Passante
Die Betrachtung aus sicherer Entfernung öffnet den Blick für das Geschehen, den Ort, Tiere und Menschen in einer sehr spezifischen Situation. Nur wer hinschaut, sieht, was passiert. Aber das, was passiert, verändert sich sofort unter der Betrachtung – je nachdem, welche Worte ich wähle. Die Betrachtung hält inne und konzentriert sich. Dann reiht sich das eine an das andere und entfernt sich wieder. Die großen und kleinen Überlegungen wechseln sich ab und bleiben nicht stehen. Es ist der liebevolle Blick, aber ein Blick, der kein Bleiben kennt. Es darf zugespitzt, angespitzt und pointiert werden, aber nichts wird festgehalten. Und wenn doch, dann nur kurz. Klar, darf es Auslassungen geben, aber immer wieder wird der Faden aufgenommen und der Blick wird wieder darauf gelegt, was ist. Nur mit welchen Worten ist etwas, wie es ist?
28.11.25
Das Laub ist mit großen Arbeiterhandschuhen aufgegriffen und in die Biomülltonne verfrachtet worden. Wir waren zu zweit. Ein Teil des Laubes haben wir über die empfindlichen Pflanzen verteilt, so dass sie in Ruhe schlafen können. Der Rasen darf sich nun auch erholen. Die Verbene habe ich geschnitten, den Schmetterlingsstrauch noch nicht. Das müsste ich noch tun, bevor der Frost anhaltend kommt. Ein paar späte Glockenblumen verstecken sich im hohen Gras. Mich bringt das Hinausschauen aus dem Fenster auf eine Idee. Die Unbeweglichkeit meines trägen Körpers hat eine hohe Lageenergie. Ich vertiefe mich in die Faschismus- und Antisemitismusforschung. Ich will es genauer wissen.
25.11.25
Sich freischreiben heißt, auf niemanden mehr Rücksicht zu nehmen, heißt, die Dinge so zu schildern, wie sie wirklich sind, für mich wirklich, für eine ausgedachte Person, für einen Standpunkt, der nicht schon tausendmal eingenommen wurde oder schon tausendmal eingenommen wurde, aber immer noch wahr ist.
Sich freischreiben, ist eine Lebenshaltung, die fragt, was wäre, wenn du ich wäre und ich du? Wenn ich ein Stuhl wäre oder ein Stein? Wenn ich etwas wäre, das ich nicht sein kann. Sich freischreiben heißt, die Dinge zu beobachten und zu bezeichnen. Denn Dinge und Vorgänge, die einen Namen haben, werden nicht vergessen. Heimkehren ist wie schreiben, alles ist merkwürdig und es wert, betrachtet zu werden. Nichts ist selbstverständlich. Wegfahren ist wie schreiben, alles ist es wert, betrachtet zu werden.
Das Laub liegt aufgetürmt im Garten. Der Biomüll war noch nicht da. Der Wind macht sich einen Spaß daraus. Ich bringe alles wieder in Form. Sich freischreiben heißt: In Form bringen.
Dinge die Menschen nicht fragen, Dinge, die Menschen fragen, können mich verunsichern. Ich versuche, dieser Verunsicherung Form zu geben. Manchmal gelingt es.
20.11.25
Heimkehren ist merkwürdig. Ich finde nichts in der Wohnung. Bevor wir abreisten, hatten wir aufgeräumt, unsere Zwischenmieter räumten auch um und ich habe vergessen, wo meine Ordner standen. Ich laufe also viele Wege ab, bevor ich etwas finde. Erstmal räume ich den Garten auf. Das Laub wird gerecht, die Hecken geschnitten, die Zitronenmelisse rausgezupft. Auch die Himbeeren müssen gekürzt werden, einige späte ernte ich. Sie schmecken nach nichts. Den Nachmittag verbringe ich damit, herauszufinden, was ich gerne behalten würde. Den Zweiuhrcaffä auf jeden Fall. Danach gehe ich in die Buchhandlung und spreche mit Timo über die deutsche Diskurskurskultur. Auf jeden Fall kann da noch einiges getan werden, damit das Licht der Aufklärung noch in die Köpfe fährt. Ich habe mir ein Buch gekauft, das mir erklärt, wie der Faschismus funktioniert und eines über Antisemitismus. Der Autor des ersteren Buches ist ins Fadenkreuz der Kritik geraten, weil er am falschen Ort die Verfassung Israels als einen jüdischen Staat kritisierte. Vielleicht ist er zur forsch aufgetreten, vielleicht sind auch eher die Veranstalter in die Kritik geraten, weil es den Anschein erweckte, dass man nicht hören wollte, was der Autor zu sagen hatte. Kurz: Ich war nicht auf der Veranstaltung, ich weiß nicht, was genau passiert ist, aber seine Ansprache ist in der FAZ erschienen, ich habe sie leider noch nicht gelesen, werde das aber nachholen. Dann kann ich mir ein Bild machen. Der Buchhändler und ich waren uns einig, dass man nicht immer in einem Satz und eben mal schnell seine Meinung raushauen sollte, weil die Dinge eben kompliziert sind. Kunst dagegen geht ja immer! Dann spiele ich Klavier. Mannohmann, das ist ein Klavier. Großartiger Klang. Ich bin jetzt doch froh, wieder hier zu sein. Ich denke an ein paar Kinder in der Schule. Wie lieb man fremde Kinder haben kann. Und selbst die, die man nicht besonders leiden mag, auch denen wünscht man nichts Böses. Wirklich nicht, nur ganz kurz, wenn man sich ärgert, aber danach gar nicht mehr. Eigentlich mag ich sie alle, die einen mehr, die anderen weniger, aber Kinder sind toll. Wahrscheinlich habe ich doch den richtigen Beruf. So ganz allein im stillen Kämmerlein würde ich selbst mir als Zuhörerin meiner eigenen Gedanken irgendwie nicht reichen. Die Sonne geht in Frankfurt bereits um 14 Uhr unter: zu viele Häuser. Ich sitze also nahezu im Dunkeln. Wenn ich jetzt an den blauen Himmel am Meer denke, werde ich doch traurig. Dazu passt Mozart jetzt nicht. Also spiele ich was anderes.
17.11.25
Ein schönes Datum. „Passante“ begann ich, als ich vor Jahren „dem Tod in den Arsch schaute“. So dachte und empfand ich. Es war nur kurz geschaut und dann floh der Tod. Er wollte mich nicht. Heute auch noch nicht, ich bin sehr froh darüber. Die Wahrheit ist nämlich, dass er kommt, wenn er kommt. Irgendwann, irgendwo.
Die Wohnung meines Herzens habe ich gefunden. Ich wohne in einem Haus aus dem 18. Jahrhundert, eher Kirche als Wohnhaus. Ein Palazzo. Wir bewohnen nur die Stubenmädchenwohnung, unter dereinst Napoleon schon wohnte, bevor er Italien einnahm. Er konnte die Fresken an der Decke bewundern, ich kenne sie nur vom Bild. Das ist eben der Unterschied zwischen Napoleon und mir. Aber darauf wollte ich gar nicht hinaus, das muss nur nebenbei bemerkt werden. Ich möchte auch nicht Napoleon sein. Wir bewohnen also die Dienstmädchenwohnung unter dem Dach hoch oben über Imperia in einem Palazzo auf dem Berg und ich kann zu allen Seiten hinausschauen: zum Meer, an die Küste, in die Stadt und in die Berge. Aber nicht nur das. Ich sehe auch meerseitig die Mauersegler um mich herum tanzen. Sie fliegen an mir vorbei, über mich hinweg, unter mir schneiden sie eine scharfe Kurve um den Schornstein des Nachbarhauses. Ich bin ergriffen, berauscht und erfreut. Hier würde ich wirklich gerne wohnen. Zwischen diesen geliebten Vögeln, mittendrin. Mein Liebster und ich werden heute ein echtes italienisches Frühstück genießen, in einer kleinen Bar, direkt am Meer. Es ist wie ein Kiosk, besteht nur aus einem kleinen Raum mit einer Bar und vier Stehtischen und drei Tischen, an die man sich setzen kann. Der Kiosk steht zwischen Straße und Meer, unter dem Fenster liegen bereits die Boote im Wasser. Da es nicht am Hafen ist, ist hier nicht viel los. Vielleicht schon am Morgen, bevor man arbeiten geht. Man kann hier einen Kaffee trinken und ein süßes Cornetto essen. Mehr nicht. Den Rest machen die Möwen, das Meer, die Mauersegler und Menschen, die lieben und denken. Ordentliche Verben fangen nicht mit „m“ an.
16.11.25
Der Wind und der Regen pfeift und peitscht um das Haus. Wir sind ein paar Tage in Imperia, in einem Palazzo untergebracht, in dem dereinst bereits Napoleon weilte, bevor er Italien einnahm oder halb Italien? Es ist ein großes, sehr mächtiges Haus und unter unserem Apartment muss es Wohnungen mit wunderschönen Deckenfresken geben. Die haben wir leider nicht persönlich gesehen. Bereits der Treppenaufgang ist der Aufgang einer Kirche. Ich hoffe, Napoleon schlief so gut wie ich in diesem beheizten Apartment. Meine Figuren gehen spazieren, während draußen das Gewitter tobt. Vielleicht ist es einfach die Zeit, die vorbei weht? Lass sie wehen.
14.11.25
Das Haus wird gestaubsaugt, geputzt, gewienert und gestaubt. Die Wäsche wird gewaschen und aufgehängt. Die Koffer gepackt, die Dinge geordnet. Die Fenster werden geputzt und die Kommoden mit frischer Wäsche gefüttert. Das Holz ordentlich gestapelt und die Ikeamöbel, die wir gekauft haben, werden auseinandergebaut. Wasserkocher und Ofen werden verstaut. Jetzt ist es wieder ein ganz feines Haus, dass nicht allzu sehr nach uns aussieht. Schade. Wir werden ein paar Tage an die Küste fahren, um dem Meer einen schönen Winter zu wünschen. Mein Heimweh ist im Koffer.
