn auf Facebook aufregen ist keinesfalls eine gute Idee. Man schafft außer schlechter Stimmung eigentlich nichts. Ich glaube nicht, dass man den Kapitalismus dafür verantwortlich machen kann, dass viele Menschen so aufgeregt sind. Vielleicht doch, ich denke, man könnte schon einen Zusammenhang herstellen, aber er ist notwendigerweise abstrakt.

Ich finde, man darf sublimieren: Man darf aus seinem Zorn etwas Schönes, Gestaltetes, Anderes machen als es ursprünglich ist. Dieses Etwas darf den Zorn tragen, nicht aber der Zorn sein. Demokratische Prozesse sind quasi auch Sublimierung. Eigentlich ist Demokratie eine Kunstform. Dieser Gedanke ist komplex und gefällt mir. Vielleicht tun sich die Menschen ja noch zusammen und tragen es dem Ortsbeirat vor.

Ich muss nochmal etwas Nusscreme auf den Toast schmieren.

31.10.22

Ich weilte ein paar Tage in Italien und versuchte, das Italienische zu lernen. Das ist nicht ganz einfach. Es geht schon, ein paar Sätze zu sagen oder zu verstehen. Aber eine Unterhaltung ist schwierig. Aber auch ohne dass ich etwas von der Sprache verstehe, verstehe ich etwas von dem Land. Die Sonne, die Wärme, die Hügel, die die zarten Farben, das Meer. Man sollte sich da hinlegen dürfen, wo man möchte.

23.20.22

Andererseits passt nichts zum anderen. Wo soll ich da anfangen?

20.10.22

Wie in diesen Fällen üblich wandelt sich meine rechte Gesichtshälfte nach dem Aufprall auf die Autotür von zart rosa über tief violett zu grün-blau. Noch immer habe ich ein Horn an der Stirn. Vielleicht bleibt es da? Ein Geweih am Menschen? Ein rechtsseitiges Horn böte wahrscheinlich keinen Überlebensvorteil, es wäre immer im Weg. Aber die Evolution ist ja nicht immer gelenkt vom intelligenten Design. Ganz im Gegenteil scheint sie eher zufällig mal dies, mal das zu begünstigen, je nachdem welche Erdteile gerade einmal weiter oder näher voneinander weggerückt werden. In Australien überlebten Beuteltiere, auf Galapagos entwickelten sich verschiedene Finken. Irgendwo auf der Welt leben nackte Affen, die nur überleben, wenn sie zusammenhalten und alleine überhaupt keiner Gefahr standhalten könnten. In der Gruppe sind sie aber konkurrenzfähig. Einerseits passt also in der Natur alles zusammen und ist ausgesprochen regelmäßig angeordnet: Die Fliegen-Ragwurz-Orchidee wird nur von der Grabwespe bestäubt und alle Säugetiere haben vier Gliedmaßen, mit denen sie sich fortbewegen. Dreibeinige gibt es schlicht nicht. Zweibeinige nur mit der Zusatzausstattung lange Arme. Bei Gefahr können wir uns auf die Bäume schwingen oder auf die Mauer. Da der Tiger in unseren Breitengraden ausgestorben ist, müssen wir Menschen das selten tun. Manchmal wäre es gut. Wenn wir Sport treiben, tun wir das ja auch. Für die Orchidee „Stern von Madagaskar“ muss es ein Insekt geben, das einen 25cm langen Rüssel hat. Es darf kein Elefant sein, weil der nicht fragil genug ist. Es muss fliegen können und an die Blüte der Orchidee drankommen. Wie kann sich ein solches stabiles Liebesverhältnis herausbilden: Blüte und Schwärmer oder auch Schmetterling finden zueinander? Madagaskar ist eine kleine Insel. Da kommt offenbar niemand weg, ohne das passende Gegenstück gefunden zu haben. Aber das ist schon wieder viel zu anthropomorph. Ein wunderbares Wort: hat den Klang eines kurzen Gedichts, das auf dem Schlagzeug begleitet wird: an – tro -po – morph (das Ende muss man etwas ziehen wie den Klang eines Beckens). Weiter im Takt. Alle Gliedmaßen folgen dem Prinzip: ein, zwei, mehrere Glieder: Oberarm, Unterarm hat zwei Knochen, Hand hat mehrere. Das ist auch beim Walfisch so, der keine Hand, aber eine Flosse mit mehreren Fingern hat. Und zärtliche, liebevolle Berührungen scheinen auch für die meisten höheren Lebensformen von Vorteil zu sein.

Es muss noch ein „Andererseits“ folgen.

17.10.22

Ich stelle mir vor, ich bin Sigourney Weaver und habe einen Angriff der Alien abgewehrt! Meine verspannte Schulter ist stark und kräftig und ich werde auch zukünftigen Angriffen die Stirn bieten!

16.10.22

Ich habe meine Zeit mit anderen Texten zugebracht, ich gebe es unumwunden zu. Es war ein Auszug aus einer längeren Erzählung, an der ich arbeite. Lerka verwandelt sich. Ich war beschäftigt mit Lerka, einem Wissenschaftler, der Dinge kann, die ich nicht kann. Ich neide sie ihm nicht.

Dann hatte ich mich sehr gefreut auf den Tag heute, an dem ich im Taunus Walnüsse und Äpfel ernten und mit nach Hause tragen wollte. Aber daraus wurde nichts, weil uns ein dickes Auto noch in Frankfurt in die Seite führ. Meine Seite. Der Gesichtschirug gab mit Nadel und Faden sein Bestes, das blaue Auge und die Beule ist reversibel. Nur mit dem Film, den ich seitdem im Kopf habe, muss ich noch klarkommen. Gestern habe ich Bullet Train im Kino gesehen und seit heute erscheinen mir die übertriebenen Actionenszenen noch übertriebener. Mit dieser einen Beule an meinem Kopf könnte ich unter keinen Umständen noch andere Kämpfe kämpfen oder über den Boden robben und Schläge, Messer und andere Waffen abwehren. In dem Film spielen die Auftragsmörder harte Typen, die sich unendlich herumbalgen. Mit dieser Beule am Kopf weiß ich, wie übertrieben das ist. Der Mensch ist eigentlich sehr empfindsam und verletztlich.

10.10.22

Auszug aus einem Glossartest. Das ist eine Art Vokabeltest für Fachvokabular: „die Biographie: eine Erzählung über das Leben eines Menschen, der wirklich geliebt hat.“

Ich mag Fehler einfach.

6.10.22

Jeden Tag, wenn ich am Briefkasten vorbei gehe, hoffe ich, dass heute der eine Brief darin liegen wird. Der „Eine“. Der, der mich erlöst. Der mich glücklich macht. Berühmt und bewundert. Ein Vertrag mit einem Verlag. Ein Hauptgewinn. Dabei ist der Weg dorthin aufregend und das Ergebnis meiner Erwartung dürftig. Meine Mutter sagte als ich noch sehr jung war: „Nur Rechnungen“. Dabei sah sie traurig aus. Es sind nicht immer nur Rechnungen im Briefkasten. Es gibt auch Karten von Freunden und selten Briefe. Reklame erhalten wir wenig, weil an unserem Briefkasten ein kleines Schildchen klebt, auf dem steht, dass wir keine Reklame wünschen. Das scheint weitgehend zu funktionieren. Ich sage mir manchmal: „Dieser Brief wird nicht kommen! Du kannst trotzdem glücklich sein!“ Trotzdem ist ein schönes Wort. Es hört sich an, wie es ist. Das ist es, was mich der Briefkasten lehrt: Du kannst trotzdem glücklich sein. Ich habe den Faden wieder gefunden.

5.10.22

Traum und Realität verweben sich in meinem Kopf. Schon immer kann ich träumen, bis die Schwarte kracht.

Ich kenne das Realitätsprinzip. Ich denke, das Studium hat in meinem Fall etwas genutzt. Es war „nötig“. Meine Not, in einer Realität zu leben, die oft nicht meine ist, wurde dadurch gelindert. Ich habe verstanden, dass es im Leben darum geht, sich durchzuwursteln. Manchmal auch sich durchzuschlagen. Dazwischen hat man seine Ruhe und träumt weiter. Das ist gewissermaßen das echte Leben. Die Jugendlichen und Kinder heutzutage sagen oft: „wie unnötig“. Wenn ich sage, „Ihr solltet herausschreiben, was genau ihr verstanden habt“, sagen sie „wie unnötig“. Oder ich sage: „Stellt euch mal auf, damit ich den Überblick behalte“, dann sagen sie „wie unnötig“. Ich finde im Studium philosophischer und literaturwissenschaftlicher Texte kann man Beruhigung finden. Das lenkt ab von den eigenen Bedürftigkeiten und der Weg zum Briefkasten wird zum Abenteuer. Dabei kann ich nicht einmal besonders gut beobachten. Es reicht ein Detail und ich bin wieder in meiner Scheune – ein wahrer Quell‘ verschiedener Existenzformen, die sich da ausbreiten. Heute bleibt es wirr.

Die Schwarte kracht selbstverständlich nie.

4.10.22

Auf der Terrasse stehen zwei schwarze beschichtete Pfannen. Sie sind dorthin gestellt worden, weil es gestern Kartoffelpuffer mit frischem Apfelmus gab. Das Apfelmus haben wir zwischen Bad Vilbel und Frankfurt gefunden. Auf den Streuobstwiesen in und um Frankfurt herum liegen gelbe und rote und alles dazwischen Äpfel. Außerdem hat man einen schönen Blick von der Höhe auf den Feldberg und runter in das Maintal, das sieht man nicht, aber das Dahinter, weiter im Süden. Mein Liebster meinte: „Das könnte auch Südfrankreich sein.“ Mein Lieblingsapfel war gestern ein dunkelroter, der etwas mehlig war, zuckersüß und doch saftig. Er kam in den Topf. Unterwegs probierte ich zwei Äpfel vom Baum. Sie waren hart und sauer und zugleich so aromatisch, dass ich mich auf der Stelle in den erstbesten Mann verliebte, der mir die schweren Taschen nach Hause trug.

3.10.22

Lustlosigkeit. Die Schönheit des Wortes lollt aus dem L über meine Zunge in den Gaumen hinein, in meinen Brustraum und wieder zurück hinaus in den Raum. Da bleibt sie liegen.

2.10.22

Im Nebenraum, der sich ohne Tür zu dem Raum öffnet, in dem ich sitze, reißt jemand Papier. Das ist ein angenehmes Geräusch. Es ist nicht wild, eher meditativ.

Wir sitzen alle in einem Zimmer. Hier läuft die Heizung an einem verregneten Oktobertag. Der Salbei liebt es. Ich zupfe ein paar Blätter, von dem das Wasser abperlt. Der Salbei schüttelt sich und das Wasser tropft herab. Ich gieße die Blätter auf. Es dampft und riecht. Der Jemand, der eben noch Papier zerriss, hat das Zimmer verlassen. Wie still es plötzlich ist. Ich muss aufsehen. Niemand da. Jemand anders kommt mit einem Buch herein, setzt sich und beginnt zu lesen. Mit einem Bleistift unterstreicht er Zeile für Zeile. Auch ein angenehmes Geräusch, das den Sonntag mit Tee in Teile teilt.

1.10.22

Ich lese aus Passante.

28.9.22

Der Regen haut gegen die Scheiben des Zuges.

27.9.22

Die Morgen am Meer sind ganz anders als im Taunus. Heller. Es gibt andere Vögel, Möwen, die schreien. Der Himmel ist weit und unbegrenzt. Im Taunus ist alles eng und dunkel. Die Landschaft öffnet sich mitunter, aber es gibt immer wieder Schluchten und Täler, die einen verschlucken.

24.9.22

Auf einer langen Fahrt nach Greifswald kommt man durch Gegenden mit Birkenwäldern. Nach Berlin wird es flach, nicht sofort, aber bald. Dann stehen auf dem Feld zwei Störche, junge Störche. Müssten die nicht längst weg sein? Wahrscheinlich sind es Reiher. Nein, Kraniche. Sie sammeln sich. Ich lese nach: Sie kommen in strengen Wintern oft um, da die Seen zufrieren. Aber hier nähert sich das Meer. Es nieselt. Ich sehe an dem Zugführer vorbei auf die Schienen und durch die verregnete Scheibe hindurch. Vor Greifswald wird der Himmel blau: Sonne und Meer küssen sich. Es ist Badewetter.

19.9.22

Ich habe großes Verständnis für die Körper – Geist Dualität. Für mich sind das zwei getrennte Welten.

Was ich denke und was in meinem Körper passiert sind voneinander unterschiedene Seinsweisen und im Alltag kommt das eine mit dem anderen manchmal zusammen, ein andermal aber gar nicht und beim Kauf einer Hose erlebe ich mich als jemand anderen als meinen Körper.

Mein Körper verändert seine Form und ich habe keinerlei Zugriff darauf. Das Gesicht verrutscht, Füße, Busen, Hüfte, Oberschenkel, Oberarme, Augenlider, Dekolletee. Ich dusche kalt, esse gesund und fett- und zuckerarm. Die Menge dürfte auch in Ordnung sein. Gleichwohl ist mein Körper ein Hefekuchen. Beulen an Stellen, die die Anprobe zum Kampf oder zur Beschämung führen. Mein Hochzeitsleid kann ich an Fasching leider nicht mehr tragen. Aus der Traum, nochmal Prinzessin zu sein.

Ich müsste wahrscheinlich noch mehr Bewegung haben, Sport machen und weniger essen. Aber ich habe noch nie noch mehr Sport gemacht und weniger gegessen und trotzdem kamen mein Körper und ich gut aus. Die meiste Zeit. Es ist in etwa so wie in der Schwangerschaft. Man hat keinerlei Kontrolle mit dem, was passiert. Und das soll ich sein? Mein Ich würde ich als etwas bezeichnen, das einigermaßen in meinem Interesse agiert. Aber es ist nicht in meinem Interesse, plötzlich Kleidergröße 40 zu haben. Einige meiner Freundinnen lachen mich aus. Wer vorher 36 hatte, muss nicht meckern. Abstrakt sehe ich das auch so. Aber mein ganzes Bild von mir selbst kommt ins Rutschen, nein, es passt einfach gar nicht mehr zusammen. Ich habe mich informiert und weiß, dass mein Körper einen anderen Hormonhaushalt hat als noch vor drei Jahren und außerdem nehme ich seit einem Jahr Medikamente wegen meines Asthmas. Diese Hülle von meinem Ich ist offenbar in einem Prozess, die Homöostase neu auszutarieren. Seelisch komme ich da nicht mit, weil ich keine anderen Bedürfnisse habe als noch vor zwei, drei Jahren. Nur meine Lust, Fernsehen zu schauen, hat abgenommen. Ich akzeptiere: Persönlichkeit und Körper sind Freunde, die sich auseinanderleben können und hoffentlich auch wieder zusammenfinden.

17.9.22

Seit Tagen geht es um den Tod der Queen. Erst wird sie nach London überführt, dann aufgebahrt, dann gibt es eine Totenwache, dann ist die eigentliche Beerdigung, vorher wird sie in einem Zug durch London getragen. Sie – ihre sterblichen Überreste. Ihr Leib. Er muss sehr leicht sein, so schmal und klein sie war. Die Sicherheitsvorkehrungen sind so hoch wie nie, sagt die Stimme im Radio.

Ich finde das übertrieben. Das Prozedere um die Beisetzung. Die Sicherheitsvorkehrungen werden angemessen sein.

Dazu Regen, ein Fußballspiel unseres Sohnes, eine Geburtstagsfeier und ein Besuch auf dem Land. Wir haben Birnen gesucht und gefunden. Die meisten sind wurmstichig, aber das macht nichts. Der Teil, der es nicht ist, kommt in den Topf und dann wird das Mus frisch verzehrt. Schmeckt zu allem anderen, das ich esse.

16.9.22

Ich habe mich wieder mit mir vertragen. Ich kann Ambiguität, Ambivalenz und Zweideutigkeit, Mehrdeutigkeit und Widersprüchlichkeit gut aushalten. Ich halte das für eine meiner Stärken. Auch dialektisches Denken beherrsche ich. Ich kann in die eine Richtung denken und an der anderen Richtung rauskommen und mache dabei eine Volte. Das fasziniert mich. Denken überhaupt ist toll. Es wäre schön, wenn es weiter verbreitet wäre. Gepaart mit Empathie ist Denken geradezu unschlagbar. Deswegen kann ich keine Revolutionärin werden, wenn ich auch die kognitive Ausstattung dazu habe und oft an dem Wahnsinn des Turbokapitalismus verzweifle. Die gute alte soziale Marktwirtschaft aus den 50er und 60er Jahren hatte mehr vom Sozialismus als man heute annimmt. Mir tun aber Diktatoren und Könige zwischendurch leid. Wenn sie traurig gucken oder Kummer haben, bin ich kurz mitleidig. Ich rufe mich dann zur Ordnung. Aber wahrscheinlich könnte ich niemanden Köpfen lassen. Das widerstrebt mir, obwohl ich rasen kann vor Wut, wenn Menschen widerwärtige Dinge tun. Gestern erzählte eine Siebtklässlerin, dass Adolf Hitler von seiner Mutter nicht geliebt wurde und sie ihn hatte abtreiben wollen, nachdem ein anderer berichtete, dass in den Konzentrationslagern gefoltert und gemordet wurde. Ein anderer sagte, im zweiten Weltkrieg seien acht Millionen Menschen gestorben. Ich kenne die genaue Zahl nicht, finde es auch ziemlich egal, ob es acht oder zehn oder sechs Millionen sind. Das habe ich nicht geantwortet. Ich habe versucht, eine Klammer zu finden in dem Gespräch. Ich finde die Zahlen allesamt ungeheuerlich und die Tatsache, dass man Menschen systematisch verfolgt, foltert und ermordet ist so ungeheuerlich, dass man das ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit nennen muss. Dem Kind, das sagte, Hitler sei ein ungewolltes Kind, tat Hitler leid. Ich dachte an das Warschauer Ghetto. Alles nebeneinander. Davon kann einem der Kopf platzen.

10.9.22

Gestern stritt ich mich mit mir selbst, nachdem ich meinen Eintrag zur Weltgeschichte geschrieben habe. Die Queen ist eine Repräsentantin des Imperialismus und der Ausbeutung. Sie ist feudal und reich. Sie ist nicht demokratisch legitimiert und hat wenig Gutes getan für die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen und die Abschaffung der Ungerechtigkeit auf der Welt. Vielleicht hat sie auch Bohnen im Garten angebaut oder Tomaten im Topf? Wahrscheinlich hat sie einmal etwas gespendet von ihren Millionen, die sie vorher den Armen dieser Welt abgenommen hat. Das war nicht nur sie, sondern ihr Vater, dessen Mutter und so weiter. Ich argumentierte also, dass man Königinnen und Königen nicht nachtrauern sollte, weil sie eher zu den Übeln dieser Welt gehören. Ich würde auch nicht sagen, dass ich um die Queen trauere. Es ist eher so, dass ich nicht mag, wenn in der Nachbarschaft sich etwas verändert. Ich finde es schön, dass ich die Nachbarn kenne und mich darauf verlassen kann, dass die Katze auf dem Balkon sitzt, die Nachbarin von gegenüber weiß, dass wir zwei Söhne haben, die Mauersegler jedes Jahr wiederkommen und die Eisberge nicht schmelzen. Ich mag also keine Veränderungen dieser Art. Wenn ich Veränderungen suche, dann reise ich. Das ist für die Eisberge auch nicht zuträglich. Jede Bewegung erzeugt Wärme. Weite Bewegungen erzeugen eine Menge Wärme. Mitnichten bin ich Royalistin. Ich bin Demokratin. Aber auch Demokratinnen spielen ab und an „Königin“. Allein schon der Gang durch die Menge in der Art einer Monarchin kann ein Vergnügen sein. Ich bin auch einverstanden damit, dass das jeder mal darf. Reihum mal Queen sein. Ich würde es nach dem Losverfahren machen. Das ist super zufällig und ungerecht, aber so, dass man nichts dagegen einwenden kann. Wenn es ein Spiel ist, dann gibt es auch ein Protokoll und daran halten sich alle. Ich glaube, das könnte ein gesellschaftliches Vergnügen sein: Herr Meier von nebenan ist dieses Jahr Queen. Na, da kann er sich ja mal ausleben.

Es regnet seit zwei Tagen. Es wird langsam kühler. Die Nektarinen sind weggegessen. Wir weichen schon auf Birnen aus.

9.9.22

Die Queen ist tot. Die Queen war immer da. Wie meine Mutter. Als ich auf die Welt kam, war sie da, als ich auf Reisen ging nach Indien, war sie da und als ich nach Frankfurt zog auch. Ich kann verstehen, was die Menschen an einer Königin suchen: Beständigkeit, Würde, Form. Man könnte das auch bei anderen Menschen finden, aber diese Queen hat diese drei Dinge vorbildlich repräsentiert. Die Geschichten zum Königshaus interessieren mich sonst nicht. Mich interessieren Klatschgeschichten generell wenig. Grundsätzlich bin ich sozial eher muffelig eingestellt. Ich tratsche nicht besonders gerne, weil es mich meistens nicht interessiert und ich suche auch nicht immer den Kontakt zu Menschen. Ich bin froh, wenn ich mit mir allein bin und mir etwas erzählen kann. Ich kann mich mit mir amüsieren. Ich kann mir auch gut zuhören. Ich habe im Weltall selten das Gefühl, dass man etwas verpasst.

Im Weltall geht die Würde nicht verloren.

Nur wer in der U-Bahn die Nase aus der Maske hält, ist wirklich vollkommen würdelos!

6.9.22

„Du liest aus deinem Passagenwerk?“, fragt mich ein Freund und Schreibcompaniero. Ich bin geschmeichelt. Mit Texten von Walter Benjamin beschäftigt man sich gerne. Ich habe ein Semester lang in einem kleinen Büro eines Dozenten der Literaturwissenschaft mit der Frage zugebracht, was Walter Benjamin mit dem „rückwärtsgewandten Engel“ meint, eine unter Intellektuellen der kritischen Theorie bekannte Metapher. Vielleicht war es nur das halbe Semester, den Rest der Zeit haben wir mit der Exegese des Marxschen Geschichtsbegriff verbracht. Das Seminar war sechs Köpfe groß. Ganz besonders schön zu lesen sind auch seine Texte für Kinder.

Es regnet: endlich! Ein Fortschritt ist das aber nicht.

5.9.22

Morgens ist wieder alles in schwarze Tusche gefärbt und nur das Licht aus der Küche, das um die Ecke fällt, erhellt die Natur. Bis sechs Uhr kein Vogelstimmchen. Im Spätsommer ruhen sich alle aus. Nur ich muss heute wieder früh raus und für die Aufklärung der nächsten Schülergeneration sorgen. Eine gewaltige Aufgabe. Viele Schüler verreisen in den Sommerferien regelmäßig nach Übersee. Einige bleiben zuhause. Ich bleibe dabei, die Inkompatibilität der verschiedenen Daseinsformen der Menschen trägt nicht zum gegenseitigen Verständnis bei. Grundsätzlich ist Verstehen und Verständnis auf jeden Fall möglich. Aber sich mit jemanden zu verstehen, der gar kein Bewusstsein von Not hat, weil er mit goldenen Tüchern gewickelt ist, erfordert viel Einfühlvermögen, das mir zunehmend fehlt.

4.9.22

Ich setze mich unter die Akazie und piepe. Wenn kein Rotkehlchen mehr vorbeischaut, muss ich wohl selbst eines sein. Ich trällere bis die Nachbarn schimpfen. Es scheint nicht so melodisch zu sein wie der Gesang der Amsel. Die Sonne des Sommers hat die Nektarinen rotgeschwängert. Sie sind so süßsauer wie sie sein sollen. Das Fleisch ist fest und saftig. Bleibt es so heiß, baue ich eben Nektarinen an. Und Physalis. Allerdings denkt meine Physalis nicht daran, Früchte zu tragen oder auch nur zu blühen. Ich dusche nur noch kalt. Ich gewöhne mich dran.

Seit der Hund hier war, sind die zwei Mäuschen aus dem Garten verschwunden. Besser für sie, ich hätte ihnen sonst ans Leder gemusst. Wenn ich auf meinem Gartenplatz nach oben sehe, dann sehe ich das Blätterdach von unten und den blauen Himmel. Die Mauersegler sind bereits in Cervo. Ich kann sie dort hören.

2.9.22

Die Meisen, Rotschwänzchen und Rotkehlchen habe ich lange nicht mehr gesehen. Spatzen überall, das ist sehr putzig, sie klettern und flattern im Efeu an der Wand wie Mäuse hoch und runter, rascheln und zanken sich, aber die anderen? Amseln und Tauben besuchen den Garten ebenso. Die Mauersegler weit über uns. Ich muss sie heute suchen, ich fürchte, die sind schon wieder auf und davon. Der Sommer geht zu schnell. Ich möchte ihn halten.

Nicht wegfliegen können die rot süß-sauren Nektarinen, von denen ich und mein Liebster jeden Tag eine pflücken. Welch ein Genuss.

1.9.22

Es haben mich drei Bücher in den letzten Monaten etwas mehr beschäftigt. Angeregt. Eine russische Autorin Gorcheva-Newsberry schreibt über ihre moskauer Kindheit in den siebziger und achtziger Jahren, Lea Ypi beschreibt ihre albanische Kindheit und von Jens Soentgen eigentlich zwei Bücher „selbstdenken“ und „Wie man mit dem Feuer philosophiert“, ich kenne auch ein drittes, aber dessen Titel erinnere ich gerade nicht. Ich bin durch Moskau und Tirana gelaufen, habe Streuobstwiesen durchstreift und Coladosen bewundert. Ich habe die Eltern vor mir gesehen und saß in realexistierenden sozialistischen Wohnzimmern. Ich habe erlebt, wie Sozialismus sich anfühlt. Es war nicht nur schlecht. Auch wenn es gerade sehr schlecht war. Das Nebeneinander von Dingen ist ja eine Tatsache.

Soentgen beschreibt eher naturwissenschaftliche oder philosophische Zusammenhänge. Er erzählt sie. Ich mag diese Art zu erzählen. Er plaudert tiefgründig.

31.8.22

Eine echte Herausforderung für mich ist, mich ernst zu nehmen. Ich nehme mich nur stellenweise und sehr kurz ernst und dann verschwinde ich gerne wieder. Zwischendurch nehme ich mich zu ernst. Wahrscheinlich ist eher das Problem, dass ich kein ausgeglichenes Verhältnis habe zum Ernstnehmen. Mein Großvater, den ich sehr liebte, obwohl ich gar nicht viel von ihm weiß und wahrscheinlich war er in Teilen auch ein sehr unangenehmer Mann, hieß Ernst. Mein Onkel auch. Der Bruder meines Vaters, der Werner Jürgen hieß. Ich glaube nicht, dass mein Großvater etwas mit meinem unausgeglichenen Verhältnis zu tun hat. Aber ein erzählenswertes Detail ist es doch: die Zusammenkunft von Gleichem im Ungleichem.

26.8.22

Im fiebrigen Zustand ist man in einer Zwischenwelt. Es ist, als gäbe es das Dringliche, Notwendige und Zusammenhängende nicht. Allein der nächste Schluck, die Körperlage, der kühle Hauch vom Fenster her ist wichtig. Dann wieder wegdämmern. Einen Tag fahre ich über die Autobahn mit dem Fahrrad und am nächsten liege ich im Bett. Wunderliche Welt. Da ist etwas jenseits meiner Aufmerksamkeit geschehen. Vielleicht habe ich die Hände am Wochenende in einem falschen Gewässer gewaschen? Vielleicht Milch getrunken, die nicht guttat? Ich weiß es nicht, die Fiebrigkeit und Übelkeit kam und ging.

25.8.22

Man kommt in eine Altbauwohnung mit erheblicher Geschichte und Dichte. Die Bücher stapeln sich bis unter die Decke, alles ist feinsäuberlich geordnet. Nichts fliegt einfach herum, auch wenn es herumliegt. Alles hat eine Nummer und eine Zuordnung. So aufgeräumt ist auch die Besitzerin des Verlages. Sie kennt die Nummern der wichtigsten Dichter und Denker und weiß, wo sie liegen (neben der Spüle in der Küche). Ihr Gedächtnis ist wie Schrift: genau, bezeichnend und identifizierend. Ich habe kein gutes Gedächtnis, habe nicht die Disziplin dazu. Ich bin ein Träumerle: Wenn ich nicht träume, passe ich nicht auf und das Bild, das ich mir beim Lesen mache, verdrängt die Worte. Sie schmelzen mir auf der Zunge. Mir macht „Worte merken“ Mühe. Ihr offenbar nicht, sie kann aus dem Kopf zitieren und ich höre ihr gerne zu. Wir stellen fest, dass wir beide Helmut Bednarczyk kannten. Er war mein Freund, mein Liebster. Wir trafen uns in Andorra, aber es war nicht glücklich mit uns und Thomas Hettche riet ihm damals, mich zu vergessen. Er tat gut daran. Ich glaube nicht, dass es ihm ganz gelungen ist, mir auch nicht, aber aus der Ferne kamen wir besser miteinander klar und dann starb Helmut eines Nachts. Thomas rief mich an. Ich war sehr traurig. Wir beiden lasen Jörg Fauser, der aus Bad Schwalbach kommt, wie ich. So kreisen die Geschichten um einen herum. Ich lausche ihren Geschichten und bin froh, dass jemand Bücher so lieb hat.

24.8.22

Gasumlage, Krieg gegen die Ukraine, Corona, zusätzliche Willkommensklassen, unbegleiteteter Umzug einer gesamten Schule, Trockenheit, fehlender Weizen, beschnittene Frauen, verstopfte Nase, fehlende Verantwortlichkeit, Spinnen in der Badewanne.

Ich weiß manchmal nicht, wo mir der Kopf steht.

18.8.22

In Spanien regieren die Schaffner und die Bahnhofsangestellten mit ruhiger und sachlicher Klarheit. Jeder, der keine Maske trägt, wird höflich darauf hingewiesen und letztlich zieht auch jeder eine an. In Frankreich muss man keine Maske mehr tragen, deshalb trägt auch niemand mehr. In Deutschland muss man auch eine Maske im Zug tragen, aber viele tun es nicht. Der Schaffner ermahnt auch nicht, deshalb bleibt es dabei, die meisten Menschen tragen keine. In Spanien denkt man nicht darüber nach und für alle gelten die gleichen Rechte. Es ist gewissermaßen der Charme des demokratisch Legitimierten: Für alle gilt das Gleiche, auch wenn das Tragen selbst lästig ist. In Deutschland muss ich entscheiden, ob ich sinnvollerweise trotzdem eine Maske trage, obwohl viele andere sich darüber hinweg setzen und damit auch den Worten des Gesetzes Folge leiste oder ich der Bequemlichkeit nachgehe und dagegen verstoße, wohlwissend, wahrscheinlich werde ich keine Konsequenzen erfahren. Ich muss mich entscheiden, ob ich der eigenen Unbequemlichkeit nachgebe oder nicht. Die Bahnfahrt in Deutschland ist anstrengender. Manchmal wünsche ich mir, ich müsste nicht immer alles selbst entscheiden.

Der letzte Tag unserer Reise, wenn auch nicht der letzte Tag des Urlaubs. Morgen werde ich in Frankfurt sein und eMails sortieren und den Salon vorbereiten, auf dem ich ein paar Texte von mir vorstellen möchte.

Heute also reisen. In Marseille zum Zweiten haben wir auf der Straße eine katzengroße Ratte gesehen, in einem Hotel genächtigt, in dem es nach Schimmel roch, die Ecken an den Möbeln abgeblättert waren, das Besteck dreckig und der Wein, den wir gestern Abend noch in der Bar trinken wollten, in Sektgläsern gereicht wurde, weil Weingläser gerade nicht vorrätig waren und einen Wolkenbruch erlebt.

Die Nacht war okay.

Zum Frühstück kommen viele Menschen, obwohl es erst halb sieben am Morgen ist. Ein Vater mit seinem Sohn. Der kleine Dicke ist der Vater, große Nase, die hat er dem Sohn geschenkt. Der Sohn ist klein und drahtig, trägt Barfußschuhe. Er legt Salami, Wurst, Käse und Müsli, Waffeln ohne Milch in ein Schälchen und isst dann ein Stück nach dem anderen daraus. Dann zieht er sich seine Kopfhörer auf und hört Musik, den Körper dreht er vom Vater weg. Nach 15 Minuten drängt der Vater zum Aufbruch. Beide satteln die kleinen etwas schäbigen Rücksäcke und verschwinden. Der Sohn lässt sein Frühstücksgeschirr stehen.

Zwei andere junge dicke Männer mit schwarzen Haaren kommen und leeren das Rührei, außerdem isst jeder zwei hartgekochte Eier, zehn Scheiben Schinken, Käse und vier Brötchen. Die beiden erinnern mich an den Armenier aus der ersten Nacht in Marseille: den Taxifahrer. Die Belegschaft des Zuges von gestern kommt. Der grauhaarige Schaffner hat das Hemd noch nicht in der Hose, die Blonde ist schon startklar.

Wir müssen nur die Straße queren, um zum Bahnhof zu gelangen. Das Gewitter hat aufgehört.

Stunden später „Mannheim“, dann Frankfurt. Vor Mannheim auch einiges. Die Landschaft wechselt und wird immer deutscher. Die Landschaft und die Häuser. So geschmacklos wie die Deutschen baut wohl niemand in Europa. Aber das macht nichts: Es muss ja einen Grund geben zu reisen.

17.8.22

Auf der Seite der Barbaren und Tiere stehen zu müssen in den Augen eines großen Denkers unserer Kulturgeschichte, ist kränkend. Es ist eine Kränkung, die ich bereits kenne, da ich als Frau, die 1966 geboren wurde, in den 70er bis 90er Jahren einiges erleben durfte, das kränkend war. Herabsetzung, Spöttereien, Ignoranz, Beleidigungen ganz zu schweigen von körperlichen und verbalen Zudringlichkeiten: das alles gehörte gewissermaßen zum normalen Alltag einer jungen Frau in Deutschland. Freunde, Schulkameraden, Fahrlehrer, Lehrer und Professoren, Workshopleiter, Sportsfreunde, Bekanntschaften – immer wieder wurde ich befingert, angegrapscht, in zweifelhafter Weise beurteilt, mir wurden zweifelhafte Komplimente gemacht oder mir wurde wenig zugetraut, ich wurde übersehen und in Gesprächen nicht angesprochen, nicht zitiert, nicht berücksichtigt. Ich bin eine Intellektuelle und war und bin immer viel mit Menschen zusammen, die gebildet sind und meinen, sehr reflektiert zu sein. Gleichwohl gehören diese Erfahrungen wahrscheinlich nicht nur zu meinem weiblichen Leben in den 80er und 90er Jahren, sondern auch zu anderen Frauenleben. Die 70er Jahre in der Provinz waren noch schlimmer.

Es gehört zu meinem Leben als Frau dazu, dass ich doppelt hartnäckig, besonders vorwitzig, außergewöhnlich selbstbewusst mein Ding machen und das eine oder andere Mal auch sehr bestimmt „nein“ oder „ich mache das selbst“ sagen muss. Es gehört auch zu meinem Leben als Frau dazu, dass es dann auch ging und ich mich meist durchsetzen kann. Es hat mir geholfen, mein eigenes Leben als Teil eines feministischen Kampfes in einer patriarchalichen Gesellschaft zu verstehen.

Die Dinge haben sich durchaus etwas gewandelt. Einem Fahrlehrer, der seine Hand auf die Knie einer jungen Frau legt und den Arm um ihre Schultern, würde man heute vermutlich schnell die Lizenz entziehen. Gleichwohl erscheint es auch heute noch notwendig, die Texte eines Museums daraufhin zu betrachten, ob sie die Kulturgeschichte kritisch darstellen. Die rechte und gerechte Behandlung von Tieren, Frauen und Barbaren ist in der Kulturgeschichte Europas keine Kleinigkeit.

16.8.22

Heute ist das Archäologische Museum dran. Wir erfahren einiges über die spanische Vor- und Frühgeschichte und die römischen und griechischen Einflüsse und den Einfluss der spanischen Archäologie auf die ägyptischen und nubischen Ausgrabungen. Ein Thema, mit dem ich mich bisher noch nicht beschäftigte. Spanien hat zum Dank dafür, dass es Ägypten geholfen hat, die Ausgrabungen am Nil ordentlich durchzuführen, Objekte und Tempel geschenkt bekommen, die jetzt in Madrid stehen. Einen davon wollen wir uns heute Abend noch ansehen. Leider ist die Rekonstruktion der Höhle von Altamira geschlossen. Die habe ich mir schon einmal nicht ansehen können und hätte sie gerne gesehen.

Kolonialmacht scheint Spanien nie gewesen zu sein, darüber erfährt man jedenfalls leider nichts. Zweimal „leider“, aber es war trotzdem interessant. Ich habe unter Protest dann nach drei Stunden das Museum verlassen, weil im Teil des Museums, der den griechischen Einfluss auf die Kultur Spaniens zeigte, ein Zitat von Diogenes ausgestellt war: Er danke der Vorhersehung, der Vorherbestimmung, dass er ein Mann und kein Tier, männlich und keine Frau, ein Grieche und kein Barbar geworden sei.

Ich danke der Vorhersehung oder der Vorherbestimmung dafür, dass ich Mitgefühl entwickelt habe und mit einem scharfen Verstand ausgestattet bin, um mir alle menschlichen Zustände vorstellen zu können und auch den größten Schwachsinn noch kontextualisieren zu können (wenn ich möchte).

15.8.22

Am gestrigen Morgen schauten wir auf den Kalender und stellen erstaunt fest, dass es schon Montag ist und nicht erst Sonntag. In Madrid hatten wir vorgestern nicht bemerkt, dass es Sonntag war: alle Geschäfte waren geöffnet, es war ein Menge am Abend los und wir waren einkaufen.

Am Montag also der Schreck, dass es bereits Montag ist und nicht Sonntag.

Wir hatten uns verkalkuliert und konnten nicht ins Archäologische Museum gehen, da die meisten Museen montags geschlossen sind. Also schlawenzelten wir ein bisschen durch die Gegend und blieben an einem schönen Text an einer Hauswand stehen, bei dem wir verweilten, bis wir ihn übersetzt hatten. Es ging um die Architektur einer Stadt, die Hüllen sind, die verhindern, dass man wirklich an die Haut kommt, die man berühren, kratzen und lecken können muss. Es war sehr metaphorisch, der Vergleich zu einem Schuh in einem Schuhkarton wurde gezogen und wie der Fuß uns trägt im Leben. Leider fehlte der Verfassername und es war der eine oder andere Buchstabe abgeblättert.

Die Übersetzungsarbeit beflügelte uns, so dass wir in den Park spazierten und einen schönen, erhabenen, funktionsfähigen Kristallpalast bestaunten und begingen, in dem eine Ausstellung von einem Raumkünstler, Carlos Bunga, war. Eine Chinesin wurde dabei erwischt, wie sie die Papppfeiler mit den Fuß bewegen wollte und bekam geschimpft. Hat man etwa in China keinen Respekt vor Kunst? Ich will nicht zu schnell urteilen, es kann auch eine Taiwaneserin gewesen sein oder eine Amerikanerin, die nur Chinesisch sprach. Ich behielt sie im Auge. Sie hatte aber ihre Lektion gelernt und ließ sich später sogar vor dem Papphaus in dem Glaspalast fotografieren. Mir gefiel die Installation: Pappe in Glas macht sich gut. Ich hatte nicht den Impuls, etwas aufzuräumen, bekam aber Lust, selbst mal wieder ein Papphaus zu bauen.

14.8.22

Es gibt oben auf dem Dach eine Cocktailbar und einen Swimmingpool. In dem zwei Meter mal drei Meter Becken stehen zwei junge Kerle und schauen auf ihr Handy. Auf den Liegen liegen fünf junge Männer und schauen gelangweilt auf ihr Handy.

13.8.22

Diese ersten Stunden des Tages sind verzaubert. Noch nichts dreht sich, noch ist kein Kaffee getrunken. Es ist, als wäre noch alles möglich. Die Sonne ist noch nicht oben am Himmel, es muss sich nichts entscheiden, wenn Tau auf unserer Wiese im Garten jemals läge, läge er jetzt. Meist ist es noch kühl, die Schweißporen arbeiten nicht. Ich sitze im Bett und denke, betrachte und schreibe. Hier kräht der Hahn oder zwei oder drei. Der Morgennebel steht über dem Tal, Spanien sieht man nicht. Ein Rabe krächzt. Ist es ein Krabat?

Wenn dieser Moment zuende geht, werden wir schwimmen gehen, uns von Isabel, unserer Quinta-Besitzerin verabschieden und noch ein bisschen mit ihr über den Massentourismus in Porto schimpfen und sie wird uns über die Zerreißprobe in ihrer Familie berichten, ein Leben auf dem Land als Besitzerin eines kleinen Anwesens, auf dem man Urlaub machen kann und ein Leben in der Stadt als Architektin gleichermaßen zu führen. Danach werden wir entspannt ins Auto steigen, weil wir viel Zeit haben, um nach Santiago zum Bahnhof zu kommen. Im Auto kurz vor der Grenze wird uns einfallen, dass die Uhren in Spanien anders gehen und wir bereits eine Stunde weiter sind. Wir werden nahezu schweigend und konzentriert nach Santiago düsen und noch pünktlich ankommen. Nur getankt werden wir nicht mehr haben.

Am Abend kommen wir in Madrid Charmatin an. Und als wir mit dem Taxi durch die einigermaßen leeren Straßen fahren und in die Gran Via einbiegen, ahne ich, dass ich nicht vorbereitet bin auf diese Stadt. Ich bin noch gedanklich, emotional in der Provinz. Die Gebäude sind groß, schön und verziert mit Stuck und Ornamenten, sie tragen Galionsfiguren auf dem Dach, sie sind geschwungen oder abgerundet, kastenförmig oder nach oben strebend, aber immer sagen sie: Sieh mich an und verneige dich vor mir! Im Hotel beziehen wir eine sehr enge, bunte Schlaf-Dusch-Toilettennische. Wenn man aus dem Fenster schaut, schauen wir in eine enge Straßenschlucht nach unten, nach oben sehen wir über die Dächer. Ich bin so klein und hässlich wie eine Ameise.

Die Anzeigentafeln an den Kinos sind riesig, die Eingänge bombastisch, die Häuserschluchten überwältigend, alles ist einigermaßen sauber. Ich kniee vor dieser Stadt nieder und brauche bis nach dem Abendessen in einem kleinen Restaurant, das vorzüglich kocht, bis ich mich an den Pomp gewöhnt habe.

12.8.22

Man kann einen Weg auf verschiedene Weisen gehen und lesen. Man kann ihn gehen und bezeichnen, was man sieht. Man kann den Weg gehen und beschreiben, was man empfindet, wenn man ihn geht. Aus der freilaufenden Ziege wird ein Wolf, vor dem ich mich erschrecke, aus den Wurzeln werden Schlingen, die mich festzuhalten versuchen, aus den Resten einer Befestigung werden zerstörte Brücken, die Portugal und Spanien in früheren Zeiten verbanden. Der Weg am Fluss Minho wird zum Gedicht, zum Märchen, zur Geschichte. Und es ergeben sich andere Erfahrungen. Ich gebe zu, ich bin doch ein bisschen romantisch in meinem Verständnis von Wirklichkeit. Aber es ist einfach viel anregender, wenn man wechseln kann zwischen verschiedenen Wirklichkeiten und nicht nur in einer verhaftet ist. Es ist der Reichtum des Phantasievollen.

11.8.22

Wir wechseln Kulturkritik mit Naturerlebnis ab. An diesem Donnerstag fahren wir weiter in das Naturschutzgebiet hinein: Peneda-Geres. Wir wollen noch einmal ein Stück wandern. Allerdings finden wir uns auf dem Berg nicht zurecht. Der erste Wanderweg führt ins Nichts. Der zweite Versuch führt uns über eine sehr staubige und sonnige Schotterpiste hinter den Rindern her. Die Aussicht ist bestechend und grandios, aber die Sonne ist gnadenlos. Wir trotten den Kühen also hinterher und kommen tatsächlich an einer Wildpferdeherde vorbei. Ein wunderbares Wort mit vier e. Ansonsten gibt es da oben aber nicht viel, etliche Bremsen haben es auf uns abgesehen und wir drehen um. Auf dem Rückweg rasten wir an einem Flüsschen und baden. Man kann sogar schwimmen und Franzosen beobachten. Von denen gibt es hier reichlich. Am Abend schauen wir eine Dokumentation über die Technikbastler aus Silicon Valley. Die Porträtierten haben offenbar gar keinen Zugang zu den unmittelbaren Problemen der Menschen und den Menschheitsproblemen, die sich aus Armut, Ungleichverteilung und Wasserknappheit ergibt. Da bastelt man an unbemannten Lufttaxis, anstatt etwas gegen die unmittelbare Erderwärmung zu tun. Da schießt jemand ins All, anstatt die verhungernden Kinder mit selbstangebauten Lebensmitteln zu versorgen. Diese gequirlte Kacke ist nicht zu ertragen. Und die militärisch-technische Macht, die in den Händen Weniger liegt, erst recht nicht zu akzeptieren, so mein Mann. Ich gebe ihm recht.

10.8.22

Vielleicht wünschen sich die Menschen immer in die Zeit ihres Lebens zurück, in der sie unbeschwert waren, wenn sie es einmal waren, in der sie aufgehoben und geliebt waren, in der es vielleicht das Dunkle und die Gefahr gab, dies aber eingewickelt in ein Papier war, das Märchen oder Geschichten hieß und die Erwachsenen das Paket mit dem gefährlichen Inhalt hüteten. Für mich sind es die ersten fünf Jahre meines Lebens, die ich im Gedanken, in meinen Nacht- und Tagträumen immer wieder aufsuche. Die ruhigen Nächte, in denen es ein sicheres Zusammensein im Haus und eine faszinierende und gefährliche Welt da draußen gab. Meine Eltern waren die Wärter an der Pforte, die nur einließen, was gut war. Später bekam diese Geborgenheit Risse, bis sie sich auflöste. Irgendwann muss man begreifen, dass man selbst für die Geborgenheit zuständig ist. Auch für die, die man sich selbst gibt.

Diese Zeit des Beisammenseins von Klein und Groß fasziniert mich auch in meinem erwachsenen Berufsleben. Ich beschäftige mich mit dem Kleinkind und seiner Entwicklung. Als Mutter waren diese ersten Jahre zwischen Palmengarten, Büro, Forschungsarbeit und Kind besonders aufregend und auch beglückend für mich. Da ich zwei Kinder habe, hatte ich zweimal das Glück, Mutter eines Kleinkindes und eines Kindergartenkindes zu sein. Die Tage, besonders die Nachmittage dehnten sich. Weil man so sehr beschäftigt ist mit einem Ast, der in eine Mauerritze gesteckt wird, mit einem Igel, der über die Wiese läuft oder mit dem Sandkuchen backen, vergeht die Zeit nicht. Sie bleibt einfach stehen. Allerdings ist sie gleichwohl irgendwann um und der Abend kommt mit Essen und Vorlesen. Ich mag Kinderbücher, weil sie oft lustig sind und sich mit Fragen beschäftigen, die mich immer interessiert haben: Woher kommt der Wind? Wie geht es einem Hund, der zum Menschen wird? Welche Zaubersprüche sind die mächtigsten? Gibt es wirklich Riesen, die Kinder fressen? Und: Wie entkommt man ihnen?

Am Frühstückstisch könnte ich lange die Interaktion zwischen den Eltern und einem Kleinkind am Tisch beobachten. Wie es die Schnute verzieht und nicht mehr essen mag, wie neugierig es dem Vater hinterherschaut, wie es mit der Mutter flirtet. Voller Bedürfnisse und Lust auf Leben. Sie packen nach allem, was ihnen Geschmack verspricht und verschmähen, was ihnen nicht schmeckt. Wenn die Eltern etwas essen, was sie selbst haben mögen, fangen sie an zu nörgeln. Zu stehen, sich dorthin zu bewegen, wo etwas Spannendes passiert, etwas auszuprobieren, zu beobachten, die Aufmerksamkeit der Eltern zu ergattern, das scheint bei allen Kindern ein echter Drang. Man erkennt schon die Sprache, in der sie sich bewegen werden.

Wir verbringen den Tag in Porto, in einer Portweinfabrikation und in den Gassen der Stadt. Porto lässt gerade sanieren. Aus abgerammelten ehemals schönen Häusern, in denen Portugiesen wohnten, werden putzfeine schöne Apartmenthäuser. Wo sollen denn die portugiesischen Familien wohnen? Wer hält die kapitalistischen Riesen auf, die nicht nur Kinder fressen?

9.8.22

Diese ersten Stunden des Tages sind verzaubert. Noch nichts dreht sich, noch ist kein Kaffee getrunken. Es ist, als wäre noch alles möglich. Die Sonne ist noch nicht oben am Himmel, es muss sich nichts entscheiden, wenn Tau auf unserer Wiese im Garten jemals läge, läge er jetzt. Meist ist es noch kühl, die Schweißporen arbeiten nicht. Ich sitze im Bett und denke, betrachte und schreibe. Hier kräht der Hahn oder zwei oder drei. Der Morgennebel steht über dem Tal, Spanien sieht man nicht. Ein Rabe krächzt. Ist es ein Krabat?

Heute nehmen wir uns eine Wanderung vor. Wir fahren nach Sistelo und wandern von dort aus los: Trilho de Glacier e tre Voz. Wir wandern einen sehr steilen und sonnigen Weg hinauf. Ich ziehe meine Unterhose aus und lüpfe meinen Rock. Es ist ein herrliches Gefühl, so frei auf dem Berg zu stehen. Wir gehen bis auf die Höhe, verlaufen uns mindestens dreimal und finden wieder zurück. Unter drei Kiefern essen wir Käse und Brot. Auf dem Berg mache ich Bekanntschaft mit einem Cachena-Rind. Es hat sehr lange Hörner, ist ein bisschen kleiner als ein mitteleuropäisches Vieh und sehr genügsam und friedlich. Es schnuppert mir die Hand. Am Nachmittag sind wir erschöpft von der Hitze und entscheiden, ein Stück die Landstraße zurückzulaufen, als ich ein Bächlein am Straßenrand plätschern sehe. Wir springen über das Mäuerchen und ziehen uns aus und strecken uns abwechselnd nackig unter das Bächlein. Für zwei ist da kein Platz. Von der Straße aus sind wir nicht zu sehen. Etwas weiter oben im Wald finden wir einen Gumpen, in den wir uns legen können und jetzt so erfrischt und abgekühlt sind, dass es eine helle Freude ist, weiter zu wandern. Es ist unter und im Wasser eine solche Lust, die eiskalte Haut zu spüren, dass ich mir kaum etwas Schöneres vorstellen kann. Ein Handtuch braucht es nicht, die Haut trocknet an der Luft.

Bis Sistelo sind wir wieder bekleidet. Man sieht uns das Vergnügen wahrscheinlich nicht an.

8.8.22

Die Zunge des zarten Sandes zieht sich entlang des kleinen Städtchens und weiter kilometerlang an den Dünen entlang und bis in sie hinein. Die Strandzunge wird hier zur Landschaft. Es ist der Atlantik, der hier den Sand bewegt, Vorsicht ist geboten. Es wird schnell tief im Wasser. Ich liebe den Atlantik. Ich kriege mich kaum ein vor Glück. Das Wasser ist heute wegen des bedeckten Himmels graugrün und dunkel. Nicht allzu wild, aber wild genug.

Auf der Rückfahrt machen wir in Valenca halt und essen ein Eis. In den engen Gassen des militärischen Forts werden hauptsächlich Matratzen, Bettwäsche, Handtücher und Bademäntel verkauft. In jedem Laden Bademäntel. Von den riesigen und doppelten Mauern aus kann man in alle Richtungen sehen, auch weit nach Spanien. Vielleicht brauchen die Bademäntel?

7.8.22

Der erste Tag hier, also spazieren wir los.

Wir finden eine verlassene Vinagre-Bar, lernen Bäume kennen oder finden welche wieder, die wir länger nicht gesehen haben: die falsche Mimose, die Esskastanie, der Eukalyptusbaum.

Mathias bestimmt Bäume und Sträucher mit einer App. Er sammelt Pflanzen. Der Schweiß rinnt den Rücken hinunter. Aber das macht nichts.

6.8.22

Wir verlassen Galizien, die Fehlplanungen und sanften Hügel, die kernigen Berge und machen fahrend einen Abstecher nach Vigo, das wir durchfahrenderweise interessant finden. Nach Portugal kommt man über eine Brücke über den Minho. Die Uhrzeit ändert sich. Hier haben wir also ein Apartment, das wie ein Hotel funktioniert. Es ist eine Quinta mit Weinfeldern in einem alten Haus. Es wird bewirtschaftet von einer jungen Frau und ihrer Mutter. Es gibt auch noch zwei kleine Kinder und einen Mann. Isabel sagt, sie wohne eigentlich in Porto, aber offenbar verbringt sie momentan ihre Zeit auf dem Anwesen. Die ganze Gegend ist ein Weinanbaugebiet, mit einem so herrlich sonnigen Wein, dass man nur noch Wein trinken mag.

Manchmal stimmen die Erwartungen mit der Realität überein, manchmal nicht. Diesmal: Bingo! Die Einrichtung ist entzückend: In der Küche die blau-weißen Kacheln umgeben vom dunklen Holz. Auf dem Boden eine rostbraune Kachel, sehr schön, sehr erden. Wir verbringen den Rest des Tages lesend am Pool und gehen erst in der Dämmerung wieder spazieren. Die Hunde kläffen uns an. Manche beginnen sofort zu bellen, kaum nähert man sich dem Grundstück. Andere betrachten uns und beginnen erst Töne zu spucken, wenn wir ein paar Schritte weiter sind. Einer erschrickt sich, als er uns sieht und beginnt zu kläffen. Er ist mir sympathisch. Die Matratze ist zu hart. Mein Rücken rebelliert. Aber wir können das Fenster die ganze Nacht offen stehen lassen, die Hähne krähen, sie scheinen vergessen zu haben, wann die Dämmerung beginnt.

Die Realität besteht aus allen diesen kleinen Details. Die Wirklichkeit besteht aus dem Zusammenhang aller dieser Details. Wenn der Zusammenhang bedeutsam ist, wird es wirklich.

5.8.22

Das Frühstück in unserer neuen Unterkunft bietet viel Obst. Wunderbar. Dann holen wir das Auto. Es ist ein Jeep. Ich hasse Jeeps. Ich hatte einen Fiat Punto oder etwas Vergleichbares bestellt. Gibt es denn überhaupt noch Fiat Puntos? Gibt es noch Kleinwagen? Nein, es gibt nur noch die sch* f* w* Tonnenbrocken, die die Straßen verstopfen. Allerdings passt jetzt unser Hotel zum Fahrgerät. Wir stellen den Jeep unter unser Schlafzimmer. Unser Hotel ist ein Autohotel. Jedes kleine Apartment ist so auf einen Carport gebaut, dass man durch die Garage in das Apartment kommt. Das Hotel liegt konsequent zwischen Autobahnauffahrt und Schnellstraße etwas außerhalb. Außerdem fahren wir in die Ciuadad de cultura. Ein Großbauprojekt aus Marmor aus Brasilien in den wunderschönsten Farben orange, rostbraun, beige und weiß. Es ist eine riesige Anlage auf dem Hügel über der Stadt, die der Architekt Eisenmann entworfen hat, vielmehr sein Büro. Und wahrlich, es ist ein tolles Gelände. Mit begehbaren Dächern, verschiedenen Bauten und Ebenen. Die Farben vor dem blauen Himmel leuchten und man mag sofort den Ort, die vielen Orte dort oben bespielen. Die Gebäude ahmen die galizischen Hügel nach. Man kann dort Konzerte, Theater und Bibliotheken unterbringen. Leider steht fast alles leer, weil es doch irgendwie alles zu groß und zu weit weg vom Stadtzentrum ist und bisher nicht allzu viele Kulturinitiativen in den Komplex einziehen wollten. Der Unterhalt muss gigantische Summen verschlingen. Vielleicht ist die Ciudad de Cultura auch fehlgeplant, weil es in der Stadt selbst bereits ein Zentrum für Kunst und Kultur gibt. Es ist mitten in der Stadt, aus Granit und schmiegt sich ganz gut in das Altstadtviertel ein und beherbergt ein kleines, feines Museum für moderne Kunst. Das letztere ist von einem Sozialisten erdacht und gebaut worden, das erstere von einem Konservativen oder gar mehreren? Jetzt steht es da in seiner Pracht. Wir durften den Jeep bewegen. Dem Hotel weine ich keine Träne nach.

4.8.22

In Leon besuchten wir das Museum für Moderne Kunst. Noch so ein auffälliger Bau mit Glaskunst. Die Außenhaut ist in Regenbogenfarben. Wenn man von innen rausschaut, sieht man alles lila. Nicht schlecht. In einem der Räume werden gemalte Portraits von jungen Männern und in einem der Räume verschwommene Portraits von verschiedenen Menschen mit geschlossenen Augen gezeigt. Wenn man sich in den Raum mit den Portraits setzt, die wirken, als habe man die Brille nicht an, wird man nicht angeschaut. Aber alle Gesichter sind verschwommen dem Betrachter zugewandt. Unheimlich. In einem anderen Raum durfte man sich um eine Apparatur herum in einen Kreis mit Kissen setzen. Der Raum war ganz dunkel. Als alle saßen, hörte man eine kitschige Aufnahme von Satie, Gymnopedie und die Apparatur erzeugte bunte Lichtstrahlen nach der Melodie, die auf Trockeneis fielen. Ein bisschen wie früher im Easy in Limburg in der Disko. Ein Jahr lang fuhr ich fast jeden Samstag mit meinem damaligen Freund Kai dorthin. Er besaß einen roten Opel und eines Tages hatte er einen Kolbenfresser, dann war es aus mit dem Easy. Gymnopedie ist ein heiliges Lied für mich, ich konnte es einmal auf dem Klavier spielen und ich muss grundsätzlich weinen, wenn ich es höre, egal, ob es eine gute Interpretation ist oder nicht. Im Dunkeln mit Licht und Trockeneis hatte ich keine Chance. Ich heulte, was das Zeug hält.

Danach konnten mich junge Katzen im Hinterhof des Museums aufheitern. Wir saßen auch pünktlich in der Wartehalle des Bahnhofes, um unseren Zug nach Santiago de Compostela zu bekommen, der leider aber nicht pünktlich war, sondern verspätet. Der Zug holte es bis Ourense wieder auf, blieb dann wegen eines technischen Defekts eine Stunde liegen und holte die Zeit dann fast wieder ein. Auf die spanische Bahn lasse ich nichts mehr kommen. Auf die spanische Kunsterfahrung auch nichts.

3.8.22

Ich schlafe schlecht, träume: Dass ich ein Jahr in der Grundschule arbeiten muss, weil es zu wenig Lehrer an den Grundschulen gäbe, oder ich versuche, 400 Kinder zusammenzurufen, die selbstverständlich andere Interessen haben. Wenn ich gerade 100 beisammenhabe, strömen die ersten schon wieder weg. Träume können sehr gemein sein.

Die Sicherheitsmaßnahmen in Barcelona Sants sind ähnlich wie am Flughafen. Man durchleuchtet wieder die Rucksäcke, zeigt das Ticket bereits am Eingang zu den Gleisen hervor. Auf den Gleisen stehen die Züge bereit, keiner der Passagiere raucht, keiner lümmelt, keiner schmeißt weg.

Die Fahrt nach Leon mit dem Schnellzug war eisgekühlt. Der Himmel sei Dank müssen wir in Madrid umsteigen und fahren mit dem Taxi zu einem anderen Bahnhof, Madrid Charmatin, an dem der Zug nach Leon abfährt. Wir haben eine freundliche Taxifahrerin, die den Schulterblick macht und sich an alle Regeln hält. Sie ist jung, ihre Augen sind auffällig geschminkt und ihre Oberarme sind tätowiert. Sie erklärt uns, dass gerade das Stadion von Real Madrid umgebaut wird, an dem wir vorbeifahren. Ich würde gerne in jeder Stadt mindestens einmal Taxi fahren und nehme mir vor, besser auf Tatoos zu achten.

In Leon ist es 38 Grad und es gewittert.  Wir sind in der Altstadt in einem sehr schönen komfortablen Pilgerhotel untergebracht. Es steht an einem Platz, an dem an drei Ecken Cafes bzw. Tavernen sind. Mitten auf dem Platz steht ein Baum. Im Gewitter ziehen alle Kellner die Schirme und Stühle herein, der Wind fegt durch den Baum. Wir stehen am Fenster des Hotels und betrachten alles.

Die Kathedrale von Leon haut mich um: Jedes Fenster, wirklich jedes Fenster ist bunt ornamentiert verglast. Ganze Bilder sind mit Buntglas besetzt. Es leuchtet jede Seite, jede Ecke in dem großen Gebäude in einer anderen Farbe. Es ist wunderschön! Essen gibt es erst um 21 Uhr, vorher macht kein anständiges Restaurant auf. Wir setzen uns auf den Platz vor dem Hotel und wählen das naheliegende. Hier gibt es selbstgebrautes Bier – schmeckt wie Apfelwein – bei 38 Grad genau das richtige.

2.8.22

An diesem Tag haben wir uns doch etwas vorgenommen. Wir wollen ein paar Gaudi-Häuser abgehen und nach dem Stand der Sagrada Familia sehen. Als ich das letzte Mal in Barcelona war, gab es noch kein Mittelschiff.

Wir schlendern also wieder los. Spätestens ab dem Gaudihaus eins verflucht man den Moment, an dem man beschlossen hat, nach Barcelona zu fahren. Wir fotografieren den Balkon von unten und die wunderschönen Bänke auf der Straße, die tatsächlich einladend sind. An der Sagrada Familia das gleiche Gewimmel. Wir tigern einmal herum und setzen uns dann in eine gewöhnliche Bar, trinken eine Cola und ein Bier und beobachten die Menschen an den Nebentischen. Zwei Frauen mit einem sechs Monate altem Baby, die Bier trinken. Tätowierte junge Männer und Frauen, die laut diskutieren. Die Füße schwellen bei 36 Grad im Schatten. Ich nutze die Gelegenheit einer klimatisierten Modeboutique und kaufe mir zwei Hemdchen.

In einer der Markthäuser kaufen wir uns Salate und Baguette und verspeisen alles im Hotel. Am Nachmittag, als die Sonne immer noch gnadenlos brennt, steigen wir in den 150er Bus und fahren hoch zum Monjuic. Irgendwo steigen wir aus und suchen das Petra Kelly Denkmal. Weil wir darüber diskutieren, ob hier oben Pinien oder Kiefern stehen, laufen wir daran vorbei. Es sind Pinien. Das moosgleiche Erscheinungsbild verrät es. Der Petra Kelly-Teil des Gartens ist eine Metapher. Es stehen ein paar abgehalfterte Nutzfahrzeuge herum, die einmal richtig gut im Einsatz waren und die Zeit, die Nutzung und die Sonne waren einfach zu viel für die hervorragende Technik. Jetzt stehen sie hier. Am Ende finden wir das schöne kleine Denkmal doch und genau gegenüber steht ein Beuys-Stein. Am Abend ziehen wir uns den Film „Die Unbeugsamen“ und beamen uns zurück in die Zeit, als die Bundesrepublik noch jung war. Petra Kelly kam auch vor und eine beeindruckende Waltraud Schoppe, die sich nicht ins Bockshorn jagen lässt. Wie sie in der Rede im Bundestag ganz und rihig und sachlich die Vergewaltigung in der Ehe als Verbrechen anklagt, ist einfach toll. Mathias und ich freuen uns, dass es solche politischen Kämpferinnen gibt.

1.8.22

Die deutschen Fußballerinnen haben das Endspiel in der WM verloren. Wir haben unser Bestes gegeben und mitgefiebert. So brasilianisch habe ich lange niemanden mehr spielen sehen.

Wir steigen in Marseille St. Charles wieder den Zug, diesmal Richtung Barcelona.

Bis zur spanischen Grenze trägt außer uns keiner Maske. Dann die Durchsage an der spanischen Grenze und alle anderen Passagiere entknittern die Masken. Keiner sagt ein Wort. Es wird nicht gemotzt und geschimpft, es wird manierlich übergezogen. In Spanien wird im und vor dem Zug auf dem Bahnhof alles kontrolliert: die Fahrkarten, das Gepäck und die Mund-Nasenbedeckung. Auch wir mussten unseren großen Koffer öffnen und wurden fast unserer Küchenschere beraubt. Schließlich hielt man sie an ein Plakat mit scharfen Waffen und stellte fest, dass sie etwas kleiner war als gefährlich. An die Gleise darf nur, wer ein Billett vorzeigen kann. Es wird eingescannt. Die Gleise sind so sauber wie ein Playmobilgleis. Ich schwöre: man kann sich auf den Boden hocken und dort essen und steht sauberer auf als man sich hingesetzt hat.

Das Hotel in Barcelona lag diesmal recht nah am Bahnhof und wir konnten unsere Koffer dorthin schieben. Außerdem lag der Tag vor uns, da es erst halb eins war. Mathias wünschte sich, das Viertel San Antonio zu erkunden, in dem man nach einem Beteiligungsverfahren die Blocks verkehrsberuhigt hatte. Man hat die großen Kreuzungen für den Autoverkehr gesperrt oder verkleinert und Straßen gesperrt. Auf den gesperrten Flächen hat man Pflanzen, Sitzgelegenheiten und Spielgeräte aufgestellt. Zugleich haben fast alle Straßen Fahrrad- und Busspuren bekommen, es sind Spuren verjüngt worden. Das führt dazu, dass der Verkehr langsamer fließt und die Straße tatsächlich sehr beruhigt wirkt. Allerdings sind die Kreuzungen in Barcelona auch abgeschrägt. Die Häuserzeilen gehen nicht bis ganz zur Ecke, sondern hören früher auf, so dass jede Kreuzung eher wie ein Viereck aussieht. In diesem Viertel aßen wir eine Tortilla auf katalanisch. Danach verliefen wir uns in eine Banksy-Ausstellung.

Diese Art, sich zu bewegen, ist eine anstrengende, aber auch zugleich sehr entspannende. Man weiß nie genau, wo man herauskommt, es gibt keinen langen Plan, die Konzentration liegt bei dem, was vor mir liegt. Meist ist das spannend genug.

Die Metrofahrt ist ein Teil des Programms. In den Bahnen ist es schreiend hell und kalt. Bei Außentemperaturen von 35 Grad ist das erholsam.

31.7.22

Wir stiegen nach dem Frühstück die Treppen zur Notre Dame hinauf, die direkt an dem Hof unseres Hotels vorbeiführen. Welche schöne Anstrengung nach einem Tag im Zug, und die Belohnung war der Blick über Marseille, auf das Meer und einen großen Fußballplatz, den wir geschwind fotografierten und das Bild Tom schickten. Der Aufstieg war nicht anstrengend, oben trafen wir auf Horden von Besuchern, deshalb blieben wir nicht lang und ich mochte auch nicht hinein gehen. Wir stiegen also wieder ab und bewunderten die Herrenhäuser links und rechts entlang der breiten Avenue, querten den alten Hafen, um uns im Viertel „Panier“ ein bisschen umzusehen. In einigen Straßen haben die Bewohner Pflanzen und Sitzgelegenheiten vor die Tür gestellt, so dass die ganze Straße begrünt ist und zum Verweilen einlädt. Im Vieille Charité fanden wir ein Café, in dem wir einen griechischen Salat aßen und eine Cola tranken. Ich weiß nicht, warum ich bei über dreißig Grad plötzlich unstillbare List auf Coca Cola habe. Wie schon in Paris vor drei Jahren, haben wir auch in Marseille am Tor zum Vieille Charité unsere Taschen zeigen müssen. Es gibt eine Angst vor dem nächsten Anschlag. Eine neue europäische Angst im 21. Jahrhundert.

Am Nachmittag nahmen wir den Bus an den Plage du Prado, waren einigermaßen enttäuscht. Das Meer war wie immer herrlich, der Stand öde und voll.

Am Abend entdeckten wir ein nettes Restaurant am alten Hafen. Die vegetarischen Gerichte waren geschickt arrangiert und zubereitet, so dass wir mit Rotkohl, Kartoffeln und Nusscreme zufrieden und satt wurden. Der Franzose, der uns bediente, verriet, dass er vor vierzig Jahren einmal in Hannover und Hamburg gewesen sei, als junger Kerl und einen Satz sprach er auch Deutsch. Ich verriet, dass ich vor vierzig Jahren mit meinem Vater Marseille besucht hatte und ebenso viel Französisch spreche. Was ich auch mit einem Satz bewies.

30.7.22

Einmal Maoist, immer Maoist. Wer jetzt für Kernkraft plädiert, denkt offenbar immer noch in den Kategorien von Planbarkeit und Naturbeherrschung. Mein Liebster regt sich auf. Ich auch.

Eine lange, aber sehr entspannte Zugfahrt hat uns von diesen Debatten fortgetragen – mit dem TGV davon gerast.

In der Nacht kommen wir in Marseille an und fahren mit einem verrückten Armenier vom Bahnhof Sant Charles in unser Hotel. Ich habe in meinem Leben viele verrückte Taxifahrer erlebt. Dieser trägt selbstverständlich keine Maske, weil man nachts keine tragen muss. Er rast durch Marseille, am alten Hafen vorbei, die Straßen sind einigermaßen frei. Er lenkt mit einer Hand, denn mit der anderen telefoniert er, mal auf Französisch, mal auf Armenisch, wie er mir erklärt. Es geht um die Kinder und die Familie. Als wir im Viertel Endoume an einer Ecke vorbei kommen, in dem noch auf der Straße Musik gemacht wird, hält er kurz an und singt aus dem Fenster mit. Dann weiter zum Hotel.

Wir sind würdig in Südeuropa angekommen.

29.7.22

Nun, warum ist die Mainkurstraße so hässlich?

Die Mainkurstraße ist eine enge Straße ohne Bäume. Auf der rechten Seite, von der Bergerstraße aus kommend, geht man rechter Hand an der großen Apotheke, in der die Belegschaft unübersichtlich ist, einem Juwelier, in dem ich noch nie einen Kunden gesehen habe, obwohl er schöne Ringe im Schaufenster hat, einem schönen lateinamerikanisch angehauchten Café, einem Getränkeladen, in dem es süße Mixgetränke aus Plastikbechern gibt, dem alten Fritz: einem Restaurant, das von Herrn Hummel betrieben wird und der alles selbst machen scheint: bedienen, kochen…, an mehreren Hauseingängen, die zu Ärzten und Bewohnern führen, an einem Wein- und Whiskyladen, der sich mit seinen Sitzgelegenheiten über die letzten Jahre immer weiter über die Straße ausbreitet, an einer kleinen Spielhalle, einem Cevapcici Kiosk, der angeblich ein sehr gutes Cevapcici macht, an einem Massagesalon bis zum Wettbüro an der Ecke, an der immer junge und alte Männer stehen und palavern, vorbei. Ich bin immer froh, wenn ich an der Ecke bin, weil ich dann die Hundehaufen, halbgegessenen Cevapcici, Kotz- und Rotzflecken, die verlorenen Paprika- und Zwiebelstücke umschifft habe. Ich bin an der eingeschworenen Gemeinschaft der Wein- und Whiskytrinker vorbei gekommen, haben einen kurzen Blick in die Auslage des Juweliers gemacht, das schöne Café bewundert und mich über den Plastikgetränkeladen geärgert und die dicken Autos, die immer in der Ausfahrt quer zum Fußgängerweg stehen, weil sie bei laufendem Motor einen Grillspieß kaufen. Gegenüber ist eine Kneipe, die mittlerweile auch Bänke auf die Straße gestellt hat, ein Modelädchen mit bunten Kleidern und Taschen, ein bangladeshischer Pizzabäcker mit abgeroppter Marquise, zwei Kioske mit bunten Tüten, Chips und Bier im Fenster und ein Kinderbekleidungsgeschäftchen, miniklein. Auf der Höhe des Cevapcici-Ladens gibt es ein Tanzstudio.

Der hässliche Teil der Mainkur wird abgeschlossen vom „Lebensfreude pur“. Das ist eine Kneipe, in der man rauchen muss und nicht bezahlen darf, wenn man nicht mindestens vier Bier trinkt. Man kann auch draußen sitzen, das haben wir schon gemacht, die Chips holten wir vom Kiosk und den Alkohol vom Lebensfreude. Diese Ecke, Mainkur/Roßdorfer ist eine tolle Ecke. Es gibt Bäume, es gibt was zu sehen, es gibt Platz und nicht wahnsinnig viel Verkehr. Ein echter Geheimtipp.

Ich gebe zu, ich sitze am Abend gerne in der Mainkurstraße, auf der einen oder anderen Seite, weil hier einfach jeder, der von der Berger kommt und nach Osten möchte, vorbeimuss. Man hat also etwas zu schauen.

Die Mainkurstraße ist nicht hässlich. Sie ist unvermeidlich.

27.7.22

Ich ging hinter einem Mann her, die Mainkurstraße herunter, in Teilen die hässlichste Straße Frankfurts mit Spielhalle, Nagelstudio und Massagesalon – früher war genau das ein „Türke“, bei dem ich nach Ladenschluss nahezu alles bekam, das war noch bevor der TegGut aufmachte, der jetzt abgebrannt ist; wundert man sich, dass ich diesen Zeiten nachtrauere? – der Mann trug kurze Hosen, schmal, nicht allzu groß, Brille, vielleicht vierzig Jahre, vielleicht auch 38. Uns kam ein Pärchen entgegen, Mann und Frau etwa im selben Alter wie mein Vorgänger, der schob einen Kinderwagen, sie lief ein paar Schritte vor dem Wagen. Das Kind war vielleicht drei oder vier Jahre und saß friedlich und zufrieden in dem Wagen. Auch dieser Mann trug kurze Hosen – es ist warm – er hatte eine Glatze oder das, was heute in urbanen Kreisen nicht als Glatze, denn als Frisur durchgeht. Tätowiert war er auch, eher ein moderne Großstadttyp. Im Vorbeigehen, ohne stehen zu bleiben, sagte der Mann vor mir zu dem entgegenkommenden Mann:

„Hey, wie geht es?“

„Gut, danke und selbst?“

„Auch gut! Was macht ihr morgen?“, er machte einen kleinen Ausfallschritt, weil das Paar und der Mann auf meiner Seite gerade aneinander vorbeizogen,

 „Sterben!“ rief der Vater, mittlerweile war er auf meiner Höhe und schrie es seinem Kumpel hinterher.

„Oh nein!“, antwortete der ebenso schreiend, allerdings decrescendo, „ihr habt doch in Kind. Ich könnte das sagen, aber ich will noch nicht!“

Die beiden letzten Worte hörte nur ich. In diesem Moment sang jemand schief und aus voller Überzeugung aus dem Fenster über die ganze hässliche Mainkurstraße hinweg: „Völlig losgelöst, von der Erde schwebt das Raumschiff, völlig schwerelos…“. Der Mann vor mir stimmte mit ein und auch ich konnte nicht anders als mitzusingen. Wahrscheinlich sang auch das sterbende Pärchen, das mittlerweile die Straße hochgezogen war, und die Mainkurstraße war einmal schön.

26.7.22

Gedicht: Besser

Pest oder Cholera,

Herzinfarkt oder Tripper,

Grippe oder Covid,

Mandelentzündung oder Magen-Darm,

Borreliose oder FSME,

Gelbsucht oder AIDS,

Asthma oder Rücken,

Belastungssyndrom oder Nervenzusammenbruch,

Depression oder Borderline,

Alkoholismus oder Magersucht.

Mir geht es gleich viel besser.

21.7.22

Endlich der ersehnte Sommerregen gestern Abend. Hoffentlich flutet jetzt nicht irgendwo wieder die halbe Stadt oder Gegend weg, sonst kann ein warmer, gut duftender Regen auch keine Wohltat mehr sein. In die Nacht hinein das Wasser.

Im Moment sitze ich tagsüber zwischen gepackten Kisten und versuche den Überblick zu behalten. Die Schule zieht endlich in den Neubau, der ihr zugedacht ist. Zwischen Packen, Elternbriefe schreiben, Newsletter vorbereiten, Einsatzplanung fertigen und Personal rekrutieren erhalte ich die Nachricht, dass meine Mutter ins Krankenhaus müsse, weil sie etwas „am Herzen“ habe. Mathias und ich fahren in die Provinzkurstadt, um das Auto meiner Mutter zu holen, packen ihr zwei Taschen und kommen am Nachmittag am Krankenhaus in der Landeshauptstadt an. Dort darf ich nur hinein, wenn ich einen aktuellen negativen Covidtest nachweisen kann. Sinnvoll und richtig, also mache ich das. Während wir warten, essen wir ein Eis, denn die Straßen haben die Sonne getankt, es ist 37 Grad und das Wetter wunderschön. Ich bin negativ und darf auf die Station. Aber auf der Station ist sie noch nicht, sie muss noch in der Notaufnahme sein. Ich lasse die Taschen im Zimmer und suche die Notaufnahme. Dort darf ich nicht eintreten. Auch verständlich und sinnvoll. Eine sehr entschiedene und sehr genervte Frau offenbart mir, dass meine Mutter „positiv“ sei. Ich weiß gar nichts damit anzufangen. Kann man nach zweieinhalb Jahren Corona noch so auf dem Schlauch stehen? Ich war gedanklich beim Herzen und dachte, das sei eine gute Nachricht: „positiv“. Schön, danke. Die Untersuchungen ziehen sich bis in den späten Abend hin, Mathias und ich fahren wieder nach Hause, nachdem ich die Taschen von der Station an die Rezeption gebracht hatte. Am Ende wird sie nach Hause entlassen und muss nochmal fünf Tage in Quarantäne. Den Abend über parallel zum Regen fragen wir uns mit unseren Freunden, die zu Besuch sind, wo all‘ die Menschen hin sind, die in den verschiedenen Berufen gesucht werden? Warum gibt es immer noch zu wenig Krankenhaus- und Pflegepersonal? Wieso fehlt auf dem Flughafen soviel Personal? Wo sind die Lehrer hin? Wo sind die Handwerker? Die Fachverkäufer? Die Bedienungen? Die Psychotherapeuten? Wächst Frankfurt nicht und ziehen nicht immer mehr Leute in das Rhein Main-Gebiet? Kann mir das jemand erklären?

18.7.22

Das Wetter ist schön hat heute einen ganz anderen Anklang. Bisher leuchteten meine Augen und ich sah oder imaginierte die Sonne über den Weizen gleiten. Der Himmel ist hell- bis dunkelblau und das Grün der Bäume strahlt darunter. Es ist Sommer und schön warm. Ich kann im Gras liegen (wenn ich mich am Abend nach Zecken abschaue) und in mein Notizbuch schreiben oder einfach nur die Käfer beobachten, die einen Grashalm hochklettern. Ist im leichten Wind, der mir die Haare durchstreift, für einen Käfer zuweilen ein tagesfüllendes Vorhaben. Das Wetter ist schön hat aber seit ein paar Jahren einen anderen Anklang: Dürre, Hitze, Wassernotstand, absterbende Bäume. Im Garten wieder Vögel mit aufgesperrten Schnäbeln. Ich fülle jeden Morgen das Playmobilbad neu auf. Das Unterteil des Piratenbootes, das bis vor 15 Jahren auf den Weltmeeren der Phantasie segelte und auf der die einbeinige und zerrupfte Besatzung den Reichen das Gold abnahm und den Armen schenkte. Die Plastikspielzeugindustrie lebe hoch! Ein Garten bei schönem Wetter und die entsprechende Playmobilausstattung war ein geglückter Nachmittag in der Hängematte mit Buch oder Laptop für mich. Von Zeit zu Zeit musste ich schauen („Mama, guck mal“), wie die Weltmeere bevölkert werden und welche waghalsigen Wohnstätten man baute, dann wieder ein Kapitel weiter in meiner Welt. Ganze Romane sind so entstanden. Ich war Teil der Piratenwelt und meiner eigenen und der des Gartens. Ein wahrer Segen für die Phantasie. Jetzt also Dürre und Wassermangel. In der Hitze bewege ich mich langsam. Am besten, ich verziehe mich unter das Laub, das der Baum den Sommer über abwirft. Der Nachbar hat die Mauer zu unserem Grundstück auch wieder geschlossen, so gibt es jetzt wieder einen sicheren Streifen Schatten.

14.7.22

Auch gestern Abend noch keinen Trinkjoghurt. Stattdessen: Tomaten aus dem Garten. Allerdings bedroht der fehlende Regen die Ernte erheblich. Im letzten Jahr um diese Zeit wurden Häuser weggerissen, weil es so viel regnete, in diesem Jahr haben wir jeden Tag hitzefrei. Ich gieße meine Bohnen heimlich.

11.7.22

Was sprach ich? Jenseits des Ahorns drohen Omikron, Pest, Trockenheit und der Tod?

Schlimmer: Unser Tegut um die Ecke brannte. Der Rauch stieg auf, die Feuerwehr kam – ich sah es nur in einem sogenannten Reel. Ein „Reel“ ist ein kurzer Videoclip, der mit Musik unterlegt wird. Warum das „Reel“ genannt wird und nicht Videoclip, weiß ich nicht. Wahrscheinlich weil der Begriff „Videoclip“ aus den 80ern ist. Der Begriff „Reel“ ist neu und kommt aus Insta. Insta ist ja auch noch nicht so alt. Aber das eigentlich Schlimme ist nicht das neue Wort, sondern der Brand im Tegut. Unser Tegut um die Ecke ist sehr klein und auch nicht sehr komfortabel, aber es ist meine Hinterstube zur Küche. „Kannst du mal schnell noch zwei Eier beim Tegut holen?“ „Wir haben keine Chips mehr, kannst du welche bei Tegut holen?“ Chips gibt es auch beim Kiosk, der standesgemäß von einer Pakistanerin oder Bangladescherin geführt wird. Das Wort „Bangladescher“ habe ich selbstverständlich nachgesehen.

Da ich nur noch Chips aus der Papiertüte und am liebsten die aus drei verschiedenen Gemüsen esse, ist der Tegut erste Wahl. Beim Kiosk um die Ecke gibt es auch fast alles, was es beim Tegut gibt, aber erstens ist es viel teurer und zweitens kann ich beim Tegut an der Ware vorbei gehen und mir genau ansehen, welche Sorte ich möchte. Es gibt nämlich im Kapitalismus immer von allem mindestens vier Sorten. Es wird viel Wert auf den individuellen Geschmack gelegt. „Geschmack“ ist auch so ein Wort, mit dem man sich wieder einmal beschäftigen sollte. Ich als Adornoschülerin habe dazu eine kritische Haltung: „die Emanzipation der Kunst von den Erzeugnissen der Küche oder der Pornographie ist irrevokabel“. Irrevokabel bedeutet, dass man es nicht widerrufen kann. Emanzipation ist ja guterdings nie wiederrufbar. Wenn man mal emanzipiert ist, gibt es keinen Weg zurück. Das ist wie „Lesenlernen“. Nie mehr spüre ich, wie es ist, nicht lesen zu können. Man muss lesen, wenn man Schrift sieht. Für eine Adornoschülerin bin ich übrigens zu jung. Aber ich wäre es gerne gewesen.

Der Tegut brannte also, das sah ich in dem Reel, das mein Sohn gepostet hatte. Wahrscheinlich hatte er das aus einer Laune sentimentalen Lokalpatriotismus‘ heraus geteilt, denn er lebt ja gar nicht mehr in Bornheim um die Ecke, sondern an der Konstablerwache um die Ecke. Da findet er andere Teguts oder Kioske oder Leute, die einem etwas verkaufen. Hoffentlich ist der Tegut rechtzeitig gelöscht worden, der Brand im Tegut rechtzeitig gelöscht worden. Die Musik des Reels deutete das an.

Mein Kummer gilt den Angestellten des Teguts und den Kunden. Also auch mir selbst. Wo soll ich nun meinen Trinkjoghurt kurz vor Feierabend holen? Mango und Himbeere. Ich mag nur den aus dem Tegut. Vielleicht gleite ich mit diesem Geschmack aber auch bereits in die Küche oder die Pornographie ab.

Ich wäre wirklich sehr unglücklich, wenn der kleine Tegut, der nicht besonders komfortabel ist und auch nicht viel mehr als der Kiosk bereithält, aber mindestens immer noch zwei Sorten von allem, jetzt nach einem solchen Brand dichtmachte. Ich meine, der Einzelhandel sollte aus dem Bereich der Gewinnmaximierung herausgenommen werden. Es gibt doch ein gesellschaftliches Interesse am Ei oder Trinkjoghurt nach Feierabend. Mit der Kritik an der Warenvielfalt und dem Begriff „Warenvielfalt“ könnte ich doch auch wieder in einem Seminar zu Adorno zugelassen werden.

Über die Feuerwehr schreibe ich das nächste Mal, die ist auch toll.

10.7.22

Jetzt kreisen die drei Falken über dem sonnigen Garten. Unter dem Ahorn ist Schatten.  Er ist über die Jahre mächtig geworden. Wenn ich unter ihm stehe, dann fühle ich mich beschützt. Das Gefühl deckt sich nicht mit der Wirklichkeit, es darf kein Gewitter geben – allerdings sterben mehr Männer vom Blitz erschlagen als Frauen – es fallen kleine Tierchen herunter und die Vögel kacken mir auf die Bluse.

Nun, das mögen keine großen Gefahren sein. Aber lästig ist es schon. Unter so einem Ahorn mitten in Frankfurt bin ich sicherer als irgendwo in der Ukraine oder in Mali, Südafrika oder Mexiko City. Die Sicherheit geht aber nur einen winzigen Schritt. Im nächsten drohen Omikron, Pest, Trockenheit und Tod.

9.7.22

Ich lief über die Mainkurstraße und hörte in der Luft mehrere Schreie. Es kreisten drei Falken über den Dächern. Sicher war es ein Pärchen mit dem Jungtier. Eines war kleiner und noch nicht so weit oben. Ich beobachtete sie, wie sie sich vom Wind Richtung Osten wehen ließen.

5.7.22

Die Vögel staksen mit offenem Schnabel durch den Garten. Es ist ihnen zu heiß.

Es ist allen Lebewesen zu heiß. Der Po ist ausgetrocknet, das Meerwasser fließt zurück und lässt die Felder versalzen. Gegossen wird nur noch das notwendigste. Gurken, Tomaten, Bohnen – werden sie das überleben? Es gibt Menschen, die es nicht überleben, weil sie keinen Weizen mehr haben, kein Vieh mehr, kein Wasser finden. Wir bewegen uns auf dünnem Eis, hängen am seidenen Faden – wie gut diese Bilder beschreiben, wie empfindlich unser Dasein ist.

4.7.22

Nach Iggy Pop bin ich eigentlich innerlich stehengeblieben. Alles danach war weniger Rock. Obgleich ich auch gute Tage hatte: einen im Taunus, eine halbe Nacht im Garten, die Jungvögel beobachten, die mit ihrem Flaummantel von Ästchen zu Ästchen hüpfen und noch nicht genau wissen, welches Ästchen sie trägt. Die Kleinen hüpfen auch von Blumentopf zu Blumentopf. Ein Peperonisetzling ist mir bereits abhandengekommen, weil die Kleinen oder deren Eltern ihn herausgepickt haben müssen.

30.6.22

Ich war auf dem Iggy Pop Konzert in der Alten Oper. Ich hatte mir Coldplay gewünscht und Iggy Pop bekommen. Ich bin sehr froh darüber. Denn es war laut, tanzbar und musikalisch abwechslungsreich. Eine tolle Band. Ich mag Rockmusik, das war es eher als Punk. Iggy humpelte tänzelnd über die Bühne. Er belebt die Bühne, er belebte den gesamten Raum mit seiner Stimme und der Musik.

29.6.22

Vollkommen irritierende Erfahrung: eine Pin, die ich seit Jahren nutze und mir niemals aufgeschrieben habe, ist von einem Moment auf den anderen vergessen. Ich weiß sie einfach nicht mehr.

Ein ähnliches Erlebnis hatte ich einmal vor Jahren in Portugal mit meiner Kreditkarte. Ich konnte den Urlaub über nicht mehr mit Karte zahlen, weil ich plötzlich die Kartenpin nicht mehr wusste. Seltsam. Welche Eiweißablagerungen haben sich wohl davor gesetzt?

Wieso kommt das Datenzentrum zu dem Schluss, ich brauche diese Information nicht mehr? Ich brauche diese Information.

26.6.22

Es gibt ein paar Filme, die ich mehrfach gesehen haben: Inception, Leolo, Moonrise Kingdom, 9 1/2 Wochen. Die meisten von diesen dreimal oder sogar viermal.

Der Warenfetichismus, der mir in 9 ½ entgegenprang, ist mir heute peinlich. Damals fand ich das ästhetisch ansprechend. Ich war dem nicht verfallen, aber in meinem Unbewussten eine Spur hinterlassen hat es doch. Es hat Standards gesetzt für das, was ich cool fand. Nicht nur der Film, auch die Zeit. Ich war mit meiner Freundin im Kino und einmal allein. Das mache ich heute noch ganz gerne: allein ins Kino gehen. Zu zweit ist auch schön, man kann sich danach unterhalten und den Film zerquatschen, bis jede Szene ausgequetscht und zerredet ist, am besten beim Italiener um die Ecke zu überteuerten Preisen. Ich liebe das. Kein Wunder: ich habe Literaturwissenschaft studiert. Ich liebe es aber auch, einen Film für mich zu haben. Das ist so wie einen Salat allein essen oder allein im Garten unter Vögeln sitzen. Das ist einfach schön. Wenn dann irgendwann jemand um die Ecke kommt, ist das auch schön.

24.2.22

Nicht-Älter werden wäre aber auch keine Alternative. Jünger zu werden erschiene mir auch grausam, schon allein, weil ich das Schicksal des Benjamin Button kenne.

Es gibt noch andere Unglücke, die in der Literatur beschrieben werden und die ich nicht gebrauchen kann: ererbter Reichtum beispielsweise. Unlängst habe ich nicht in der schönen Literatur, aber im Spiegel von einem abschreckenden Beispiel gelesen. Julia Stoschek geht über die Fragen im Spiegel mit nur einer Geste: Lästigkeiten werden weggeschüttelt. Ob es die Frage nach der Oskar Schindler Straße in Coburg ist oder die Frage, inwiefern die Künstler, die sie fördert, auch ein Interesse daran haben könnten, dass das Geld, mit dem sie fördert, kein historisch auf Verbrechen gegründetes ist. Hat sie nie gehört, dass es eine Initiative gäbe, dass die Brose-Straße lieber Schindler-Straße heißen solle, dass Künstler sich mit ihr abgeben, sei ja schon ein Hinweis darauf, dass die Familie lupenrein sei. Offenbar kann sie sich nicht vorstellen, dass Menschen ihr nur deshalb positiv gegenübertreten, weil sie das Geld mitbringt, das die anderen zum Leben brauchen. Offenbar hat sie noch nicht gehört, dass Schindler eine größere Lebensleistung vollbracht hat als ihre Großeltern. Oder waren es bereits die Urgroßeltern? Das habe ich vergessen.

Wer so reich ist und nicht den Funken von kritischer Selbstreflexion in einem Interview des Spiegel zeigt, der kann zum Vorbild nicht taugen.

Gut, mit diesem Virus kann ich mich nicht anstecken. Ich bin froh, dass ich die Bibel gelesen habe: Eher wird ein Kamel durch ein Nadelöhr gehen, als ein Reicher in das Reich Gottes gelangt. Das beruhigt mich, obwohl ich vermute, wer auf Erden genug hatte, muss nicht auf das Reich Gottes warten. Die Freude allerdings an dem war unbezahlbar gut ist, die Freude an einem Handeln, das Gerechtigkeit, Frieden, Demokratie, Liebe stiftet ist so wahnsinnig viel mehr als Geld.

Ich bin froh, dass niemand die Freundschaft zu mir mit der Hoffnung auf Geld verwechseln kann.

23.6.22

Ich habe Löcher im Denken. Während ich eine Liste schreibe, entfällt mir der Sinn dessen, was ich gerade tue. Ich spreche und weiß plötzlich nicht mehr, auf was ich hinaus wollte. Beunruhigend. Eine kleine Umfrage bei Ex-Corona-Kranken ergab, dass sie das kennen. Das scheint nicht in erster Linie mit dem Älterwerden, sondern mit dem * **Covid-Virus zu tun zu haben. Immerhin: das geht wieder weg. Das Älterwerden nicht.

22.6.22

Schönes Datum.

Ich habe dir doch gesagt.

Du hast nicht zugehört.

Ich sage es jetzt zum dritten Mal.

Dich interessiert das nicht.

Ich habe dich gefragt.

Du vergisst alles.

Ich habe das anders gemeint.

Dir macht das offenbar nichts aus.

Ich komme gar nicht zu Wort.

Du übergehst mich.

Als Gedicht ist es erträglich.

21.6.22

Heute ein Skandal in Kassel: Ein Bild des indonesischen Kollektivs Taring Padi. Ich glaube es hat den Titel „Multicultural State of Hegemony“. Vielleicht ist der Schriftzug auch ein Teil des Gemäldes und als solches kein echter Titel. Der Titel gefiele mir aber ganz gut und die Idee mit den Soldaten, die im Auftrag der Hegemonialmächte, die man erst identifizieren muss, durchs Bild marschieren, finde ich auch originell. Insgesamt machte mich das Bild neugierig. Damit man die Soldaten nicht verwechselt, haben sie auf den Helmen und den Halstüchern stehen, für den wie marschieren. Das ist ein bisschen wie Comic. Könnte auch ironisch gemeint sein. Ich halte das für überflüssig. Es ist etwas oberlehrerhaft, dem Betrachter immer gleich zu sagen, was er sehen soll und was bitte nicht. Das schwächt die visuelle Darstellung. Auf einem Tuch ist der Davidstern.  Als Hegemonialmacht oder Hegemonialstreitmacht würde ich das Judentum, für den der Stern steht, nicht beschreiben. Er hat also auf dem Halstuch des Soldaten nichts verloren. Überhaupt fehlen die „Multi“ in dem „Cultural“. Wo sind die christlichen, muslimischen, buddhistischen, hinduistischen Symbole, wenn man es religiös meinen mag. Im Namen all‘ dieser Weltanschauungen sind zahllose Menschen gestorben. ZAHLLOS. Das ist ein Wort für eine Menge, die man nicht beziffern kann. Tolles Wort, das mir beweist, dass Sprache wirklichkeitsnäher ist als Mathematik. Wahrscheinlich haben die Künstler Israel mit dem Judentum verwechselt, das passiert immer wieder und ist eine stete Quelle des Ärgers.

Es ist ein echtes Wimmelbild, das Gemälde. Vielleicht liege ich mit Comic gar nicht schlecht. Die rechte Seite konnte ich mir leider gar nicht mehr ansehen, bevor es heute erst verhängt und dann abgehängt wurde. Das Halstuch mit dem Davidstern hätte man noch übersehen können, aber die Gestalt eines orthodoxen Juden mit Schläfenlocken und einer Mütze, auf der die SS-Zeichen stehen, dessen Zähne wie die eines Haifisches aussehen und der eine dicke Kapitalistenzigarre raucht, ist Stereotyp. Wenn man künstlerisch mit Stereotypen arbeitet, muss man sich gewaltig vorsehen. Das hat das Kollektiv nicht getan. Warum nur dieses antisemitische Stereotyp? Die hegemoniale Hamas hätte doch auf dem Bild auch einen Platz verdient. Oder die Saudi Arabischen Scheichs und Mullahs aus dem Iran, die Frauen steinigen lassen, weil sie außerehelichen Sex haben. Auch die Moslems wissen, wie der Kapitalismus funktioniert, die Migranten auf der heiligen Halbinsel dürfen sich auf dem Bau zu Tode schuften und werden wie Leibeigene behandelt.

Hegemonialmächte haben verschiedene Gesichter. Teure Zigarren rauchen sie alle. Gerade ein Kollektiv sollte diese Gesichter doch differenziert sehen können. Eigentlich bin ich auch sauer, dass die Verantwortlichen von Ruangrupa und Sabine Schormann jetzt so dümmliche Erklärungen abgeben. Sollen sie doch sagen, dass sie sich die Werke vorher nicht angesehen haben und auch gar nicht miteinander gestritten haben, was da gezeigt wird. Kann man doch zugeben: Tut mir leid, wir schaffen das einfach nicht: diese 10.000 Kunstwerke alle anzusehen, ist unmöglich, deshalb haben wir alles zugelassen, was Kolonialismus kritisiert. Das ist zwar kein künstlerisches Argument, auch kein Ausweis für gute Kritik, aber immerhin. Kolonialismuskritik ist ein Dschungel. Da haben sich schon einige verirrt. Es ist erlaubt, den Pfad zu korrigieren.

Ich muss mich abregen und gehe Eis essen. Ich darf wieder.

20.6.22

Meine Physalis hat sich erholt. Sie hat starke grüne Blätter bekommen. Die, die im Zimmer gewachsen waren und zart und zerbrechlich schienen, sind alle in der Sonne gelb geworden und abgefallen. Ich habe gelesen, dass alles an der Pflanze giftig ist, nur die Früchte, sie ich so mag und die so aromatisch sind, nicht. Sie schmecken sehr besonders, hoffentlich etwas sauer, fruchtig frisch, es bitzelt auf der Zunge, nein, nach hinten raus süß. Köstlich eben. Wie Brombeere, Himbeere oder schwarze oder gelbe oder rote Johannisbeere, wie eine Nektarine aus dem Garten oder Walderdbeeren.

Jetzt tropft es, jetzt taktet es leise auf den Gartenboden, mit etwas helleren Tönen auf eine Plastiktüte mit der Anzuchterde unter der Holzbank. Es regnet.

Heute Nachmittag kommt ein sehr kleiner Spatz an mein Fenster. Sein Vater füttert ihn noch. Ein kleiner Feder-Daunen-Knäuel.

19.6.22

Bei großer Hitze geschwitzt in die kühle Wohnung zu kommen, eine kalte oder lauwarme Dusche zu nehmen, danach eine eiskalte Wassermelone zum Frühstück zu verspeisen ist Glück. Aber was ist das Glück, wenn es nicht geteilt ist? Wenn keiner dabei ist, der auch schmatzt und saugt und schlurft?

Ich möchte mit Schokolade übergossen und mit Eis gekühlt werden, ich möchte in Milch gebadet und mit Honig eingerieben werden, ich möchte angebetet und getragen sein, ich möchte umsorgt, gehegt und verwöhnt werden. Mein Mann soll mich lobpreisen und umgarnen, verehren und charmeuren, er soll mich verführen und bezirzen und mich nicht daran erinnern, dass ich die Maske anziehen soll, wenn ich aufs Klo gehe.

Ich möchte einfach wieder nur einen Strich auf diesem grausamen Teststreifen haben.

18.6.22

Sie Einsamkeit wohnt in den Wohnungen, im Garten und im Herzen. In Momenten größter Unbekümmertheit lauert sie bereits zum Sprung und packt zu, wirft um und ringt nieder. Die Unbekümmertheit ist weg, die Einsamkeit ist da. Woher hat sie so viel Kraft? Sie saugt die Kraft aus der Hoffnung, man verstehe sich, man liebe sich, man stehe zueinander. Sie saugt an diesen wunderbaren Erfahrungen und sucht sich den Moment zum Sprung. Einmal gepackt, raunt sie dir ins Ohr: „Siehst du, nichts davon ist wahr!“

Beides ist wahr. Man kann sich in einem Bruchteil einer Sekunde verlieren. Sich wiederzufinden dauert länger.

17.6.22

Eine wahnsinnige Angst ergreift mich, uns und viele. Die Angst, dass das Leben in wenigen Jahren nicht mehr in gleicher Ruhe, in Frieden und Sicherheit möglich sein wird. Panik, weil nur wenige Handlungen den Schrecken vermeiden lassen. Ich gebe mir die volle Ladung und schaue einen Dokumentarfilm über die Plastik-Recyclinglüge. Ich habe nie begriffen, wie man Recycling schreibt. Ich glaube schon lange nicht mehr daran, dass Plastik in einen Wertstoffkreislauf eingespeist werden kann. Man kann den ganzen Kram ebenso gut in die schwarze Tonne schmeißen. Das ist sogar sinnvoller, weil er dann wenigstens vollständig verbrannt wird.

An diesem Wahnsinn beteiligt gewesen zu sein, mit der eigenen Sorglosigkeit, an Abenden Chips essen zu wollen, die Mangrovenwälder zerstört zu haben, geflogen, gefahren, konsumiert zu haben und ein ums andere Mal etwas getan zu haben, was die Lebensgrundlagen zerstört, ist eine schwere Schuld. Ich fühle mich verantwortlich und zugleich hilflos. Wie viele Menschen.

Ich wollte das nicht – sagt der Mörder nach der Tat.

Aber da ich nicht religiös bin, nutzt auch „Buße tun“ nichts. Ich werde weiterhin Fahrrad fahren. Und schreiben. Und ich ziehe wieder häufiger die Maske an.

16.6.22

Vom Bett aus kann ich den Schatten der japanischen Kirsche an der Hauswand betrachten. In der Hitze des sich zur Mitte hinneigenden Tages beruhigen mich die sanften Bewegungen des Schattenrisses.

Zugleich Husten und Dämmerzustand im Krankenbett.

13.6.22

Die erste Gurke war fällig. Samstag wurde sie gejagt, abgezupft, geschrubbt und zum Frühstück gegessen. AAAH.

7.6.22

Ich habe im Romantikmuseum ein interessantes Bild gesehen. Es sitzen zwei Männer nackt auf einem Pferd. Sie reiten in den Bildhintergrund, die Betrachterin sieht sie also von hinten. Die Landschaft habe ich nicht mehr genau in Erinnerung, sie erschien mir beim Betrachten nicht wichtig, selbstverständlich wäre sie das durchaus, wenn man sich genauer mit dem Bild befassen möchte. Es ist eine Höhle im Hintergrund, wahrscheinlich als Symbol für die tierisch menschliche Herkunft. Die beiden muskulösen, gut genährten Männer ziehen hinter sich einen Löwen und einen sehr großen Raubvogel her. Ein Hund folgt den Männern. Das Bild heißt „Die Stärke des Mannes (Vernunftbild)“. Es soll eine Allegorie für die vernünftige Herrschaft des Mannes über die Natur sein. Das ist es auch. Der Hund soll vielleicht die Frau darstellen? Die treue Gefährtin? Nein, noch schlimmer, die Frau wird gar nicht dargestellt, weil der Mann den Menschen darstellt. Sie haben sich den König der Tiere und den König der Lüfte Untertan gemacht. Immer mit Hilfe der Vernunft, versteht sich. Aber zu was hat diese instrumentelle Vernunft geführt? Millionen Arten sterben aus. Das Klima verändert sich menschengemacht. Die Fledermäuse finden keine Nistplätze mehr. Nicht auf den Untertanengeist, den die Menschheit immer wieder kultiviert, hätte Goethe stolz sein sollen, als er das Bild von Tischbein sah oder gar gewidmet bekam. Er hätte sich schämen sollen ob seiner starken Vernunft.

Das ist aber nicht überliefert. Gut, dass das Bild dort hängt. Das fällt sicher jedem auf, dass diese Art Vernunft keine ist, die man noch haben will.

6.6.22

Der warme Wind rauscht durch die Bäume. Er kommt von der Straße, zwängt sich durch den Fußweg an den Haustüren unseres Hinterhauses, über und an dem Bambus vorbei, vereint sich mit dem Wind, der aus der anderen Richtung kommt, von Süden über den großen Hof, auf dem immer Kinder spielen, nur gerade eben nicht, und wenn die Sonne am hellsten ist, dann treffen sich die Winde in unserem Garten, die Vögel hören auf zu tschiepen, der Ahorn schüttelt sein Haupt und lässt die Blätter fallen, die ich jeden Tag von neuem wieder zusammenreche, immer auf einen kleinen Haufen, den ich sofort fortbringe, damit das Gras genug Sonne bekommt.

Das nennt man wohl eine Kulturlandschaft: Ich kann nicht sein, ohne sie und sie kann nicht sein, ohne mich. Oder kann sie?

Mein Schluchzen ist lauter als der Wind.

3.6.22

Es gilt heute bereits als elaboriert, wenn ein zehnjähriges Kind den Begriff „Kufen“ für die Metallschienen an seinem Holzschlitten kennt. Vorgänge wie „ich bin hingefallen“ werden mit „ich bin runtergefallen“ beschrieben, „Auf der Baustelle stehen ein Kran und ein Bagger“ wird zu „Das Ding da, wo das Haus gebaut wird“. Sich differenziert auszudrücken ist für durchschnittliche Kinder in Frankfurt schwierig. Meiner Beobachtung nach hat das mit zwei Veränderungen im Verhältnis Kind-Erwachsene zu tun: Eltern und Erwachsene sprechen weniger mit Kindern über die Außenwelt. In der Straßenbahn wurden Kinder bis noch vor zehn Jahren damit unterhalten, dass man rausgeschaut hat und die Dinge, die draußen am Fenster vorbeiflogen, benannte. Dann hat man später oder am nächsten Tag ins Bilderbuch geschaut, mitunter war es auch die Kindergärtnerin, die auch vor zehn Jahren schon nicht mehr Kindergärtnerin hieß, ich weiß, und die Dinge nochmal bezeichnet. Weniger besprochenes Außen, weniger Worte im Kopf. Eine einfache Gleichung. Die zweite Veränderung ist die digitale Revolution. Jeder hat ein Handy in der Hand. Wenn es nicht ein Handy ist, ist es ein anderes Gerät. Ich auch, das gebe ich zu. Vor zehn Jahren hielten in der U-Bahn wenige Leute Bücher und Zeitungen in der Hand und man konnte sehen, was andere lesen. Heute sieht man nur schwarze Kästen. Auch Dreijährige halten Handys. Dann geben sie Ruhe.

Das war die zeitkritische Folge meines Serien-Blog-Schreibens.

Ich habe mich einmal ausführlich mit der Geschichte des Lesens beschäftigt. Campe war ein großer Gegner des Lesens, wenn Frauen es tun. Es brächte sie auf andere Gedanken. Lenke sie ab. Die Hausarbeiten blieben liegen. Er hatte recht. Glücklicherweise.

31.5.22

Meine allererste Schallplatte war „Sesamstraße“. Mein Vater schenkte sie mir zu einem tragbaren Schallplattenspieler. Das Gerät war groß wie ein Koffer und konnte mit den aufklappbaren Lautsprechern verschlossen werden. Sehr praktisch. Ich kenne von der Doppel-LP nahezu jeden Liedtext noch auswendig. Es war ein Geburtstagsgeschenk. Ich war noch in der Grundschule. Die Platte besitze ich noch. Leider ist sie verkratzt, aber sie lässt sich abspielen. Ich wünschte, ich könnte mir viele Dinge so gut merken wie die Liedtexte dieser einen Sesamstraßenplatte: „Ich mag Müll. Alles was staubig ist, dreckig und speckig…“ Ich kenne selbstverständlich den Unterschied von Kurzzeitgedächtnis und Langzeitgedächtnis und weiß, dass das ein typisches Kennzeichen für etwas ältere Menschen ist, dass sie Details aus der Kindheit besser erinnern als das, was gestern war. Ich will mir auch gar nicht alles merken, was gestern war. Aber ein paar klitzekleine Italienischvokabeln könnten doch genauso gut hängenbleiben wie „Quietscheentchen“. Was heißt nochmal „raccontare“?

25.5.22

Wenn Oberbürgermeister peinliche Dinge tun, hat das Volk wieder etwas zu reden. Zum Beispiel darf man sich darüber aufregen, dass der eine egozentrisch den Pokal ansichreißt in einem Moment, den der Zeitungsfotograf festhält. Ich vermute, er hat nie gelernt, sich ruhig zurückzuhalten und anderen den Vortritt zu gewähren. Seine Mutter ist schuld. Oder seine Gene.

Der zweite Fehltritt, der ihm nun nicht verziehen wird, viel schlimmer als Vorteilsnahme, Betrug, Täuschung und Vetternwirtschaft: er hat eine Selbstoffenbarung körperlicher Art in das Mikro eines Flugzeugs gehaucht, so dass es alle hören konnten: er war hormonell stimuliert.

Meine einfache Reaktion wäre gewesen: interessiert mich nicht die Bohne, lieber Herr Oberbürgermeister, und über ein Mikro alle Unbeteiligten daran teilhaben zu lassen, finde ich auch etwas peinlich, aber Peinlichkeit ist ja kein Verbrechen. Vielleicht waren wenigstens die Stewardessen oder die Stewards geschmeichelt? Er hat ja nicht die Objekte der Begierde bewertet, sondern seine Reaktion darauf, das kann einem ja schmeicheln.

Die Konsequenz schlechter Erziehung oder unvorteilhafter Gene ist also, dass er sich nicht mehr bei der Eintracht blicken lassen darf und wir beim Abendessen über Komplimente, das erotische Spiel, Sexismus und das Patriarchat debattieren. Meine Männer sind da sehr eindeutig in der Bewertung, während ich eher die Ambivalenz und die Dialektik ins Feld führe und die unterschiedlichen Seiten der Macht und der Begierde sehe. Wir sind uns allerdings darüber einig, dass die Stimmen in der CDU, die den Sexismus-Vorwurf äußern, nicht denen gehören, die bisher im Kampf gegen das Patriarchat aufgefallen wären.

Wie man über Peinlichkeiten stolpern kann, lehrt ja bereits das Märchen „Des Kaisers neue Kleider“. Allerdings wissen wir nicht, was mit dem Kaiser nach der allgemeinen Enthüllung geschah. Dass man den Verführungen der anderen Marktschreier und bösen Stiefmütter aber auch nicht folgen darf, lehren andere Märchen. Da wäre ich wieder bei den Müttern oder den Verführungen. Die sind eigentlich immer schuld.

23.5.2022

Dieses Kleinod der Liebe und des Hasses. Der Geborgenheit und der Konkurrenz. Des täglichen Wir. Zielpunkt aller Kleinbürgerlichkeit und Sehnsuchtsort der Einsamen. Es ist schön, eine Familie zu haben und fürchterlich, weil man immer verantwortlich gemacht wird für das, was nur ungefähr bezeichnet werden kann. Wie in einem Spinnennetz kann man keine Bewegung machen, ohne dass alle mitwippen. Eine andere Art der Familie wäre schön, eine Familie, in der man sich ändern darf, bewegen und daneben sein. Wahrscheinlich ist es aber genau das, was man lernen muss zu lieben, das Netz, in dem alles mit allem verbunden ist.

20.5.2022

Üppig. Ein schönes Wort.

17.5.22

Das Beste:

Am Morgen barfuß durch das klamme Gras laufen und schauen, ob die Bohnen schon aus der Erde kommen.

Zurücklehnen und in ein weiches Kissen sinken.

Die Rosen im Garten leuchten sehen.

Den Vögeln beim Baden im Unterteil des Playmobilpiratenboots zusehen.

Die ersten noch starken Tritte auf dem Fahrrad an einem frischen Morgen in der Roßdorferstraße.

Meinen Mann die Mainkurstraße runterkommen sehen.

Ein Lächeln meines Sohnes.

Ein Lächeln eines Schülers.

Ein Lächeln einer Passantin.

Es läuft ziemlich auf die hochgezogenen Mundwinkel zu.

Eine Erkenntnis.

16.5.22

Sonntagmittag auf der Bergerstraße am Uhrtürmchen: Der Platz ist gedeckt mit Herrschaften jeden Alters. Sie sitzen auf den Stühlen, an den Tischen des Café Wacker oder des Café Jeanette. Das ist die erste Klasse. Die zweite steht am Brunnen und wartet, vielleicht ist noch irgendwo ein Platz frei. Die dritte sitzt auf den Fensterbänken der Apotheke am Eck. Von hier aus hat man einen ebenso guten Blick auf das Geschehen auf der Berger und man muss nichts verzehren. Einige bringen etwas Alkoholisches mit. Zwischendrin stehen Männer, die Italienisch sprechen. Jeder, der von Süd nach Nord oder von Ost nach West möchte, muss an den Platzhaltern vorbei. Aber es wird nicht geglotzt, man schaut dezent in die Luft oder zum Nachbarn, den man in der Regel vom Vorbeigehen oder hier Sitzen kennt. Oft spielt ein Musikant. Die Masken hängen am Arm.

15.5.22

Die Idee mit den Bohnen hat niemand aufgenommen. Zwischendurch kam eine Gruppe von Intellektuellen auf die Idee, keine Waffen in die Ukraine zu schicken. Danach kam eine andere Gruppe von Intellektuellen auf die Idee, noch mehr schwere Waffen in die Ukraine zu schicken. Auf der einen wie auf der anderen Liste stehen Leute, die ich gut finde, also deren Meinung ich oft teile und deren Texte ich lese, weil ich wissen will, was sie denken. Ich fände es gut, wenn sie auch mal meine Texte läsen. Denn ich bin der Meinung, beides ist nicht gut. Ja, tatsächlich denke ich grundsätzlich, dass Waffenlieferungen immer nur kurzzeitig und nur zu ganz speziellen Zwecken ratsam sind und eigentlich immer zu noch mehr Leid führen. Waffengeschäfte lehne ich grundsätzlich ab. Gleichzeitig denke ich aber auch, dass die Ukraine sich selbst verteidigen darf und sich auch wehren darf gegen einen Angriffskrieg. Waffen zu haben, lehne ich also nicht grundsätzlich ab. Ich finde beide Positionen moralisch akzeptabel: sich nicht verteildigen und sich nur friedlich zu wehren und sich mit Gewalt zu wehren, auch auf die Gefahr hin, dass man stirbt. Beides ist unter Umständen angebracht. Es hängt eben von den Umständen und der Einschätzung ab. Waffen zu liefern, ist eine andere Frage. Ich hätte es richtig gefunden, wenn die jungen Menschen, Männer wie Frauen alle ins Ausland geschickt worden wären und alle über vierzig in der Ukraine geblieben wären zum Kämpfen. Nur Männer kämpfen zu lassen, lehne ich ab. Ich verstehe nicht, warum das sinnvoll sein soll. Für die Demokratie, für ein selbstbestimmtes Leben mit Waffengewalt zu kämpfen, kann angebracht sein, kann geradezu notwendig sein, wenn man zu der Einschätzung kommt, es ist nicht vergebens oder alles andere ist schlimmer. Wenn die Ukrainer zu dem mehrheitlichen Beschluss kämen, sich zu ergeben, würde ich das auch nicht moralisch verurteilen. Ich würde es verstehen als ein Akt der Notwehr, um weiteres Leid zu verhindern. Aus meiner Perspektive heraus kann ich also den Ukrainern gar nichts raten. Ich kann nur beistehen. Ich finde es gerade so noch akzeptabel, die Ukrainer mit Waffen zu unterstützen, allerdings hat diese Unterstützung eine Grenze. Sie ist gewissermaßen willkürlich. Es ist aber eine Grenze, weil es eine Grenze der Verteidigung gibt. Eine Waffenindustrie dafür hochzufahren, soviel Geld wie nie in diesen Bereich zu pumpen, halte ich für falsch. Ich bin für das Gasembargo.

So denke ich also wie viele andere Menschen auch immer hin und her. Dass ich das kann und das laut sagen darf und dass sich Politikerinnen und Politiker diesem Hin und Her stellen und dann leider irgendwann eine Entscheidung treffen müssen, die auch falsch sein kann – aus der historischen Betrachtung heraus, finde ich quälend und gut zugleich. Ich danke den gewählten Politikerinnen und Politikern, dass sie sich dieser verzwickten Realität stellen.

Dieses Jahr gibt es ganz besonders dicke Fliegen. Sie bringen mich um den Verstand, wenn ich versuche, einen klugen Gedanken zu fassen und die richtigen Worte zu finden.

9.5.22

Ich habe gestern die Bohnen ausgesät. Auf dass sie wieder wachsen mögen, diese leckeren dünnen, grünen Stangen aus Zellulose. Sehr bekömmlich und schmeckt zu fast allem. Wenn man Putin zwei Tonnen Bohnensamen schickte, dann wäre er eine Weile beschäftigt. Seinen Freunden, die den Krieg antreiben, erhalten auch zwei Säcke. Ich finanziere das. Ich wäre das großzügig. Zur Befreiung von Hitlerdeutschland wäre das doch ein wunderbares Präsent. Ich bin sehr dankbar und glücklich, dass die Deutschen im Mai 1945 bedingungslos kapituliert haben. Dass sie besiegt wurden und ihnen in der Folge der Zahn gezogen wurde, mehr wert zu sein als alle anderen. In dem Fall kann ich nicht „Wir“ sagen, da ich noch nicht gelebt habe. Ich habe zu der literarischen Figur „Wir und die anderen“ auch ein kritisches Verhältnis. Jedenfalls bin ich froh, in eine Demokratie hinein geboren worden zu sein, in der es Leute wie Fritz Bauer gab und meinen GL-Lehrer, der uns etwas über Kuba beigebracht hat.

Wenn ich einmal in der Woche bei meinen Großeltern zum Essen war, erzählte mein Großvater immer dasselbe: Es war schön auf der Krim. Ob die Russen und die Russinnen oder die Ukrainer und Ukrainerinnen es mit ihm schön fanden, bezweifle ich. Er machte da keinen Unterschied oder der Unterschied war ihm egal. Er schloss das gemeinsame Sitzen in der Küche immer mit dem Satz ab: „Wenn die Russen kommen, dann esst ihr, was auf dem Teller liegt.“ Ich war etwas schnäubisch mit dem Essen als Kind. Bin es noch. Offenbar hat die Erziehungsmethode nicht gefruchtet. Es war ziemlich offensichtlich, dass mein Großvater ein gebrochener Mann war. Bedauert habe ich ihn nicht. Bewundert auch nicht. Er sprach schlecht über Juden, Schwule und feinsinnige Kunst. Ich habe mich mit allen dreien beschäftigt und bin zu dem Schluss gekommen, es geht keine Gefahr von einem dieser menschlichen Daseinsformen aus. Von nicht-egalitären Ideologien und nicht demokratisch legitimierten Herrschaftsansprüchen aber schon.

7.5.22

Die Hubschrauber kreisen: Sympathisanten der Russen und Sympathisanten der Ukrainer begegnen sich in der Innenstadt einer deutschen Großstadt. Im Garten zwitschern die Amseln und die Spatzen. Es ist richtig warm und die Sonne strahlt. In der Luft fliegen Spinnenfäden und glitzern. Über uns sind wieder Leute eingezogen, die auch wirklich hier wohnen. Sie haben das Fenster geöffnet und unterhalten sich, frühstücken auf ihrer Terrasse. Es gibt jetzt immer ein Hintergrundrauschen des Menschlichen. Ich mag es ganz gerne, aber man gewöhnt sich auch an die Stille. Allerdings ist die selten: es gibt auch noch Kinder und Familien in den Nachbarhäusern. Überall wird gelebt.

6.5.2022

Es ist ein schöner Moment, wenn überraschend jemand im Zimmer oder vor der Tür steht. Es kommt auch vor, dass ich im Garten sitze und plötzlich jemand um die Hausecke schlüpft. Ich bin dann überrascht und erfreut.

3.5.22

Ich mag meinen Beruf. Ich mag die Wissenschaft und Nachdenken, ich mag Kinder und Kunst sowieso. Ich habe also genau den richtigen Beruf. Ich bin Lehrerin und ich bin Schriftstellerin. Oder wie soll ich das nennen, was ich täglich tue? Ganz nach Foucault sollte man das sein, was man ist und nicht das, was man sein sollte. Es kommt in den letzten Jahren häufiger vor, dass ich mit Dreck beschmissen werde. Ich erhalte Mails, in denen man mir vorwirft, dass ich rassistisch sei oder dass ich Kinder hasste. Mir wurde auch schon gedroht, man würde mich fertig machen, ich solle aufpassen. Vielleicht haben das schon immer Leute einmal gesagt, aber mittlerweile bekomme ich Mails, die dann an einen Verteiler gegeben werden, der andere davon überzeugen soll, dass das stimmt. Ich mache nicht immer alles richtig und schimpfe mitunter mit Kindern. Es ist mir auch schon mal eine Gemeinheit verbal entschlüpft, wenn ich mich geärgert habe. Ich kann sehr leidenschaftlich werden und entschuldige mich, wenn ich mich beruhigt habe. Mein Grundzustand ist aber freundlich und eigentlich kann ich Kindern ziemlich wenig abschlagen. Sie haben einfach zuviel gute Ideen. Rassistin bin ich auch nicht. Ich habe kein Weltbild, das Menschen ungleich bewertet. Ich bin nicht frei von Ressentiments. Ich versuche sie mir bewusst zu machen.  

Der Schritt von offener Ansprache und Hass-Rede ist mitunter nur ein kleiner, aber es ist ein Schritt.

2.5.22

Sich etwas anschauen

Die Dinge drehen

Sich etwas betrachten

Zärtlich in der Hand halten

Das können Menschen

1.5.22

Heute Morgen gehen wir die unterschiedlichen Positionen zum Krieg durch. Alle sind moralisch aufgerüstet. Ich fasse zusammen: Rüstet ab. In diesen komplizierten Fragen gibt es keine absolute Wahrheit. Es geht darum, Leid zu vermindern.

29.4.22

Mit jedem Wort, dass ich ausspreche, bin ich da. Deshalb ist etwas aussprechen mitunter so schwer, weil die Wirklichkeit dann geteilt ist.

Am Morgen weiß ich nicht, warum ich aufstehen soll, aber das Modalverb ist bereits das Problem, von „sollen“ kann keine Rede sein. Erst wenn ich mich den Worten zuwende, wird es besser. Lesen hilft auch.

26.4.22

Pausen gehören zur Musik. Zum Schreiben auch. Das Gehirn arbeitet unablässig und schreibt Texte, ohne eine Taste zu berühren. Modena, Bologna, Venezia und Trento fliegen vorbei, ein Nymphensittich, eine Nachricht, zwei geliebte Menschen, noch einer, noch einer, ein Ende und ein Beginn. Alles das in einer Pause.

Frauen und Kinder, die fliehen. Frauen, die Schutz suchen. Frauen, die beschützt werden müssen. Wer beschützt uns vor den Beschützern und Angreifern?

15.4.22

Ich bin immer auf der Suche nach Wörtern. Heute habe ich mich selbst als Schrapnell-Schachtel bezeichnet und erntete erstaunte Gesichter. Gut: es war doppelgemoppelt, aber ich hatte es richtig im Kopf: Schrapnell ist eine alte, eher unansehnliche Frau. Keine schöne Bezeichnung und trifft selbstverständlich auf die wenigsten Frauen zu. Aber das Wort ist doch irgendwie originell, zumal der Namensgeber auch der Erfinder einer ganz besonders perfiden Munition ist. Sie ist gedacht für „weiche Ziele“. Ich bin schon manchmal entsetzt, wie umständlich sich Menschen ausdrücken. „Weiche Ziele“: Menschen und Pferde. Aber Waffen sind ja immer dazu da, weiche oder harte Ziele zu verletzen oder zu töten. Was sonst? Warum hat man das als Schimpfwort für ältere Frauen benutzt? Es gibt mehr Schimpfworte für ältere Frauen als für ältere Männer. Irgendwie hört sich „Schrapnelle“ auch zärtlich an. Wahrscheinlich bin ich aber einfach nur etwas verliebt in merkwürdige Wörter. Wenn sie dann noch einen Hauch von Französisch haben: Oh lala.

13.4.22

Ich trage diesen Krieg, der in Teilen der Welt nicht Krieg genannt werden darf, mit mir herum, wie ich den Krieg in Srebrenica mit mir herumtrage. Die Bombardements der Kurden, die Angriffe auf Aleppo, die Entführungen der Mädchen in Mali und in Afghanistan.

Meine Haut wäre eitrig und zerschnitten, wenn sich diese Kriege auf der Haut zeigen würden.

Ich gehöre zu den Glücklichen, die sich das nur vorstellen.

6.4.22

Gestern war ich im Gespräch mit einem Schulleiter eines altsprachlichen Gymnasiums und mit einem Maler- und Lackierermeister. Das war interessant an zwei Stellen. Erstens wurde mir wieder einmal bewusst, dass wir manchmal die gleichen Wörter nutzen, aber andere Erfahrungen haben, ganz andere Erfahrungen haben, so dass sich hinter den Worten eine vollkommen andere Realität verbirgt, dass man sich nur anscheinend versteht. Ich nutze bewusst dieses Wort.

Die Wirklichkeit ist eine andere. Das war übrigens mein Habilitationsthema: Wirklichkeitskonstruktionen und was Literatur dazu beiträgt und warum es wichtig ist, diese in der Schule zum Thema zu machen. Ich würde sagen: Ins Schwarze getroffen. Wenn der Direktor des Gymnasiums „Unterricht“ sagt, meint er etwas vollkommen anderes als ich. Der Unterschied zwischen uns ist allerdings, dass ich mir vorstellen kann, was er meint, er sich aber nicht vorstellen kann, was ich meine. Man braucht etwas Zeit miteinander, um das festzustellen. Danach kann es ein interessantes Gespräch werden, wenn man genug Interesse aneinander hat. Das hatten wir eigentlich schon, da kann man nicht meckern. Zweitens wurde mir wieder mal bewusst, dass Marx recht hat. Man kann viel und lange an Haltungen, Wertmaßstäben, Ideen herumfiselieren, solange die gesellschaftliche Praxis ist, dass man sich mit der Wahl der Schule der nervenden sozial niedriggestellteren Nachbarn entledigen kann, wird das auch geschehen. Die Schule wird zum Nadelöhr für gesellschaftliche Separation.

Dafür bin ich eben nicht zu haben. Ich bin für Latein für alle, die wollen!

5.4.22

Es ist eisekalt geworden. Über den Fernseher erreichen uns Bilder von Toten auf den Straßen.

Die, die weinen, hört man nicht.

Die, die schießen, sieht man nicht.

Die, die sterben, begräbt man.

Übungen zum Relativpronomen.

3.4.22

Meine Männer sind in Zürich und ich bin in Schreibklausur gegangen. Mit großer Lust aufs Alleinsein fuhr ich mit dem Radl vom Riedberg nach Hause. Zu Hause ging es weiter. Ich staubsaugte, machte mir einen Espresso, las Zeitung und schrieb.

Nachdem ich die Wohnungstür aufgeschlossen hatte, machte ich Musik an, legte eine CD auf. Es begann mit Sting. Dann kam van t’Hof. Am nächsten Morgen hatte ich Lust auf Mercedes Sosa, nachdem ich den Straßenmusikanten an der Frankfurter Sparkasse schief singen und spielen hörte, das Lied aber erkannte, „Alegria“. Ich war in der Spanischzeit angekommen: Latin Lounge musste folgen. Ich schwenkte um nach Italien: Zucchero. Dann Bruch: Spark folgte, die erste und mich ganz und gar körperlich und seelisch ergreifende Flötenmusik. Den Abend verbrauchte ich mit Almodovar, die Musik kannte ich nicht, der Film war ein Frauenfilm allerbester Sorte und die Musik war schön. Heute Morgen legte ich John Williams auf. Was wird folgen: Lou Reed, Van Morrison, Musica Nuda von Petra Magoni und Ferruccio Spinetti und Astor Piazolla. Vielleicht überlege ich es mir aber auch anders und ich höre Grönemeyer.

Ich mache mir keinen Zeitplan, sondern tue genau das, was ich gerade möchte. Nach dem Aufwachen knackte ich die Aufsteigerliste bei Duolingo und bin jetzt bei den besten drei. Danach habe ich die Wäsche gewaschen, aufgehängt, geputzt, bin auf den Markt gegangen, habe mir meinen gezuckerten Lieblingshasen beim Denninger geholt und draußen auf den mintgrünen Luxembourgstuhl vor dem Geschäft einen Cappuccino getrunken. Dann habe ich geschrieben, Klavier gespielt und geschrieben.

Ich wechsle vom Vortrag zum Buch über Schulentwicklung zum Roman. Meine Gedanken gehen mal im Schneckentempo, mal fliegen sie. Um mich herum liegen das schwarz-weiße Notizbuch, das mir eine Freundin letzte Woche aus New York mitbrachte, mein Computer und ein Buch von Eva Menasse, in dem ich lese, wenn ich nicht mehr weiß, was ich schreiben soll.

Heute mache ich Fotos vom Lichtspiel der Sonne in der Wohnung und im Garten. Wunderschön. Des Nachbars Haus stört kein bisschen um 12 Uhr. Ich esse um 11:30 Uhr gebackenen Camembert zum Frühstück, selbstverständlich mit Preiselbeeren.

Die Freiheit, zu tun, was gut ist, ist mehr Wert als alles in der Welt.

Putin, spiel Klavier, das tut niemandem weh!

31.3.22

Ich frage mich, wie es Putin geht. Was macht er sich für Gedanken? Schläft er ruhig? Wenn ich verantwortlich wäre für diese vielen Toten, diese Zerstörung, würde mich das umtreiben. Mich treiben geringere Taten bereits um. Möglicherweise ist das mein lutheranisches Gewissen, das mir nicht auszutreiben ist. Möglicherweise auch bloß meine Sozialisation in den Siebzigern. Man begann in dieser Zeit auf Kinder und ihre Bedürfnisse Rücksicht zu nehmen. Das macht sensibel. Ich bin also auch nur ein Ergebnis der Zeit, in der ich groß wurde. Ich zeige mich selbstverständlich nicht immer sensibel, das wäre ungünstig. Es gab auch noch die Neunziger, da wurde ich richtig erwachsen. So sind die Dinge wieder mal mal so, mal so.

In Heddernheim habe ich am letzten Dienstag eine kleine Gruppe „Querdenker“ an der Müllverbrennungsanlage vorbei demonstrieren sehen. Ich fuhr gerade mit einer Freundin nach Hause. Mir tut es leid um das Wort: Ich fand „querdenken“ immer eine tolle Angelegenheit. Es bezeichnet ja eine freiheitliche Praxis, die mit gewohnten Mustern bricht und zu neuen Erkenntnissen führt. Die Impfgegner führen mich aber nicht zu neuen Erkenntnissen. Ich finde einen Podcast mit Drosten oder Ciesek inspirierender. Wenn die beiden so von einer Studie zur nächsten kommen und alle möglichen Details ausbreiten, finde ich immer irgendeinen Aspekt interessant. Wenn nicht, schalte ich aus. Kommt aber selten vor. Kam selten vor, jetzt endet diese Art Interview ja, weil Corona zuende ist. Das ist auch okay. Die „Querdenker“ kann ich leider nicht abschalten.

Aber ich kann mir den Begriff wieder aneignen. Wobei ich bei einem anderen sehr schwierigen Problem bin: Aneignung und Kultur. Kultur ist für mich etwas sehr Flüssiges. Damit dürfte fast alles gesagt sein. Unterdrückung und Diskriminierung dagegen lehne ich ab. Allerdings bin auch ich nicht frei von Impulsen und Handlungsmustern, die Unterdrückung und Diskriminierung begünstigen.

So geht mein Denken mit dem Amselgesang im noch wieder ganz dunklen Frühlingsmorgen hin und her. Und ich freue mich, dass es Worte gibt, die ich bearbeite wie einen Stein. Worte, die mich retten vor Trübsinn und Dummheit. Wunderbare Worte. Wenn ich das, was ich mit deutschen Worten kann, mit italienischen könnte, würde mich das auch glücklich machen. Ich probiere es mal.

30.3.22

Ich möchte Milchreis kochen mit Zucker und Zimt. Aber es gibt keinen Zucker mehr. Es wird deshalb Apfelmus geben. Aber was soll ich in den Espresso tun? Eine der nächsten Zeilen enthält das zerstörte Mariupol. Die Gleichzeitigkeit solcher Erfahrungen beschäftigen mich.

Ich habe vorgestern eine Amsel, die regungslos auf der Straße stand, weggetragen. War sie gegen ein Auto geflogen? Mich beschäftigt das Davor und Danach und das Wie.

29.3.22

Ich habe die Bilder der zerstörten Stadt Mariupol gesehen. Ich gehe einmal davon aus, dass es tatsächlich dort so aussieht: zerstörte Wohnblocks, Kirche und Stadtzentrum niedergebrannt und nur noch Ruinen. Welcher Grund sollte eine solche Zerstörung rechtfertigen? Völkermord oder Massenmord, ein bestialisch geführter Krieg gegen die eigene Bevölkerung wäre vielleicht ein Grund. Das fand aber in Mariupol meines Wissens nicht statt.

Es gibt keinen guten Grund, eine Stadt so zu zerstören. Es gibt auch keinen guten Grund, ein Land anzugreifen. Es gibt auch keinen guten Grund mit Waffengewalt anzugreifen. Es gibt auch keinen Grund sich zu feiern, wenn man einen Krieg führt.

Wir haben gelernt, die politische Rhetorik des Größenwahns, des Faschismus, des Stalinismus, des Totalitarismus zu lesen und zu interpretieren. Wir haben Ideologiekritik gelernt und dennoch haben wir uns an Putins, Al-Assads, Xi Jinpings oder Kim Jong-uns gewöhnt.

In der Dauerschleife von Empörung und Kampf und Kritik kann man nicht überleben. Aber in Entscheidungssituationen kann man die Gedichte und Texte wieder hervorholen, die uns gelehrt haben, dass politische Kampfrhetorik immer Unrecht ist, dass völkisches Gerede jeder Art immer in Vernichtung führt.

Was ist meine kalte Wohnung gegenüber dieser Zerstörung in Mariupol? Gegenüber der Zerstörung von Aleppo oder Mossul?

27.3.22

Ein wunderbarer Wandertag im Taunus. Ich habe fast einen kleinen Sonnenbrand. Ich habe einen Sonnenbrand auf den Wangen! Und Brombeerkratzer an der Wade. Die Hosen waren hochgekrempelt, der Pulli um die Hüfte, die Jacke im Auto. So war das Wetter.

22.3.22

Kein Mensch braucht Gymnasien. Eine Lehranstalt, in die nur Kinder dürfen, die im zarten Alter von zehn Jahren gute Noten erhalten haben, in der alle Kinder, die diesen Leistungen nicht mehr entsprechen, rausgeworfen werden: Das ist keine sinnvolle gesellschaftliche Einrichtung. Jedes Jahr verlassen Gruppen von Kindern das Gymnasium und müssen an anderen Schulen unterkommen, weil sie die Noten nicht erbracht haben. Wozu soll das gut sein? Im Sommer bekomme ich immer eine Liste mit mehreren Namen, die von den benachbarten Gymnasien weg „querversetzt“ werden. Die Devise ist: Die müssen gehen. Obendrauf kommen noch die, die „freiwillig“ vom Gymnasium abgehen, Kinder, die einmal gute Noten hatten, diese aber jetzt nicht mehr halten können. Es handelt sich dabei um Kinder im Alter zwischen zehn und 16 Jahren. Mal abgesehen davon, dass sich mir der Sinn von Noten für die individuelle Leistungsentwicklung noch nie erschlossen hat und ich Noten für komplett überflüssig halte, weil sie den Blick der Lehrenden und Lernenden sofort auf einen abstrakten Wert und nicht mehr auf den Lernprozess lenken – sie korrumpieren – finde ich es gesellschaftlich unklug, so mit Kindern umzugehen und menschlich voll daneben. Es führt dazu, dass der private Nachhilfesektor aufgebläht wird, jedes Jahr scharenweise Kinder die Schule wechseln müssen, die Verwaltung mit Zugängen und Abgängen beschäftigt ist sowie auch die Lehrkräfte neu beginnen, Beziehungen aufzubauen, die verlässlich der Bildung und Erziehung zuträglich sind. Offenbar kann sich unsere Gesellschaft das leisten, aber wozu?

Schule sollte als eine gesellschaftliche Institution eine sinnvolle Antwort sein auf die Fragen, die sich in einer Gesellschaft im Laufe der Geschichte im Bereich Bildung und Erziehung ergeben haben. Diese Fragen werden immer wieder neu gestellt. Es geht um: Ein reflexives und kritisches Verhältnis zur eigenen Geschichte, die Gelegenheit zur Zusammenarbeit, die Erfahrung von Gemeinsamkeit in der Vielfalt, individuelle Entfaltung und Leistung, politische Selbstständigkeit, Umgang mit Freiheit, persönliche und sachliche Vorbereitung auf das Erwachsenenleben… Mathematik und Grammatik sind Teil der Antwort.

Was wollen wir weitergeben?

Wie können wir zusammenarbeiten?

Wie lernt man Selbstzufriedenheit?

Wie lerne ich, Ziele zu erreichen?

Welche Ziele will ich erreichen?

Was will ich wissen?

Warum sind die Dinge so, wie sie sind?

Wie kann ich herausfinden, was ich kann?

Was kann ich?

Welche Antworten haben Wissenschaften gefunden?

Wie setzt man Erkenntnisse in Handlungen um?

Wie können unsere Zukunftsfragen gelöst werden?

Welche Antworten geben Weltanschauungen?

Auf alle diese Fragen kann Schule eine Antwort geben, wenn sie offen ist für diese Fragen. Wenn sie offen ist für alle Schüler und Schülerinnen. Wenn sie Vielfalt als eine Ressource, eine Chance, einen Gewinn sieht. Denn in der Demokratie können sich alle Menschen einsetzen, etwas gemeinsam schaffen und leisten. Dafür muss man aber jeden Tag zusammenkommen. Dieses Zusammenkommen und Zusammenarbeiten muss man lernen und üben. Einzelne großartige Leistungen darf es da auch geben.

Aber auf welche Frage antwortet das Gymnasium als Schulform? Auf keine.

Frieden, Erkenntnis, Gesundheit, Freiheit, Sicherheit, Demokratie und Kreativität sind unteilbare Erfahrungen, die in der Regel gemeinsam erlebt werden und auch gemeinsam gedacht werden. Sicher, man kann auch Frieden mit sich selbst schließen. Das muss und kann man auch lernen. Allerdings lernen Kinder und Jugendliche in der Regel mit anderen zusammen und an anderen. Jeder muss mitmachen können und müssen.

Ach! Im Grunde ist es ganz einfach: einem Kind zu sagen, es bringt die Leistung nicht, um an einer Schule zu bleiben, halte ich für herzlos. Was soll das?

21.3.22

Wir hatten uns einen Hund geliehen. Heute ist der neunte Tag und morgen wird Asta wieder zu ihrer Familie zurückgeführt. Unsere Freunde waren in New York. Da konnten sie den Hund nicht mitnehmen.

Asta liegt jeden Abend mit uns drei auf dem Sofa. Wir schauen Nachrichten, sie döst. Das gefällt ihr. Ich kann ziemlich genau sagen, warum ich keinen Hund mehr haben möchte. Auch keine Katze und auch kein Kaninchen, obwohl ich alle diese Tiere sehr mag und ich die Kaninchenmeditation: „Ich beobachte, ohne etwas zu wollen und zu sehnen die Kaninchen“ sehr genossen habe. Tiere brauchen Zuwendung. Und Erziehung – ein Hund mehr als eine Katze oder ein Kaninchen. Wenn ich am frühen Morgen aufstehe, denke ich daran, was das Tier jetzt braucht. Das gibt dem Tag einen guten Anfang, es lenkt mich aber auch ab von dem, was ich gerade möchte. Da ich ohnehin den ganzen Tag mit Erziehung und Umsichtigkeit zu tun habe, bin ich froh, wenn ich am frühen Morgen nur an mich und Worte denken und am Abend Zeitung lesen darf. So ist es.

Asta schaut mich kurz an. So ist es.

Manchmal so und manchmal so. So ist es.

19.3.22

Heute habe ich den Sonnenaufgang beobachtet. Ich bin in Köln in der Sporthochschule untergebracht und schaue in Richtung Osten. Vor meinem Fenster stehen hohe Bäume. So hoch, dass sie im vierten Stock noch den Himmel durchpeitschen. Um sechs Uhr zieht sich von links nach rechts ein rotes Band über den Wald hinter den Bäumen, hinter der Laufbahn vor dem Fenster. Das Licht verändert sich von Minute zu Minute, erst langsam, dann immer schneller. Um sieben ist der Streifen schon gelborange. Jetzt gibt es keinen Streifen mehr, der Himmel ist hellblau und die Sonne ist da.

17.3.22

Wie die Dinge nebeneinander liegen, erscheint empörend. Die Fähigkeit, die Dinge wahrzunehmen und sie zu bewerten sind verschieden. Das ist ein Fluch und ein Segen zugleich. In Facebook ein Streit unter Freunden, ob wir sofort das Gas zudrehen sollten oder nicht. Immerhin dürfen wir öffentlich darüber streiten. Ich entscheide mich dafür. Ich wäre dafür. Aber ich wäre gegen einen militärischen Gegenangriff. Ich könnte mir Friedenstruppen vorstellen, die sich verteidigen dürfen. Ein feiner Unterschied. Ich erhebe keinen Anspruch auf Durchblicken. Ich blicke nicht durch, ich versuche nur überhaupt irgendetwas zu erkennen. Dabei entdecke ich den einen oder anderen Faden, den ich wichtig finde. Auf die feinen Unterschiede kommt es an, wenn man nicht mit einem Hieb alles durchtrennen mag. Die Dinge, die nebeneinander liegen zu sehen und sich zu empören, das sind offenbar zwei Fähigkeiten.

14.3.22

Heute Morgen tropft und fließt es vor dem Fenster. Es regnet. Dem Taunus gefällt es. Menschen auf der Flucht nicht.

Wie die Dinge nebeneinander liegen, erscheint mitunter empörend. Mitunter belanglos. Es erscheint mir wichtig, dabei zu bleiben zu beschreiben, wie es nebeneinander, aufeinander, hintereinander, beieinander liegt. Es erscheint mir wichtig, bei der Beschreibung zu bleiben, denn nur dann kann ich etwas sehen.

13.3.

Tagelang tanke ich Vitamin D: blauer Himmel, stellenweise dunkelblau. Mathias sagt: Es könnte Ligurien sein: Erdbeere schmeckt wie Zentis. Was war nochmal das Original? Wenn die Sonne herauskommt und der Himmel sich aufspreizt, ist Ligurien überall. Erdbeeren auch. Ich sehe die kleinen Blättchen überall im Garten. Sie werden wieder wachsen. Die Schlüsselblumen recken sich.

Der Taunus dagegen staubt vor sich hin. Am Horizont ein leichtes Lichtflirren über den hellbraunen Feldern. Die Weiden sind gelb wie sonst im August. Der Boden ist hart. Die Wanderschuhe machen ein helles Tock Tock.

10.3.22

Aufbrechende Nektarinenblüte und Kriegsgeschrei.

100 Milliarden für Panzer und Raketen und Soldaten.

Warum nicht für Aufforstungen im Regenwald?

Warum nicht für Energiesparmaßnahmen?

Warum nicht für digitale Endgeräte in den Schulen?

Warum nicht für Frauenhäuser?

Warum nicht für Tempolimit?

Warum nicht für Bauern in Afrika?

Warum nicht für angemessene Möbel in Schulen?

Warum nicht für das bedingungslose Grundeinkommen?

Warum nicht für mehr Glaswirtschaft statt Plastik?

Warum nicht für dezentrale Energiewirtschaft aus regenerativen Techniken?

Warum nicht für ordentliche Putzverträge in Schulen?

Warum nicht für eine ordentliche Bezahlung im Gesundheits- und Pflegewesen?

Warum nicht für die Abschaffung des Turbokapitalismus?

Warum nicht für den Wiederaufbau in Syrien, Libyen, Afghanistan?

Warum nicht für Aktionen von Anonymous zum Aufbau einer digitalen und politischen Emanzipation in Diktaturen?

Warum nicht für kleine, phantasievolle Kindergärten?

Warum nicht für den Ausbau der Bahn?

Warum nicht für einen Schutzschirm über Israel?

Warum nicht für eine Wiedergutmachung an den Indigenen in Amerika, Afrika, Australien?

Warum nicht den Aufbau einer nachhaltigen und sozialen Textilwirtschaft in Bangladesch?

Es gibt so wahnsinnig viele gute Dinge, die man tun kann.

9.3.22

Ein Gedicht von meiner Freundin Annette Rossalidis:

Sag
Krieg
mir
Krieg
wo
im Krieg
die Blumen
im Krieg
sind
Krieg
wo
im Krieg
sind
Krieg
sie
Krieg
geblieben
im Krieg
wann
nie
wird
nie
man
im Krieg
je
nie
ver
nie

STEHEN !

8.3.22

Hin und her gerissen.

Der Kaffee wird darüber kalt.

Worte dauern heute lang. Sie fließen nicht, sie rutschen und zeigen sich nicht von der richtigen Seite.

Ich möchte gerne sagen können, mit Überzeugung und die Worte wären gleich Tat: Unser Bündnis wird die Demokratie verteidigen. Wir sind so stark, dass wir uns nichts gefallen lassen. Die Aufrüstung wird Konflikte in Zukunft verhindern. Aber wieso sollte ich diesen Worten, die in mir rutschen, glauben? Waffen landen immer auch in falschen Händen. Soldatentum heißt immer Gefolgschaft. Jede Kreuzer für das Militär ist ein Kreuzer weniger für das Klima. Wo sind die anderen Ideen: 100.000 Nackte an die Grenze? Dicke Wollpullis, statt blutverschmiertes Gas. Ziviler Ungehorsam: die Kirche ruft auf, die Gewerkschaften rufen auf, die Mütter lassen ihre Söhne zu Hause.

Hin und her gerissen.

4.3.22

Wikipedia ist einfach Gold Wert. Man kann sich ganz schnell über einen angeblichen Einflüsterer Putins informieren. Er trägt den Namen Dugin und sieht auch so aus. Bart, grau, alt. Hat die passende Ideologie zu einem Angriffskrieg: die Moderne sei verdorben, das eurasische Volk sei besonders wertvoll und eigen, das eurasische Volk brauche Raum, der Körper muss sportlich und gesund sein. Kommt einem aus der Geschichte bekannt vor? Die neue Rechte ist wohl eher die alte Rechte. Ich wache auf mit den Nachrichten, dass die Russen ein Atomkraftwerk in der Ukraine beschossen haben. Auch das kommt mir bekannt vor. Meine erste längere Erzählung beginnt mit dem Störfall Tschernobyl. Warum studiert man Geschichte? Die Menschen lernen ganz Unterschiedliches aus der Geschichte. Und deswegen ist nur eines Alternativlos: die Demokratie und die Gewaltenteilung, die kulturelle Liberalität und Gleichheit aller Menschen. Wahrscheinlich habe ich etwas vergessen. Das macht nichts. Es gibt ja auch hier genug, die mitdenken.

Der Held meiner aktuellen Erzählung treibt sich gerade im Costa Ricanischen Nebelwald herum und beobachtet einen rituellen Tanz. Dort geht es auch um Leben und Tod. Aber es findet nur in meinem Kopf statt. Mein Kopf sind mehrere Welten. Alles nebeneinander. Und nichts geht kaputt.

1.3.22

Es prasseln Fragen nieder auf alle Menschen, die nachdenken. Geht Widerstand nur militärisch? Sollen junge Männer in den Kampf ziehen? An welche Länder und Regierungen oder Gruppierungen verkauft man Waffen? Sind syrische Migranten, die ihr Land im Krieg nicht verteidigen, Schlappschwänze? Sind uns die Ukrainer kulturell verwandter als die Menschen aus Mali? Was tun mit einem wildgewordenen Diktator? Hat Putin noch einen Rest Rationalität? Wird er das „große Besteck“ auspacken? Das klingt wie eine Frage im S/M-Puff: Soll ich das große Besteck auspacken? Oh ja, ich werde schon feucht. Nein, kein bisschen!

Mich haben die Einschätzungen einiger Experten und Expertinnen zum Russlandfeldzug 2022 und zu der Frage, welcher Kampf da im Osten Europas geführt werde, überzeugt und beeindruckt. Im Moment kann man jeden Abend einen Brennpunkt oder eine Talkshow zu dem Thema sehen. Durchaus verlangen Freiheit und Liberalität persönlichen und gesellschaftlichen Einsatz. Mitunter auch militärischen. Da waren sich die Wissenschaftlerin und der ehemalige Offizier der Bundeswehr auch einig. Da gehe ich auch mit, ich bin keine Radikalpazifistin. Vermutlich begann der Konflikt tatsächlich bereits vor zwanzig Jahren, als es um die Demokratisierung von Gesellschaft ging. Diktatoren können es schlecht vertragen, wenn der Nachbarstaat mit Demokratie genauso funktioniert oder besser. Tom, Mathias und ich spielen regelmäßig „Diktatoren-MauaMau“, wenn wir in die Kneipe gehen. Es geht wie „MauMau“, nur mit Sonderregeln: bei 9 wird die Richtung gewechselt und statt „Mau“ und „MauMau“ muss man Diktatoren nennen. Selbstverständlich dürfen sich die Diktatoren nicht wiederholen. Es gibt erstaunlich viele. Mitunter rangeln wir etwas, ob dies als „Diktator“ bereits durchgeht. Tom und Mathias beherrschen die Namen der nordkoreanischen und chinesischen Machthaber ebenso flüssig wie die russischen, lateinamerikanischen und europäischen. Ich grase meist nur den Westen ab. Das reicht, um zu gewinnen.

Aber warum plötzlich Frauen und Kinder in Sicherheit gebracht werden, während junge Männer alle kämpfen sollen, leuchtet mir nicht ein. Also Kinder in Sicherheit zu bringen, leuchtet mir schon ein. Es schleicht sich in das öffentliche Reden eine rhetorische Figur, dessen geistige Elternschaft im Patriachat des 19. Jahrhunderts liegt: Männer müssen kämpfen. Also, wenn überhaupt jemand kämpfen muss, dann können wohl alle Erwachsenen kämpfen, die sich das zutrauen.

Allerdings wird das Diktatoren-Mau-Mau auch sehr von männlichen Diktatoren beherrscht. Wenn Frauen auch kämpfen sollen, müssen sie auch gleichwertig Diktatorinnen werden dürfen. Nicht jede gedankliche Volte ist es wert, weitergedacht zu werden.

28.2.22

Eben noch Corona, jetzt schon Krieg.

Die Einschätzung, die den Preis für „vollkommen daneben“ bekommt, wurde von Wagenknecht geäußert. Sie hat sehr deutlich vor der Kamera formuliert, dass Russland kein Interesse am Einmarsch in der Ukraine hätte, sie sagte in einer Talkshow: „Wir können heilfroh sein, dass der Putin nicht so ist, wie er dargestellt wird: ein durchgeknallter Nationalist, der sich berauscht, Grenzen zu verschieben.“ Ich habe es ausnahmsweise gesehen und war beeindruckt davon, wie sehr sie es aushält, eine klare, aber sehr abseitige Meinung zu haben. Normalerweise schaue ich mir die Talkshow von Anne Will nicht mehr an. Meist lerne ich nichts dazu. Wagenknecht wirkt wie reines, kaltes Bergquellwasser. Ich finde, sie hat nicht immer Unrecht. Dass sie sich so täuscht, dachte ich nicht. Ich denke, es ist gut, sich ab und zu eine Meinung anzuhören, die nicht die eigene ist, damit man nicht einrostet. Ich würde gerne verstehen, welche Gründe Putin und die Regierung von Russland hat, in ein unabhängiges Land einzumarschieren. Alles, was ich bisher gehört habe, ist ziemlich nationalistischer, kriegerischer, machtpolitischer Kram. Ich kann geostrategische Erwägungen schon verstehen und halte die Nato auch nicht für einen Friedensclub, aber bisher hat mich noch kein Argument für die Russen überzeugt. Vielleicht sind es sie Steroide oder es wird in der politischen und militärischen Machtelite zu viel Crystal meth geraucht? Das würde ich gerne annehmen, dann wäre die Therapie klar.

Das Thema des Tages hat sich jetzt jedenfalls verschoben. Und vielleicht schreiben die Coronomaßnahmengegner jetzt ja alle ihre Schilder um. Statt „Stoppt den Impfholocaust“ können sie jetzt draufschreiben: „Stoppt den Krieg!“ Da wäre ich dann auch dabei.

20.3.22

Ich habe an einem anderen Text gearbeitet. Zwischendurch wollte das Laub gerecht werden, das habe ich getan. Die Krokusse und Narzissen sprießen. Ein Rotkehlchen ward auch gesehen. Im Ahorn, der noch nackt ist. Allerdings schlägt die Nektarine bereits aus.

10.3.22

Mein Laptop macht leicht Gurr-Geräusche. Mein Liebster auch. Vorzugsweise morgens um vier. Mein Laptop dagegen erst ab 5 Uhr in der Früh.

Mir wurde gesagt, dass ich das des Nachts auch tue: leicht Gurren oder Schnarchen. Ich selbst höre mich erfreulicherweise nicht. Es würde mich nämlich stören.

Ich fürchte, ich werde mir einen neuen Laptop kaufen müssen: bald.

Als unsere Kaninchen vor drei Jahren sehr krank waren, habe ich ein einziges Mal angedeutet, es wäre vielleicht besser, zum Tierarzt zu gehen und sie vom Leid, nicht mehr laufen zu können und im eigenen Urin liegen zu müssen, mit einer Spritze zu befreien. Für Fluchttiere ist das Stress, nicht laufen zu können. Wir haben über ein halbes Jahr beide Tiere in einem Abstand von einem Jahr jeden Morgen gebadet und geföhnt. Das Föhnen gefiel beiden. Das Waschen gar nicht. Tom antwortete: „Wenn du mal alt bist, gebe ich dir auch eine Spritze, um dich vom Leid zu erlösen.“ Mein Sohn neigt zu drastischen Antworten. Damit war das Thema erledigt und wir pflegten Dobby und Pigwidgeon bis zum letzten Tag. Ich habe sie gerne gepflegt, gleichwohl dauerten die beiden mich sehr.

Vielleicht werde ich irgendwann eine Spritze haben wollen. Aber noch nicht. An einem neuen Laptop werde ich allerdings nicht vorbeikommen, wenn das leichte Gurren und Gurgeln der Lüftung nicht aufhört.

3.2.22

Seit ein paar Tagen darf ich wieder das Haus verlassen. Es macht mich glücklich. Gestern hatte ich eine Erfahrung, die mich ziemlich verzweifelt machte. Das ist der Nachteil an der Freiheit: ich erlebe Dinge, die ich lieber nicht erleben möchte.

27.1.22

Die Bauarbeiter von gegenüber sprechen alle kein Deutsch untereinander. Die Baubranche scheint fest in osteuropäischer Hand. Der Kopf der Firma ist vielleicht deutsch, aber die Köpfe der Hände, die hier am Werk sind, scheinen alle eine andere Muttersprache zu sprechen. Der Begriff „Muttersprache“ ist in linguistischen Debatten aus unterschiedlichen, teils sehr nachvollziehbaren theoretischen Gründen etwas in die Kritik geraten. Es gibt Kinder, die bei Vätern aufwachsen, mitunter sprechen die Mütter auch verschiedene Sprachen und solche Dinge. Man kann es auch „Herkunftssprache“ oder „Erstsprache“ nennen, aber den Begriff „Muttersprache“ mag ich, weil er etwas bezeichnet, das in den anderen Begriffen verloren gegangen ist: er verweist auf einen Moment, über den man nicht selbst verfügen kann, er wird einem geschenkt, der Moment des „auf die Welt Kommens“; der einer ist, den man sich weder selbst aussucht, noch bestimmen, noch bewusst gestalten kann. Der Moment der Geburt war einfach da, wie der Tod einfach da ist, und die Mutter hat einem bis zu diesem Punkt etwas gegeben, was man nicht ablehnen konnte. Die Sprache, die die Mutter gesprochen hat, ist über den Punkt des Geborenseins hinaus die erste, die wir hören. Das kann selbstverständlich auch der Vater sein, aber es muss ja irgendwie benannt werden und die Mutter ist eben die erste Bezugsperson. Dieser Person ist der Säugling auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Dass es „Muttersprache“ heißt, verweist auf dieses unbedingte, ausgelieferte und leider auch gar nicht aussuchbare Verhältnis: Muttersein und Kindsein. Die Muttersprache kommt bereits metaphorisch gesprochen durch die Nabelschnur. Daraus folgt noch nicht zwingend eine Art zu denken oder eine Art zu sein. Ich bin keine Biologistin. Aber es folgt daraus ein existenzielles Ausgeliefertsein, dem ich mich erst später entziehen, gegen das ich revoltieren kann. Gott sei Dank! Nichts ist Gott gegeben, eben nur Mutter gegeben. Der Begriff „Muttersprache“ trägt Leben und Unbedingtheit, Geworfensein, Beziehung und kulturellen Reichtum mit sich. Denn das ist es ja auch, was einem die Muttersprache anbietet: eine ganze Welt, wie sie geworden ist. Die Muttersprache und die Nationalität sind selbstverständlich zwei verschiedene paar Schuhe. Demnach können die Arbeiter auf der Baustelle auch Deutsche sein. Ganz eindeutig war aber ihre Muttersprache eine, die ich nicht verstand. Italienisch, Spanisch, Französisch, Portugiesisch, Niederländisch war es nicht. Das Haus wird fertiggestellt von einigen sprechenden und singenden Männern und ich hoffe, dass ihre Muttersprache oder Muttersprachen in das Gemäuer eingewebt sind, dass sie dort Spuren hinterlassen, die die Bewohner irgendwann einatmen mögen.

24.1.22

Ich habe eben aus einer Laune heraus und weil ich eine Lesepause brauchte „So wie Gott sie schuf“, eine Dokumentation über quere Menschen in der katholischen Kirche gesehen. Ich wusste, dass es so etwas wie ein Loyalitätsgebot bei katholischen Arbeitgebern gibt, das ein Leben in gleichgeschlechtlichen Ehegemeinschaften verbietet oder allein schon das Bekenntnis zur Homosexualität ablehnt, aber die Schicksale dieser Menschen überstiegen mein Vorstellungsvermögen. Ich war gerührt und empört zugleich. Ich hätte gerne sofort meine Unterstützung angeboten, eine Mail geschrieben und eine Petition unterzeichnet. Aber ich bin ja gar kein Mitglied in diesem Club. Aus gutem Grund.

23.1.22

Der Husten ist nur noch ein ganz kleiner. Ich schlafe, schreibe, lese Jonathan Franzen, esse ein Äpfelchen, lese, sehe einen Film und arbeite ein klitzekleines Bisschen.

Meine Welt besteht aus einem Ikea-Sofa, einen Blick in den Garten, eine Lampe, Beistelltisch und ein Höckerchen. Nebenan höre ich meine Liebsten. Eine kurze Zeit im Absonderungs- oder Isolierungskokon ist gar nicht so schlimm, wenn man keine schlimme Erkrankung hat.  Und davon gehe ich jetzt aus, dass ich diesen Teufel Covid 19 nur in leichter Variante kennen gelernt habe.

21.1.22

Die Milch ist alle und ich trinke Hafermilch in den Kaffee. Geht gut. Krisen zwingen zur Neuorientierung. Ich lebe in einer Welt, in der das ein Thema ist: Was trinkst du im Kaffee? Ich halte das nicht für eine bedeutende Frage, weder moralisch noch politisch. Aber die Soziologen haben festgestellt, dass wir zum postmateriellen Milieu gehören. Nun gut, die Stichworte passen, allerdings mögen die Erforschten selten, dass man einsortiert wird. Das ist ein wohltuender Reflex gegen die Versozialwissenschaftlichung der Lebenswelten. Meine Lebenswelt besteht in der Regel ja auch aus einem Sammelsurium an Ereignissen und Produkten und vielen verschiedenen Menschen, die einmal Platz nehmen und ein andermal gehen.

Seit Montag besteht meine Lebenswelt aus 12 qm: Bett in der Mitte. Ich befinde mich in der „Absonderung“ oder auch „Isolierung“. Wenn einer der zwei Mitbewohner hereinkommt, ziehen wir Maske an. Das Essen bekomme ich schnell hereingereicht. Wir schauen zeitgleich den gleichen Film und schreien dann durch die Wohnung, wie er uns gefallen hat. Die Zähne gehe ich erst putzen, wenn die anderen aus dem Haus sind oder weit weg. Außer einem quälenden Husten habe ich kaum Symptome, am Dienstag hatte ich Fieber, Kopfschmerzen, die Glieder waren schwer. Aber seit Mittwoch nur noch Husten. Den kenne ich ja schon. Er mag mich. Wohnt gerne bei mir. Wenn ich die linke Hand auf das Dekoltee lege und mich nicht bewege, geht es besser. Warum es die linke Hand sein muss, weiß ich auch nicht.

17.1.22

Mein Lieblingsmärchen ist das mit den zwölf Brüdern, die dann zu Schwänen werden und von der kleinen Schwester durch Hemden gerettet werden, die sie auf einem Wagen zum Scheiterhaufen fertig webt oder spinnt und ihren Brüdern überwirft. Die Brüder werden wieder Menschen und auch sie ist gerettet. Die Arme muss aus Brennnesseln weben und darf niemanden sagen, warum sie das tut. Es ist natürlich von Andersen. Die Gestalt des tapferen Mädchens hat mich immer berührt.

Morgen darf ich ganz viele Märchen lesen, weil ich ein paar Tage zuhause bleiben muss. Mir geht es gut, nur meine Nase ist verstopft. Ich rieche und schmecke normal, vielleicht ist mein Hals ein kleinwenig rau.

10.1.22

Gestern gab es gegen elf Streit am Wasserbad. Es ist das Unterteil eines Playmobilpiratenbootes, das wir von unserer Nachbarin 1999 abgekauft hatten. Es war bereits an einiges Stellen kaputt, aber ich hatte es mit Gummiringen und Kunststoffkleber hergerichtet und Finn gefiel es. Mir auch. Ich holte den Anker mit einem Zahnrad ein, während er das Schiff manövrierte. Falls ich einmal anheuern müsste, ich wäre bereit.

Das Unterteil des Piratenbootes dient seit einigen Jahren schon den Vögeln im Garten als Bad. Ich hatte auf einem meiner vielen und regelmäßigen Ausflüge ins Internet gelesen, dass man ein solches im Garten aufstellen soll, und ich muss sagen, das war eine gute Idee, denn ich habe hier immer wieder was zu gucken.

Um elf kommen jeden Tag die Spatzen eingeflogen. Ich würde sagen, es sind acht bis zwölf. Auf jeden Fall eine märchenhafte Zahl. Könnten also Brüder oder in einer moderneren Variante des Märchens auch Schwestern sein. Schwäne kommen nie in unseren Garten. Immer um elf, zumindest am Wochenende, fliegen sie ein und fallen über die Meisenknödel her. Das dient auch den Amseln, da die Spatzen so wild sind, dass einige Körner und Fettpartikel der Knödel auf den Rasen regnen. Die Amseln suchen jedenfalls unter den Knödeln bevorzugt. Aber nicht nur das, auch im Laub verdingen sie sich, die Amseln; besonders die Weibchen, die man vom Fenster aus nicht sieht, weil sie Ton in Ton mit dem Laub gehen. Ich sehe nur, dass das Laub scheinbar aus sich selbst heraus hochgewirbelt wird, so dass es danach über die Wiese versprenkelt liegt. Bei genauerem Hinsehen und ohne Brille erkenne ich das Amselweibchen, das nach Würmern sucht. Die anderen Amseln unter den Knödeln nehmen Fett und Regenwürmer und Engerlinge mit.

Um elf gibt es ein Bad.

Zwei Spatzen werden von einer Amseldame etwas rüde verjagt. Sie hackt nach ihnen. Es kommt zu keinem Blutvergießen, da die Spatzen ausweichen, aber die Geste ist sehr deutlich. Die Amsel braucht das lange Becken für sich. Sie badet, hüpft raus und badet, schüttelt sich und von vorne. Dann aber kommen die Genossen der beiden Spatzen und sie bilden einen Kreis am Rand des Bootes. Die Amsel sitzt still. Die Spatzen werden frecher und machen ein Kopfbad, während die Amsel noch im Wasser sitzt. Platz macht sie erst nach einigen würdigen Minuten im Boot. Fünf Spatzen stürzen sich gleichzeitig in das Wasser und spielen das gleiche Spiel wie zuvor die Amsel mit raushüpfen, schütteln und wieder reinhüpfen und plantschen. Es passen vier Kerlchen gleichzeitig in das Boot. Die Amseln haben genug vom Baden. Ich fülle das verbrauchte Wasser später nach.

Dieses Boot war sein Geld wert. Ich danke Playmobil für die Wertarbeit und dem Herrgott für den trüben Tag im Januar, an dem ich im Bett sitzen (mit einem Kaffee aus der italienischen Espressokanne) und den Piepmatzen zuschauen darf. So lange, bis mir einfällt, was ich schreiben will.

7.1.2022

Ich muss mich erst an das neue Jahr gewöhnen. Ich vermisse noch den täglichen Blick auf den Kalender des Scheiterns, den wir im letzten Jahr im Bad stehen hatten und den ich jeden Morgen, ein Jahr lang, abgerissen habe. Wenn Tom einmal woanders übernachtete, musste ich die Blätter aufheben. Wir haben jedes einzelne Blatt gelesen. Der neue Kalender ist anders.

4.1.22

Es regnet und regnet.

Und regnet.

Wir wandern entlang des Pfälzer Waldes und betrachten die Kastanienblätter, die weinenden Baumstämme der Eichen, an deren Stammende kleine Schaumblasen geworfen werden, das saftig grüne Moos, die orange-rote Erde an Stellen, die unter dem Laub hervorzeigen.

Es regnet.

1.1.22

Ich bin selbstverständlich mehr als Frankfurterin. Ich fühle mich auch als Norwegerin. Ich weiß nicht warum, es ist einfach so. Ich war erst einmal in Norwegen. Aber dieses eine Mal hat gereicht, um mir das Gefühl zu geben, hier bin ich zuhause. Diese Landschaft ist genau meine. Überall ist Meer und Berg. Ich spreche kein Norwegisch, aber ich würde es lernen. Es ist wie eine heimliche Liebe. NORWEGEN…

Es gibt noch andere Kränkungen, die ich erleide. Nicht nur das Norwegen nicht nach mir ruft. Frankfurt auch nicht. Wenn eine Freundin mir zu Silvester einen Korb gibt. Wenn eine Kollegin behauptet, lesen und schreiben beibringen könne ja jeder. Wenn jemand im Nebenraum tuschelt. Wenn ich nur die „Bekannte“ bin, aber nicht die Freundin. Wenn mein Liebster mich in einem Gespräch mit anderen am Tisch die ganze Zeit über nicht ansieht. Wenn ich im Café nicht bedient werde. Wenn sich in einer Videokonferenz die anderen alle duzen, nur ich werde mit Frau Dr. Gölitzer angesprochen.

Ich schweife ab und die Liste könnte unendlich lang werden. Andererseits ist es lächerlich, so einen Kleinkram vorzubringen.

Gestern Nacht kurz vor 12 Uhr mitteleuropäische Zeit wanderten mein Liebster und ich über die Felder im Taunus. Mit Abstand quiekten plötzlich die Wildschweine, es grunzte leise. Wir standen still und rührten uns nicht, weil wir Respekt vor den wilden Schweinen haben. Das war ein starkes Gefühl: Der Wind strich mir vorsichtig die Haare aus dem Gesicht, alles in mir war auf „Hab Acht!“ Wir konnten nicht sehen, hörten nur die Tiere, die etwas 30 Meter von uns am Wald entlang schnüffelten. Sie nahmen uns wohl wahr, denn sie entfernten sich und ich hörte ganz deutlich den einen zum anderen sagen: „Was wollen die denn hier mitten in der Nacht?“ Es war ein Halbstarker, der vielleicht auch noch etwas nähergekommen wäre. Ich war froh, dass die Vernunft siegte, nicht die pure, aber doch die Vernunft.

Wir schlenderten nach einer Weile zum Auto, fuhren nach Hause, tranken einen Sekt und tanzen auf unserem Bauhausteppich bis die Schwarte krachte. Ich vergaß allen Unbill.

29.12.21

Manchmal komme selbst ich mir fremd vor in meiner Welt und ich frage mich, was ich bin.

Wenn mein Schwiegervater meint, ich sei keine Frankfurterin. Wenn mein Mann sagt, Bad Schwalbach sei meine Heimat. Wenn meine Mutter sagt, ich sei ein Schwalbacher Mädchen. Wenn jemand meint, „typisch Frau“. Wenn jemand sagt, „typisch deutsch“. Es fallen mir noch mehr Stellen ein, an denen ich mich verkriechen möchte, weil andere mir einen Platz zuweisen, den ich gar nicht haben möchte. Es ist ja die Wahrheit, dass man in den Augen der anderen oft etwas anderes ist als man denkt oder fühlt. Es ist ja auch nicht schlimm. Das Einwohnermeldeamt stimmt mir zu: Ich bin Frankfurterin.Aber schön ist es nicht, denn die Wahrheit ist, ich lebe seit bald vierzig Jahren in Frankfurt. Was soll ich sonst sein als Frankfurterin? Ich fühle mich auch sehr als Norwegerin. Aber wahrscheinlich bin ich da auch nur „agebloggt“.

28.12.21

Diese Tage zwischen den Jahren sind ganz besonders. Jeder Tag zerfließt langsam. Auf der Straße laufen Familien mit Kindern etwas langsamer als sonst umher. Es regnet. Selten schneit es. Es ist mal kalt, mal mild. Dieses Jahr ist es abwechslungsreich kalt und mild. Die Kinder haben lustige Mützen an, Häkelmuster. Die Frauen auch. Die Männer auch. Ich fahre mit dem Fahrrad durch das Nordend und jeder Atemzug ist wie das Jahrhundert, das Jahrtausend einziehen. Mein Klavierlehrer plaudert mit mir. Das macht er oft, aber zwischen den Jahren fühlt es sich an wie verwelkendes Laub. Es riecht ein bisschen modrig, aber angenehm. Nur nicht hinlegen, sonst wird man selbst zum Laub. Die Uhr ist angehalten zwischen Weihnachten und Silvester und jeder Schritt, jede Strecke fühlt sich etwas an wie der letzte Schritt, die letzte Strecke. Zugleich aber ist nichts traurig. Eher abwartend. Das Jahr geht zu Ende, ich fange nichts Neues mehr an. Ich bin weder euphorisch noch tatkräftig. Eher räsonierend und inventarisierend. Was soll bleiben, was kann gehen? Das Wort „räsonierend“ allein ist bereits wunderschön. Es ist wert zu sein und zu vergehen. Ich würde gerne ein paar Pfunde loswerden, aber so wichtig ist es dann doch nicht. Das ist eben die Zeit zwischen den Jahren. Sie tröpfelt so vor sich hin und ich tröpfele mit. Bloß keinen Aufriss machen. Lieber ein bisschen aufräumen. Und ein Buch lesen. Erst eines zu Josephine Baker, dann eines von Edgar Selge, dann wieder ein Sachbuch. Dann schreiben. Am liebsten bin ich sowieso mit meinen eigenen Gedanken zusammen. Dazu ist die Zeit zwischen den Jahren auch gut. Da erwischt mich niemand dabei, wie wohl ich mich zwischen den Kissen fühle. Draußen regnet es. Die Mützen dürfen ausgezogen werden. Man darf jetzt ablegen.

27.12.21

Eine echte, saftige, gelbe, saure, wunderbar riechende Zitrone! In meinem Tee. Vorher hing sie am Baum. MHMMMM

25.12.21

Gestern war ein milder Tag. In jeder Beziehung mild. Wir kamen alle gut miteinander aus: meine Söhne, mein Schwiegervater, mein Liebster und ich. Wir spazierten am Nachmittag durch die Schrebergärten, die grüne Lunge Frankfurts und genossen die feuchte, aber sehr schmeichelnde Luft. Danach wurde gekocht und wir verspeisten einen geräucherten Lachs, Reis mit Granatapfel und Oliven. Ich erntete unsere Zitrone und machte eine Zitronencreme, die eher ein Zitronenkuchen wurde. Wir beschenkten uns, zündeten den Baum an und Mathias und ich spielten dem geneigten Publikum ein bruitistisches Krippenspiel vor. Es gab nur wenig Pannen, weil ich mich versprach und Mathias den Text nicht lesen konnte. Nachdem alle satt getrunken und gegessen hatten, spielten wir das Hutspiel, bei dem man Begriffe erraten muss und deshalb laut und schnell schreien darf und danach verdunkelten wir die Wohnung und spielten Verstecken. Das war ein Spaß! Im Dunkeln auf warme Haut zu greifen ist wahnsinnig unheimlich. Noch unheimlicher ist es, wenn sich der Suchende leise neben einen setzt, weil er einen gefunden hat und nicht zugreift. Ich prustete mindestens fünfmal laut los. Eine Eruption des Gefundenwerdens. Gefundenseins. Gesehenwerdens. Erlöstseins. Aufgehobenseins. Gott wäre zufrieden mit uns.

20.12.21

Es hat über eine Woche gedauert, bis die Meisen die Meisenknödel anfliegen und zu picken beginnen. Gestern Nachmittag war es schön, wie es Mitte Dezember in Frankfurt schön sein kann: Die Sonne leuchtete in den Garten und das vergilbte und braune Laub glänzte. Es war nicht sehr kalt. Das Ehepaar Kohlmeise tanzte durch den nackten Ahorn und auch Herr und Frau Amsel trauten sich heran an den Knödel. Zu meiner Freude setzten sich die kleinen Meisen sogar auf den Futtertrog, auf dem sie hin und her schaukelten und pickten.

18.12.21

Es gibt zwischen 12 und 18 Jahren unglaublich viel Gemeinheit. Das haut mich immer wieder um. Meine eigene ausgehende Kindheit ist voll davon. Jungen, die mich in den Po pieksen, die mich umhauen, mir an den empfindsamen Busen grapschen, Klassenkameraden, die dummes Zeug erzählen und mich vernichtend bewerten. Die Schüchternen werden gerne Opfer solcher Übergriffe. Mein Sohn berichtet unter Tränen, was er erlebt hat zwischen 12 und 16 Jahren. In der Klasse rückt eine Pang weg von ihm, wenn er sich neben sie auf den freien Stuhl setzt. Sein Freund Malte antwortet unverblümt auf die Frage von Pang, wen er lieber hätte, Felix oder Tom, „Felix“. Tom sitzt dabei, als wäre er nicht da. Andere verstellen ihm den Weg, auf einer Englandfahrt gehen seine Fußballfreunde lieber ohne ihn durch die Stadt. Sie sagen und zeigen ihm, dass er nicht dazu gehört. Tag um Tag, Jahr um Jahr erlebt er, dass andere ihn komisch finden, dass er nicht dazu gehört.

Ich würde ihm diese Erfahrungen gerne erspart haben.

Irgendwann war ich über diese Art Ausgrenzung hinweg. Es kann zu einer Lebensaufgabe werden, diese Erniedrigung nicht mehr zu spüren, andere davor zu bewahren. Aber ganz offenbar ist kein Kraut dagegen gewachsen.

17.12.21

War es letztes Jahr um diese Zeit als ich über Woody Allen nachdachte? Einmal im Jahr muss ich über ihn nachdenken. Was tut er? Ich denke, er macht keine Filme mehr. Ich vermisse Leute wie ihn. Oder Mia Farrow. Zarte, empfindliche und ungerechte Menschen. Ich weiß, sie haben sich heillos zerstritten. Das tut mir leid. Ich kann nicht beurteilen, was geschehen ist. Ich möchte beide weiter als Künstler sehen dürfen, die mir etwas gegeben haben. Etwas nahezu Unzerstörbares: Versöhnlich mit dem Zweifel umzugehen. Ich komme immer wieder darauf zurück.

Man kann schwere Fragen nicht mit einfachen Antworten beantworten.

Daran ändert auch ein Friedrich Merz nichts.

14.12.21

Das Einschlürfen des Kaffees am Morgen ist wie das Einsaugen eines Lebenssaftes. Heute Morgen betrachte ich die Physalis, die sich quer zum Fenster Richtung Schreibtisch schlängelt. Was will diese Pflanze vom Schreibtisch meines Liebsten, auf dem Rechnungen, Aufträge und Notizen liegen in seiner kleinen, feinen dünnen Handschrift, die ich liebe. Ich erkenne sie sofort. Jedes Wort ist richtig geschrieben, nicht wie bei mir, jedes Wort will gemerkt sein. Seine Notizen sind nicht invasiv, nicht nebenbei. Sein schmaler Schreibtisch trägt die nur teilweise ordentlich zusammengelegten Papier und mit einem Mal beneide ich die Pflanze. Sie darf den ganzen Tag hinter ihm sitzen.

13.12.21

Immer hat alles Vor- und Nachteile. Das bringt mich noch irgendwann um. Nichts auf dieser Welt ist wirklich nur einfach toll, gut, prima, super und soll immer so sein. Das Ausbleiben der monatlichen Blutungen besinge ich mit Engelsstimme, aber die papierne Haut, die das fehlende Östrogen hinterlässt, würde ich eintauschen. Mein haarscharfer Verstand wird immer besser, aber mein Vokabelgedächtnis ist ein Jammertal. Wenn man Kinder hat und sie liebt, dann freut man sich, wenn man miteinander den Tag verbringt. Kaum sind sie weg, vermisst man sie. Wenn sie den ganzen Tag da sind, gehen sie einem auf den Nerven. Eine bequeme Hose sieht meistens nicht so gut aus, wie eine unbequeme.

Warum kann nicht einfach etwas einseitig sein: Einfach nur schön, nur gut, lecker, bequem, wunderbar? Ich frage mich das wirklich. Das muss doch mit unserem Konzept vom Gegenteil zu tun haben. Mit unserem Denken in Einerseits und Andererseits. Wenn wir das einfach wegließen?

Ich singe immer das Lied der Differenzierung, aber einmal singe ich das Lied der Einseitigkeit.

10.12.21

Ich fahre nachts durch den Taunuswald und denke in einem Waldabschnitt an einen Mann, den ich kannte. Er hieß Kevin und ich begehrte ihn und er begehrte mich. Ich hatte noch kein Auto, er führ mich mit seinem Opel von Wiesbaden bis nach Bad Schwalbach oder holte mich dort ab. Auf der Hohen Wurzel hielt er an. Wir quatschten im Dunkeln und küssten uns. Die Nacht war lang. Die Zeit war gedehnt und es gab nur wenige Male, die wir uns liebten. Der Wald ist mit ihm verbunden, seinem mageren bleichen Körper, der sich zärtlich auf mich legte. Ich habe selten einen Mann so vorsichtig und zugleich so sicher erlebt in seinen Bewegungen. Es war, als würde er meinen Körper schon gekannt haben, als sei er mit ihm vertraut. Dabei kannten wir uns nur kurz und es war schnell zuende mit uns. Tagsüber hatten wir uns wenig zu sagen. Es waren unsere Körper, die miteinander sprachen. Wenn er mich ansah, fühlte ich mich wunderschön.

Dieser Waldabschnitt gehört ihm. Ich würde ihn gerne wissen lassen, dass es immer so sein wird. Und dass ich seinen Körper noch spüre, dass ich manchmal von ihm träume.

9.12.21

Ich mag es am frühen Morgen allein zu sein. Selten steige ich an einer U-Bahn-Haltestelle aus, von der aus ich noch ein Stück laufen muss, bis zu dem Holzbau, in dem ich arbeite.

Ich habe auf dem Weg dorthin schon einiges erlebt. Einmal lauschte ich einem Zaunkönig. Ein anderes Mal weckte ich einen Mann, der auf dem Weg lag, weil ich fürchtete, er sei tot. Seit ein paar Wochen habe ich immer an derselben Stelle plötzlich Angst. Es hat etwas mit der Stelle zu tun. Ich laufe über eine Brücke und schaue auf eine Bundesstraße. Dort oben ist es laut. Dann biege ich links ein in einen Fußweg, an dem im Spätsommer die Brombeeren wachsen. Diese sammle ich nicht, da sie zu nah an der Straße stehen. Der Weg hat einen Schwung nach oben, um dann nach unten zu fallen und unter einer U-Bahn-Brücke hindurchzugehen. Das ist die Stelle mit dem Zaunkönig. Dort hört man die Autos nur als Grundrauschen, in der Senke ist man sicher vor Krach und Ausblicken. Man sieht nur den Himmel und singende Vögel. Auf diesem kurzen Stück bis hinter die Brücke, an der der Weg rechts hochführt, bis zu einer modernen Siedlung mit weißen sehr ausladenden Häusern, die von der Höhe auf Frankfurt blicken, ist es immer kalt. Es ist eine Senke, an der die Kälte steht. Im Sommer ist das angenehm, im Winter unheimlich. In dieser Senke überkommt mich die Angst, weil ich daran denke, nicht mehr zu sein. Einfach aus. Das macht mich erst ängstlich, dann traurig. Ich habe viel darüber nachgedacht und weiß, dass ich keine Angst haben muss, weil es der Zustand vor meiner Geburt sein wird. Trotzdem, die Senke packt mich.

Es gibt nur ein Heilmittel gegen diese Angst. Ich atme die kalte Luft ein und mache mir klar, dass es hier kalt ist.

5.12.21

Einen Abend vor Nikolaus.

Der Vorabend entfaltet immer etwas Magie. So als könnte der Nikolaus irgendwann doch einmal kommen. Einmal legt er vielleicht wirklich etwas in die Schuhe, die wir vor die Türe stellen. Ganz bestimmt.

Ein Segen ist die Zeit auch für mitteldeutsche Gebrauchsformen der Wörter: „Türe“ ist einfach sehr viel schöner als „Tür“ und darf nun endlich einmal wieder benutzt werden. Zweisilbig ein ganz anderer Rhythmus.

Kurz bevor ich hinwegdämmere, fragt mich jemand, ob wir nicht schauen wollen, ob der Nikolaus schon da war. Benommen antworte ich mit „ja“.

Tatsächlich. Mandarinen, Lebkuchen, Schokolade.

Das magische Denken geht uns nicht verloren, da kann die Aufklärung lange argumentieren. Auf der Heimfahrt von Bad Wildungen nach Frankfurt haben wir heute Tocotronic gehört, pure Vernunft darf niemals siegen.

Na also.

2.12.21

Es regnet kalt. Für meinen Geschmack zu kalt. Schnee wäre angenehmer. Manchmal sitze ich nur da und lasse die warme Luft strömen. Vielleicht ist es auch das Rauschen in meinem Ohr, das mir ab und an Schwindel beschert. Ich finde es beruhigend so zu sitzen und die Zeit ist.

28.11.21

Wieder wird alles heruntergefahren: Sich treffen, kleine Reisen machen. Ich hatte gerade etwas geplant, schon muss ich es wieder absagen. Mittlerweile macht mich das nicht mehr verrückt. Es ist eher so wie mit dem Wetter. Für das Theaterspielen und Singen ist es dramatisch. Denn das geht kaum ohne Berührung und lautes Sprechen oder Rufen.

Insgesamt gibt es weniger Berührungen. Das bedaure ich. Ich vermisse das Gedränge in der U-Bahn. Als der Kater einer Schülerin starb, nahm ich sie kurz in den Arm. Ich mag auch volle Kneipen. Wenn es zwei Plätze an der Bar gab, quetschte man sich dazu. Dann gab es was zu sehen. Kneipen sind der Treffpunkt verschiedener Milieus und von Alt und Jung. Waren. Es kam vor, dass Leute nervten, stanken, rauchten, flirteten. Wenn es gar zu arg war, ging ich. Aber das kam selten vor. Meistens hielt ich es aus oder wies die Zumutung zurück.

Im Lockdown gibt es keine soziale Zumutungen, nur noch sozialen Rückzug.

Ich frage mich, wie wir lernen, miteinander auszukommen, wenn wir bei jedem Schritt auf unsere Sicherheit achten. Ich stelle nicht in Frage, dass wir das tun sollten.

Aber wir werden uns wieder zumuten müssen, um ein Wir zu sein.

27.11.21

Die richtigen Worte zu finden, wenn man sehr aufgewühlt ist, ist fast unmöglich. Es braucht eine Art lauwarme Stimmung, um sie aufzuschreiben. Starke Gefühle fördern starke Wörter und Gedanken. Mitunter gelingt es auch, sie in dieser Stimmung aufzuschreiben. Aber dann muss es einen lauwarmen Regen geben, der das Ganze schleift. Ich bin nicht sicher ob, das stimmt. In jedem Fall muss das Scheunentor geöffnet werden, sonst geht gar nichts, kommt nichts rein, geht nichts raus.

26.11.21

Die Traurigkeit meines Sohnes macht mich auch traurig. Beide Söhne haben eine schwere Zeit. Der eine lebt in einer Stadt, in der er sich fremd fühlt und dessen universitäre Bildung ihm zuwider ist. Der andere kämpft mit den Leistungserwartungen in der Oberstufe und allen möglichen sozialen Regungen, die es gibt, wenn man jung ist. Die Erfahrung, man ist den Herausforderungen des Lebens nicht gewachsen und keiner hilft einem dabei, ist eine, die man besonders in jungen Jahren hat. In ganz jungen nicht, weil es da meistens Eltern gibt, die ein Stück der Last übernehmen. Aber dann zwischen zwanzig und dreißig schlägt die Realität – nicht die Wirklichkeit – die Realität zu: Krankenversicherung, Essen, sozialer Druck, Leistungserwartungen, Krankheiten, unglückliche Lieben, Enttäuschungen. Man müsste es eben einfach umdrehen: als lebenserfahrene Frau müsste ich den Beginn des Studiums und eine neue Stadt erleben müssen. Nein, das ist keine gute Idee. Ich möchte nicht mehr in dieser Weise aufgewühlt sein. Ich möchte lieber nach den richtigen Worten suchen.

25.11.21

Gestern kam eine Lieferung an: eine Palette mit acht Kartons, Umzugskartons, die jetzt im Flur neben dem Eingang in der Schule steht.

Es sind Tests. Ich wunderte mich, denn normalerweise erhalten wir nahezu wöchentlich drei Umzugskartons mit den Tests. Blöd genug, denn die Tests sind in 5er-Packungen verpackt, die man in der Klasse dann an jeweils fünf Kinder gibt, die die Tests auspacken und an den Tischen verteilen. Im Normalfall tun wir das drei- oder zweimal die Woche, bei Auftreten eines Coronafalls im Lernhaus jeden Tag. Die Hälfte der Schule macht es jeden Tag.

Meine Kollegin witzelt, die Tests seien sicher einzeln verpackt, deshalb seien es so viele Kartons. Wir machen auf: Jeder Test ist einzeln verpackt in ein nahezu Schokoladentafelgroßes Paket aus Pappe, in diesem befindet sich eine in ein Plastiktütchen gepacktes Plastikpufferlösungsbehältnis samt Deckel, ein Stäbchen in Plastik verpackt und ein in Alu eingetütetes Teststreifchen. Wenn ich jetzt in eine Klasse gehe, nehme ich einen Umzugskarton mit. Aber wohin werfe ich die Verpackung? Jeden Tag.

Es ist zum Heulen.

Wir bauen daraus ein Dreifamilienhaus oder einen begehbaren Darm. Meine Kolleginnen sind sehr einfallsreich.

21.11.21

Diese Novemberzeit überreizt mich. Nahezu alles nervt mich. Ich halte die Welt für ungerecht und niveaulos. Ich bin heimgesucht von den Todsünden: Neid und Missgunst. Seit vielen Jahren trainiere ich mit innerer Gymnastik hart daran, diesen Regungen und Gefühlen nicht allzu viel Platz zu lassen in mir. Ich versuche auch kommunikativ nicht zu lustvoll jemanden etwas zu missgönnen. Es gelingt nicht immer. An der Hochschule war das eine treibende Kraft. Jeder hat über nahezu jeden schlecht gesprochen und nahezu jeder dachte: „eigentlich bin ich viel besser“. Ich finde, diese Art Menschen zu betrachten, verdirbt den Charakter und führt auch nicht dazu, dass man mehr geliebt wird. Im Gegenteil verbaut man sich die Sicht auf Menschen, die erst auf den zweiten Blick sehr interessant sind. Ich habe also verschiedene Übungen, die ich mache, um nicht in das gehässige Abwerten anderer Menschen zu geraten. Meine Haltung wird stark auf die Probe gestellt, wenn Flitzpiepen besonders in der Öffentlichkeit gehipt werden. Ein wunderbarer Satz!

Mein Mantra lautet: Egal. Das ist nicht entscheidend. Entscheidend ist, ob das, was ich tue, nachhaltig gut für die Bienen, die Eisbären, Kinder, meinen Liebsten und für mich ist. Selbstverständlich kann man „gut“ jetzt genauer beschreiben. Das tue ich ein andermal.

18.11.21

Tiefschläge. In die Magengrube. Sie kommen unvermittelt nach Tagen, in denen die Sonne leuchtete.

17.11.21

Von innen wirkt es so, als sei es eine Scheune, in der alle möglichen aufgescheuchten Tiere hin und her fegen, gackern, piepen, grunzen und wiehern, laut und leise. Es gibt verschiedene Leitern und Treppen, um auf die Stiege zu kommen oder den Balkon, von dem man in den Scheunenraum hinunterschauen kann, in dem das Getreide zu satten Kegeln aufgeschüttet ist und Stroh verstreut liegt. An der Längsseite sind die Strohballen noch ordentlich aufgestapelt, das haben die Kinder im Sommer gemacht, bevor es zu regnen begann. Die Vögel nisten im Gebälk und haben sich ihre Ein- und Ausfluglöcher gesucht. Gut, dass es sie gibt. An der anderen Seite steht das Heu bis hoch unter das einfache Holzdach. Es reicht für den Winter, darüber hinaus eher nicht. Das Tor ist etwas defekt, es quietscht im Wind oder eher im Sturm, sonst lässt es sich noch gut auf- und zu schieben. Kaum ist einmal Ruhe, geht es schon wieder los mit einem Tier, das seinen eigenen Regungen folgt. Dann wieder segensreiche Ruhe, wenn alle ihren Platz in den Boxen gefunden haben.

Von außen wirkt die Scheune stabil, wenn man genauer hinsieht, sieht man die Schwalbeneingänge, aber den Krach hört man nicht. Auch die Unordnung sieht man der Scheune nicht an.

Ich sehe mich allerdings selten von außen, ich weiß nicht, welches Bild ich abgebe.

Morgens um halb sechs schlafen alle Tiere und es ist bezaubernd, sie liegen oder stehen zu sehen. Die Spuren des Tages sind deutlich zu erkennen und manchmal ergibt sich daraus ein Bild.

15.11.21

Nieselregen, Nebelregen. Es ist kalt. Der Ahorn ist strahlend orange. Nicht mehr lange. Diesen Frühling habe ich mir eine Physalispflanze gekauft. Ich wollte sie auswildern, wusste aber nicht wohin. Sie steht jetzt im Arbeitszimmer und schlängelt sich jetzt in den Raum. Hübsch ist sie. Ein bisschen gakelig.

11.11.21

Jeden Tag mehrere Kinder, die positiv getestet werden. Gestern gab es eine kleine Gruppenhysterie. Drei Kinder wollten nicht mehr in der Schule bleiben, weil es gefährlich sei. Wenn sie wüssten, was wirklich gefährlich ist: das Abschmelzen der Gletscher, blind über die Straße gehen, Chrystal Meth probieren, auf einen fahrenden Zug aufspringen, sich zu weit aus dem Fenster lehnen, zu mir „Vogelscheuche“ sagen. Das war gestern der zweite Stimmungsknick über den Tag. Ich bin meist nicht ganz akkurat frisiert, aber so zerrupft wie eine Vogelscheuche sehe ich auch wieder nicht aus.  Im ersten Fall habe ich mit den Kindern gesprochen, im zweiten Fall auch. Ich habe erklärt, dass es nicht gefährlich ist, in der Schule zu sein und dass es in den allermeisten Fällen auch nicht gefährlich ist, Covid zu haben. Im zweiten Fall habe ich gar nicht viel gesagt, nur dass ich mir Beschimpfungen verbitte. Die meisten Kinder sind wirklich nett und sagen mir „Guten Morgen“, wenn ich ihnen begegne. Ich sage selbstverständlich auch „Guten Morgen“, auch gerne als erste. Dazwischen gibt es immer mal welche, die lieber schimpfen. „Vogelscheuche“ ist ein eher seltenes Schimpfwort, „Hurensohn“ oder „Fotze“ wird lieber gebraucht. „Vogelscheuche“ atmet den guten alten Geist des 19. Jahrhunderts. Vielleicht sollte ich das pubertierende freche Mädchen loben, ob ihrer Sprachgewandtheit? Es passt auch irgendwie, weil ich mich manchmal wie eine Vogelscheuche fühle: ganz zerrupft und stehe nur herum. Genau genommen stehe ich nie herum, sondern bewege mich sehr viel. Aber ich fühle mich so. Frechheiten sind im Erziehungs- und Bildungskontext nichts Außergewöhnliches. Ein Student hat einmal „Korinthenkacker“ zu mir gesagt. Das war bevor auch Männer gegendert haben. Das ist noch gar nicht so lange her, zehn Jahre. Er hat mit dieser Beschimpfung auch nicht erreicht, was er wollte. Er wollte eine bessere Note auf eine Hausarbeit haben. Aber ich habe mich danach bemüht, meine Kritik noch besser zu erklären. Kinder und Jugendliche sind manchmal frech. Als Erwachsene mit Erziehungsauftrag reagiere ich immer so, dass Einsicht bei Kindern und Jugendlichen möglich ist. Manchmal auch nur verärgert. Meist vergesse ich den Vorfall sofort, weil es meist nur Kleinigkeiten sind, über die das Kind oder ich mich da geärgert habe und weswegen dann eine Frechheit geäußert wurde. „Vogelscheuche“ werde ich mir merken. Wenn mal jemand „scheeler Hund“ zu mir sagt, werde ich verdutzt sein.

10.11.21

Auch Schwestern können abhandenkommen. Schwestern sind mein Lebensthema. Ich habe eine Novelle geschrieben, in der es um ein Zwillingspaar, zwei Schwestern, geht, dann habe ich eine längere Erzählung geschrieben, in der zwei Schwestern vorkommen und in meiner derzeitigen literarischen Welt geht es um drei Geschwister. Ich finde diesen Verwandtschaftsgrad besonders interessant. Man hat in der gleichen Höhle gelegen, ist durch den gleichen Gang gekommen, hat die gleiche Brust genossen und wird doch ganz unterschiedlich auf der Welt sein. Schwestern wissen, dass sie die Eltern überleben, dass sie sich ähnlich sind und doch mit zwei unterschiedlichen Augen in die Welt schauen. Sie sollten sich mögen, tun es aber oft nicht. Sie verletzen sich und vertragen sich, aber keine von beiden ist die Vernünftigere, die schon ein paar Jahre auf dem Buckel hat und deshalb klüger sein kann. Sie streiten sich um das Erbe oder sind neidisch, weil jede glaubt, die andere hat es besser gehabt. Sie wissen voneinander, dass sie sich nichts vormachen können, tun es aber trotzdem. Ich bin ja ein sehr treuer Mensch. Wenn ich jemanden mag, dann vergesse ich nicht. Ich kann Menschen im Herzen behalten, auch wenn ich mit ihnen nichts mehr zu tun habe. Vielleicht hilft mir der Gedanke, dass auf dieser Welt nichts verloren geht.

Ich rede mir gut zu. Menschen kommen abhanden und dann bleibt nur das Bild zurück.

8.11.21

Mir sind Freundinnen abhandengekommen. Nicht nur eine, gleich mehrere. Hintereinander über mehrere Jahre und unbemerkt. Wir riefen uns immer weniger an. Zunächst bemerkte ich es nicht, weil das Festnetz ohnehin meist stillsteht. Die Zeiten, in denen der Anrufbeantworter vollgequatscht war, sind längst um. Heute kriege ich kurze Nachrichten auf das Handy. Nur diese Freundinnen sind nicht mehr dabei. Die Abstände zwischen den Treffen wurden immer länger. Ich habe es bemerkt, dachte aber nicht, dass ich etwas tun kann. Manchmal dachte ich: „Am Wochenende muss ich Bella, Tamara, Vanessa anrufen.“ Dann kam was dazwischen oder ich hatte keine Lust. Es gab dann neue Männer, die ich erst kennen lernte, als die beiden schon zwei Jahre ein Paar waren. Dann war klar: Man sieht sich, mehr nicht. Wenn wir uns sehen, ist es allerdings immer so, als würde man eine Freundin sehen, die man schon lange nicht gesehen hat. Die Gesten sind vertraut, die Betonung bekannt, intuitiv weiß ich, was ich sagen muss, sagen darf, was sie lustig findet und was nicht.

Bei genauerer Betrachtung gibt es zu jeder Freundin eine Trennungsgeschichte. Die zu betrachten, ist nicht ganz harmlos, weil ich an Erfahrungen vorbeikomme, die unangenehm sind. Ich komme gedanklich auch an Persönlichkeitseigenschaften von mir und von Freundinnen vorbei, die unangenehm sind. Es hören dann auch schnell die Gemeinsamkeiten der Freundinnen auf. Meine Eigenschaften bleiben die gleichen.

6.11.21

Die Erinnerung an einen Menschen, der mich geliebt hat, ist wie Musik. Sie hüllt mich ein und hält mich. Manchmal genügt das, um am Morgen aufzustehen, Brote zu schmieren, das Fahrrad aus dem Keller zu holen, den Alleenring entlang zu radeln, am Polizeipräsidium abzubiegen, den Löchern auf der Eschersheimer Landstraße auszuweichen, die Nidda zu queren und den Tag zu begrüßen. Bis der Zaunkönig auf dem Hügel singt, auf den ich zu radele, reicht der Gedanke aus. Ein junger Mann, der mich liebte und mich bewunderte. Eine Freundin, die mich liebte, wie ich war und sich nicht schrecken ließ. Ein Lehrer oder ein Professor, den interessierte, was ich dachte und schrieb.

Die Liebe ist so stark. Sie erhellt nach 1000 Jahren noch meine zuweilen dunklen Gedanken, alles ist augenblicklich verzaubert, wenn ich mich daran erinnere. Kein kalter Morgen, kein Umstand, keine Ablehnung kommt dagegen an. Es ist stärker als alles, was mir den Tag versaut.

3.11.21

Ich habe heute in meinem Geburtstagskalender eine wunderbare kleine Geschichte gefunden. Ich habe sie vor vielen Jahren dort hinein geklebt, weil sie mich berührte. Das tut sie noch immer. Einer meiner Söhne hat sie vor vielen Jahren geschrieben.

Ein Mann läuft durch die Stadt. Er ist so leise wie ein Jaguar in der Steppe, der Vögel jagen will. Wenn er auf den Boden tritt, ist es für ihn wie ein Erdbeben, doch die anderen bemerken ihn nicht.

Erstaunlich, wie man mit wenigen Worten etwas über das Gefühlsknäuel und das eigene Erleben sagen kann. Oder anders herum: wie man mit wenigen Worten im anderen auf ein Gefühlsknäuel treffen kann, so dass der andere den Anfang des Fadens findet.

2.11.21

Der November: nass, kalt und in diesem Jahr sehr bunt. Die Ahornblätter hängen noch grün, der Kirschbaum wirft, die Hortensie macht es nach, der Schmetterlingsstrauch ziert sich noch, die Akazie ist durch, schläft schon. Auch mein Hibiskus lässt alle Hüllen fallen und die Rosen stehen auch nackt da, halb nackt. Das war jetzt keine Übung in Gartenbotanik, sondern mein Selbstgespräch mit den pflanzlichen Genossinnen im Garten, die mir helfen, über den Winter zu kommen. Ich sorge für sie. Alle bekommen ein kleines oder größeres Laubbett, ich schneide ihnen die Nägel und warte geduldig, bis sie im Frühling wieder ausschlagen: erst die Schlüsselblumen, dann alles andere.

Derweil bestelle ich Tests und korrigiere Höhepunktgeschichten von Sechstklässlern, die in den allermeisten Fällen gelungen sind. Ich bin erfreut! Es gibt regelrechte Diamanten darunter: sie kommen still und zögernd sprachlich um die Ecke. Jedes Wort ist gewählt. Meist erzählen die Kinder auch etwas über sich.

31.10.21

Wenn ich mich des Nachts ans Klavier setze und ein die A-Dur-Tonleiter übe, dann freue ich mich, auf der Welt zu sein. Diese Töne hintereinander zu hören, den Klang zu kennen und dann in einem Stück wiederzuerkennen, macht mich glücklich. Das geht ja wahrscheinlich nur, weil ich im Laufe meines Lebens gelernt habe, wie schön, klassische Musik sein kann. Was ich gelernt haben, können ja auch andere lernen. Es macht mir auch Freude, Italienisch zu lernen. Ich will damit nichts werden. Ich will es einfach tun. Ich lerne gerne, es hört sich doof an. Aber so ist es.

26.10.21

Präteritum: Ein Ort, an dem man sich gerne aufhält. Die Antwort einer Elfjährigen in einem Glossartest, eine Art Vokabeltest. Bildungssprache in Alltagssprache übersetzen. Kinder geben oft solche Antworten. Ein jeder Glossartest ist eine Wundertüte voller Gedanken, die sich endlich ausdrücken. Demokratie ist die Herrschaft des Volkans oder die Diktatur wird zum Dichter. Mitunter ist das, was man erwartet, regelrecht grau dagegen. Auch Rechtschreibfehler sollte man lieben. Ich habe gestern etwa fünfmal das hessische Wort „recherschieren“ gelesen. Am Ende des Tests wusste ich nicht mehr, ob es noch eine andere Art der Rechtschreibung gibt. Hört es sich nicht genau so an, dieses Verb? Wer sagt schon „recherchieren“? Ich weiß schon, es ist – ich google jetzt nicht – ein französisches Wort. Da hört man deutlich das „ch“. Die Rechtschreibung ist darauf angewiesen, dass man sie versteht, sonst wird sie nicht dein Freund. Wenn man weiß, dass in „recherchieren“ ein Franzose sitzt oder auch eine Französin, kein Hesse, ist es leischt, äh, leicht.

Mich verwirren solche Abweichungen vom Erwartbaren. Ich muss darüber nachdenken. Ich versuche zu ergründen, wie der andere auf diese Schreibung kommt. Mein Liebster macht mich darauf aufmerksam, dass ich „Russia Today“ falsch geschrieben habe. Ich habe „Rushia“ geschrieben. Offenbar hatte ich in diesem Moment an „Rush hour“ gedacht. Oder mein hessisches Ohr hat sich eingeschaltet. „Raschia“. Während ich dies, genau dies schreibe, fällt mir auch auf, dass ich für das „R“, so wie ich es spreche, gar keinen Buchstaben habe. Der Anlaut aus „Russia“ hört sich an, wie die Begrüßung eines Bären, kurz bevor er brüllt. Die Zunge rollt sich ein. Wie anders dagegen das „R“, das hinten im Hals gesprochen wird. Das Zäpfchen im Rachen tanzt.

Nein, mich verwirren solche sprachlichen Tatbestände nicht. Sie wecken die Gedanken, die in mir ohnehin zuhause sind. Sie leben gewissermaßen in mir und verwirbeln die Routine. Woher kommen sie?

So muss es Kindern auch gehen.

25.10.21

Meine blauen Gummistiefel kommen zum Einsatz. Wenn ich am Morgen in den Garten gehe, schlupfe ich hinein. Sie stehen vor der Wohnzimmertür auf einem Lappen und warten darauf, dass ich sie bewege. Das Gras ist hoch, wir haben versäumt noch einmal zu mähen. An einigen Stellen höher als an anderen. Akazie, Hibiskus, Kirsche und Zierwein verlieren ordentlich Blätter. Jeden Tag muss ich rechen. Wenn ich das Laub liegenlasse, wächst das Gras nicht mehr. Darum muss ich mich besonders bemühen, denn es ist besonders empfindlich. Die Erde darf nicht zu trocken, nicht zu fest, nicht zu bemoost sein. Gras ist scheu. Ich hoffe, es registriert, wie ich mich bemühe. Wahrscheinlich haben die Menschen Gott erfunden, weil es eine beruhigende Vorstellung ist, wenn jemand registriert, wie ich mich anstrenge. Dem Gras traut man das gemeinhin nicht zu. Gott ist sozusagen der Trumpf im Spiel ums Bemerken der eigenen guten Taten. Es gibt verschiedene Karten im Spiel: Eltern, Lehrer, Partner, Therapeuten, Gott.  Die Protestanten sagen, man muss ohne Bemerken auskommen. Du musst deine Taten selbst registrieren und kannst nicht wissen, ob Gott dir dafür Gnade gewährt. Du kannst nur hoffen. Das ist kein erfolgsversprechendes Konzept. Psychoanalytiker sagen Ähnliches: man soll zum eigenen Beobachter der eigenen guten Taten werden. Man nimmt also die Eltern, den Lehrer, den Partner, den Therapeuten und Gott in sich auf und sieht sich selbst zu bei der Rasenpflege. Das funktioniert, ist aber auch nur die halbe Freude. Im Kapitalismus kann man sich Leute kaufen, die einem sagen, dass man es gut gemacht hat. Ich versuche es mit einer Strategie, die ich durch mein langes Studium philosophischer und literarischer Texte erworben habe. Ich frage ganz harmlos den Nächstbesten: Ist dir aufgefallen, wie schön unser Rasen in diesem Jahr wächst? Da kann niemand „nein“ sagen. Und wenn doch, frage ich den nächsten.

Die Gummistiefel sind nass geworden. Das wird trocknen. Morgen geht es wieder raus.

20.10.21

Wir verlassen Italien. Langsam, ganz langsam. Nicht langsam genug. Der Himmel ist bedeckt und im Radio wird der neue Comic „Asterix und der Greif“ vorgestellt. Angst, der Himmel könne einem auf den Kopf fallen. Diese Angst kenne ich auch. Wenn es so grau ist. So dunkel. Das Meer nicht mehr türkis, sondern schwarz. Bis nach Frankfurt werde ich an das Meer denken. Zuhause streichle ich die gelb gewordene Zitrone an unserem Zitronenbäumchen.

18.10.21

Das Meer berauscht mich. Es ist magisch. Ich tauche ein uns schwimme weit raus. Ganz ruhig trägt es meinen Körper.

16.10.21

Auf dem Bergkamm zwischen der einen Seite und der anderen hört man ganz unterschiedliche Dinge: Hühner, die Autobahn, deutschsprachige Wanderer, Ziegen mit Glocken oder andere Tiere?,  den Wind rauschen, Hubschrauber, Sägen, Vögel. Wieder eine Biegung weiter entfaltet sich ein neuer Soundteppich.

15.10.21

Ich habe auch daran gedacht, wer gerade im Meer schwimmt, ohne es zu wollen, ohne schwimmen zu können, wer abtaucht und keine Hilfe erwarten kann, wer stirbt, wer ertrinkt. Ich denke manchmal daran. Ich bin nicht der Meinung, dass man das akzeptieren darf, dass Menschen im Meer ertrinken. Meine Lust und ihre Not stehen nebeneinander. Ich finde das unerträglich. Aber ich ertrage es.

14.10.21

Ans Meer. Mehr Meer. Ins Meer. Ins Türkis. Ins kalte Meer. Die Haut ist salzig und atmet auf. Es ist fast das schönste im Leben, ins Meer zu tauchen.

12.10.21

Ich klappe das Doppelfenster auf und drei Hähne krähen hintereinander. Nicht einer, nicht zwei, nein, drei. Müssen die Italiener so übertreiben? Muss die Friedlichkeit, Harmonie und Eintracht dreifach beschworen werden? Dazu beginnt eine Meise so fürstlich zu singen an, dass mir die Tränen kommen. Andernorts fegen die Flieger, die Autos, die Straßenbahnen an einem vorbei, aber hier kräht jeder wie es ihm gefällt und von Eile und Dringlichkeit ist hier keine Spur. Ich mache uns noch einen Café. Die Italiener sagen mittlerweile auch Espresso. Von Ferne höre ich menschliche Stimmen: wie Amseln (Italienisch) oder Krähen (Deutsch). Ich mag beides, dazwischen eine Katze, auch dich habe ich gehört. Miau.

11.10.21

Heute starten wir von Tovo Faraldi Richtung Pizzo d‘Evigno. Wir kommen dort nicht an, aber fast. Es geht über den Bergkamm hoch und runter bis ich doch Blasen an den Fersen habe. Ich habe die falschen Socken angezogen. Es reibt an der Ferse. Die Ausblicke nach links, rechts und vorne sind phantastisch. Es geht abwechselnd hoch und runter, der Pfad ist sehr schmal und mitunter auch beschwerlich. Aber der Himmel ist sehr nah und ich komme nicht außer Puste und wenn doch, kommt sie schnell zurück. Wir laufen zu zweit auf dem Bergrücken und in der Ferne erscheinen die Berge jenseits der Olivenhügel, Berge des Piemont, nicht mehr Ligurien, aber auch sehr schön. Sie leuchten in ocker-rosa-hellbrauch-grau und vor dem tiefblauen Himmel wirken die Berge wie Könige.

Wir laufen in die eine, dann am Nachmittag in die andere Richtung und den Sonnenbrand haben wir uns redlich verdient!

10.10.21

Wir schlafen lange und fahren dann nach Ognelia, um dort im feinsten Café der Stadt zu frühstücken. Hei, ist das schön. Blätterteig, der auf der Zunge schmilzt, ein echter italienischer Kaffee und ein Brioche mit Aprikosenmarmelade.

In dem kleinen Ort unter den Arkaden spazieren die Italiener den Sonntag ab. Um ein Uhr schließt alles. Wir trollen uns, nicht ohne noch ein Eis gegessen zu haben.

Warum kultivieren viele Menschen in Italien das Caféhaus so: Man sitzt draußen, palavert und lässt sich sehen? Man liest Zeitung. Es ist offenbar der Raum für „man“. Es ist ein Stück Öffentlichkeit, die sich im Draußen trifft. Die Cafés sind weit geöffnet, die Fenster groß. Man schaut hinaus und hinein. Es treffen sich alte und junge Menschen, man raucht, man quatscht. Das Treffen hat eine Form, die Frauen sind frisiert und die Männer tragen Hemd. Niemand sitzt im Jogginganzug hier. Noch nicht. Der Kaffee ist ein guter Grund, um sich zu treffen. Dadurch wirken die Plätze belebt. Ist das zu idealisiert? Wahrscheinlich. In Deutschland gibt es mittlerweile auch schöne Plätze und belebte Plätze vor Cafés. Aber wenig Tradition. In Deutschland wirkt das Café wie die Verlängerung des Wohnzimmers, in Italien wirkt es wie die Verlängerung zu einem offiziellen Staatsempfang. In einem italienischen Café hat man den Eindruck, man betritt eine Bühne, man ist nicht privat, sondern öffentlich. Das macht es schick, vielleicht auch nur adrett oder formvollendet. In jedem Fall erscheint ein Gespräch als Verhandlung oder öffentlicher Austausch. Möglicherweise ein Ort demokratischer Öffentlichkeit und zugleich demokratische Kultur. Jetzt idealisiere ich unbedingt. Es wäre doch wunderbar, wenn man sagen könnte, die feine Art der italienischen oder französischen Café- und Restaurantkultur verhindert den Faschismus. Aber leider ist es nicht so. Ich weiß es ja.

9.10.21

Eine sehr anstrengende Fahrt bringt uns nach Italien. Vor dem Gotthard Stau, vor Mailand Stau, vor Chiasso Stau. Ab Ligurien-Süd das Meer.

5.10.21

Regen. Der Regen klopft an. Sehr dezent heute. Nach drei Tage strahlender Sonnenschein in Österreich muss er mich schonen. Aber sehr deutlich. Die letzten Bohnen, die Rauke, die Zitrone wird nass. Es ist dunkel und ich sehe ihn nicht. Aber um die Pfefferminze für mein Frühstücksbrot zu pflücken, ist es zu nass und zu dunkel. Es ist Oktober. Ich gehe ohne Brunnenkresse und Pfefferminze arbeiten. Das kann heute nichts werden.

28.9.21

In der CDU wird immer noch so getan, als hätten sie die Bundestagswahl nicht verloren. Haben sie aber. Diese Männer meinen, es sei noch alles offen. Wieviel Realitätsverweigerung ertragen diese Menschen? Die Abendnachrichten schalte ich mit einem guten Buch aus. Am Morgen höre ich, dass „Russia Today“, das jetzt „RT“ heißt, auf Youtube keine Falschmeldungen mehr senden darf. Der Kanal wurde geschlossen. Aber warum betreiben irgendwelche Leute einen Kanal, auf dem sie Falschmeldungen posten? Wieso haben Menschen dieses starke Bedürfnis, die anderen Menschen zu manipulieren? Oder glauben sie das, was sie da senden tatsächlich? Ein Vater meint im Gespräch mit einer Kollegin, er wolle nicht, dass sein Sohn noch einmal getestet werde, weil der Test das Gehirn schädige. Das Stäbchen schiebe man so weit hinein, dass das Gehirn geschädigt werde. Abgeschlossene Welten.

26.9.21

Ein Regen fiel herab. Er war warm, es war warm.

23.9.21

Heute habe ich dem Tod in den Arsch gesehen. Ich habe zwei Röntgenbilder meiner Lunge machen lassen. Von vorne und von links. Beim Überreichen der CD sagte die Fotografin: „Alles Gute!“ Warum sagt sie das?

Ich sage mir auf dem Nachhauseweg: „Nein, du schaust dir die Röntgenbilder auf gar keinen Fall an!“ Zuhause auf dem weißen Sofa denke ich: „Na, so ein kleiner biologischer Blick hinein. Ist sicher ganz spannend.“ Nur mal eben schnell, nur kurz mal in mich hineinschauen. Ist doch reizend, sich so von innen zu sehen. Die Rippen, die Lungenflügel, das Schlüsselbein – ach bin ich schön von innen. Aber ach, ach, was ist das für ein runder Fleck da rechts. Und dieses verklebte Gewebe? Ist das normal? Diese ganze helle Auslassung in der Mitte? Ist da wirklich alles in Ordnung?

Da ich Wissenschaftlerin bin, brauche ich Vergleichswerte. Also sehe ich mir einige Röntgenbilder von Lungenkrebspatienten an. Dann einige Bilder, auf denen kein Befund sein dürfte. Jetzt weiß ich gar nicht mehr, was gesund ist und was krankhaft. Was ist am richtigen Fleck?

Ich schaue auf das Gras im Garten. Nein, ich beiße nicht ins Gras. Ich blicke auf das Gras und konzentriere mich. Was geht in meinem Inneren vor. Ich spüre keine Veränderung. Es ist alles wie immer, manchmal huste ich, manchmal nicht. Trotzdem muss ich jetzt weinen. Wenn ich bald sterben muss? Wie gehe ich jetzt damit um? Ich rekapituliere: Die Fotografin hat eine seltsame Betonung gehabt: „Alles Gute!“ Warum sagt sie das. Sagt man nicht eigentlich einfach „Auf Wiedersehen!“ Warum nur ein Bild von links? War da etwas auffällig? Es fühlt sich plötzlich alles anders an. Ich habe keine Lust mehr, Theater zu spielen, ich habe keine Lust mehr rauszugehen. Ich möchte nur noch aus dem Fenster schauen. Das tue ich. Ich laufe im Dunkeln zu der Lungenfachärztin und werfe ihr diese verdammte CD in den Briefkasten, anbei eine Bitte, mich anzurufen morgen. Ich schlendere zurück, telefoniere mit einer Freundin. Eine andere sagt mir gute Nacht. Meine Theaterkollegen sagen mir, wie lieb sie mich haben, sie werden alles tun…Ich schicke ihnen Herzchen. Langsam fasse ich mich. Wenn ich wirklich nur auf jeden Atemzug achte, spüre ich, es macht keinen Unterschied, ob ich zwei Monate vor mir habe oder zwanzig Jahre. Wenn ich auf jeden Schritt achte, auf die Straße, auf meine Bewegungen, macht es keinen Unterschied. Ich versuche, mich darauf zu konzentrieren, was ich gerade denke, empfinde und schreibe. Das gelingt für Momente. Ich möchte nicht anders leben, als ich es gerade tue. Ich liebe es genau so, wie es ist.

Am späten Abend ruft mich ein Freund an, der Arzt ist. Er fordert mich auf, die Fotos zu mailen. Das tue ich. Zwei Minuten später ruft er mich an. „Das ist meiner Meinung nach unauffällig.“ Das, was ich als Karzinum entdeckt hatte, war das Herz und irgendeine Stelle, an der jede Lunge einen Fleck hat. Ich lachte, er lachte. Meine Freundin im Hintergrund lachte. Den Rest der Nacht trank ich und hörte Musik, bis ich in den Schlaf fiel: Dunkel und warm und weich.